»Du bist nicht tot, Spitzbube!« – Verwundung und sanitätsdienstliche Versorgung bei Waterloo 1815
von Oberst Sven Lange
Als am 18. Juni 1815 die Abenddämmerung das blutgetränkte Schlachtfeld von Waterloo in gnädige Dunkelheit hüllte, lag der schwer verwundete Lieutenant-Colonel Sir Frederick Cavendish Ponsonby von den 12. Leichten Dragonern etwa in der Mitte des kaum vier Quadratkilometer großen Schlachtfeldes und bereitete sich darauf vor zu sterben. Am frühen Nachmittag hatte die britische schwere Kavallerie einen Gegenangriff geritten. Die berühmte Attacke der sogenannten Union Brigade unter Führung seines älteren Cousins, General Sir William Ponsonby, hatte die vorrückenden Franzosen bis zu den Stellungen ihrer eigenen Kanonen zurückgeworfen. Dann jedoch waren die britischen Reiter und ihre erschöpften Pferde selbst durch französische Kavallerie in der Flanke gefasst worden. Von der britischen Kavallerie blieb fast die Hälfte tot auf dem Schlachtfeld zurück, unter ihnen auch Sir William.
Die 12. Leichten Dragoner hatten den Rückzug der beklagenswert wenigen Überlebenden der Union Brigade durch eine eigene Attacke unterstützt. Dabei war Lieutenant-Colonel Ponsonby zunächst an beiden Armen schwer verwundet worden. Die französische Artillerie hatte auf kürzeste Entfernung Sperrfeuer mit Kartätschen geschossen, also Ladungen kleiner Kugeln aus Gusseisen oder Blei, die wie überdimensionierte Schrotschüsse wirkten. Im Handgemenge mit der feindlichen Kavallerie erhielt er schließlich noch einen Säbelhieb gegen den Kopf, der ihn nahe der französischen Linien besinnungslos vom Pferd stürzen ließ. Als Ponsonby nach einigen Minuten wieder zu sich kam und sich erhob, um in Sicherheit zu taumeln, entdeckte ihn ein französischer Ulan, der dem Verwundeten seine Lanze mit den Worten in den Rücken stieß: "Tu n'est pas mort, coquin!" ("Du bist nicht tot, Spitzbube!").
Mit punktierter Lunge blieb Ponsonby liegen und wurde in rascher Folge von zwei französischen Tirailleuren geplündert, die vor und neben der Schützenlinie eigenständig operierten. Zu Ponsonbys Unglück gingen sie bei ihrer Durchsuchung rücksichtlos vor und ließen ihn in einer sehr schmerzhaften Körperhaltung zurück. Ein französischer Offizier, der frische Truppen nach vorne führte, wechselte am Nachmittag mit ihm ein paar Worte. Obwohl der Franzose Mitgefühl für die schweren Verwundungen ausdrückte, lehnte er es jedoch ab, Ponsonby vom Schlachtfeld bringen zu lassen. Seine Befehle untersagten ihm Verwundete zu bergen, solange die Schlacht andauerte. Immerhin bot der Franzose dem durstigen Engländer etwas Weinbrand an und sorgte dafür, dass einer seiner Soldaten den Verwundeten in eine angenehmere Lage brachte und sein Kopf auf einen Tornister gebettet wurde, bevor die Franzosen ihren Angriff fortsetzten.
In den Folgestunden tauchte ein weiterer Tirailleur auf, der einige Male bei ihm niederkniete, über ihn hinweg nachlud und sich dabei fröhlich mit ihm unterhielt. Bevor er endgültig verschwand, sagte der französische Soldat "Sie werden sich freuen zu hören, dass wir uns zurückziehen. Guten Tag, mein Freund".
Bis zum Abend wurden einige der Verwundeten und Leichen, die rings um Ponsonby auf der Erde lagen, erneut von Kugeln getroffen, er jedoch zu seinem eigenen Erstaunen nicht. Als der Abend dämmerte, ritten zwei Schwadronen preußischer Kavallerie im schnellen Trab an ihm vorbei und über ihn hinweg. Der Hufschlag wirbelte ihn schmerzhaft umher. Dennoch war er froh über ihren Anblick. Die rechtzeitige Ankunft der Preußen hatte die Schlacht für die Alliierten entschieden.
In der Nacht konnte Ponsonby einen der Soldaten, die zwischen den Verwundeten und Toten umherstreiften und diese methodisch nach Wertsachen durchsuchten, dazu bewegen, einen Sterbenden von ihm zu ziehen, der sich in seiner Agonie auf ihn gewälzt hatte, und sich seiner anzunehmen. Bis zur Dämmerung wachte der Soldat bei Ponsonby und beschützte ihn vor anderen Plünderern. Am nächsten Morgen wurde er in einem Karren in das 17 Kilometer entfernte Waterloo gebracht, wo es gelang, sein Leben zu retten - trotz seiner sieben Verwundungen und ungeachtet des lebensbedrohenden Blutverlustes.
Die Anfänge des modernen Sanitätswesens
Mit Ponsonby lagen weitere 35.000 bis 40.000 Männer unterschiedlicher Nationalität bei Einbruch der Nacht tot oder verwundet in den niedergetrampelten Getreidefeldern und Gräben des Schlachtfeldes oder in Scheunen und Gehöften in dessen unmittelbarer Umgebung. Das Schlachtfeld war erfüllt von verzweifelten Rufen nach Hilfe und Wasser, Röcheln und Stöhnen sowie den markerschütternden Klagelauten der verwundeten Pferde, die ebenfalls zu tausenden auf dem Schlachtfeld lagen.
Es fällt schwer, angesichts der heutigen sanitätsdienstlichen Versorgung in modernen Streitkräften mit ihren Feldhospitälern, gepanzerten Krankenkraftwagen, beweglichen Arzttrupps und dem schnellen Verwundetentransport mit Hubschraubern, die Dimension der Aufgabe zu begreifen, mit der sich die Armeen bei Waterloo konfrontiert sahen. Es gab keine Anästhetika und keine Antibiotika. Die überragende Bedeutung von Hygiene für die Vermeidung von Wundbrand und Infektionen war noch nicht völlig verstanden. Desinfektionsmittel und -verfahren waren unbekannt.
Ein vergleichbarer Massenanfall an Verwundeten wie bei Waterloo würde auch die sanitätsdienstlichen Kapazitäten moderner Streitkräfte überlasten. In den Armeen der Napoleonischen Epoche steckte der militärische Sanitätsdienst jedoch noch in den Kinderschuhen. Zudem war er wenig angesehen. Die Ausbildung und die medizinischen Kenntnisse des sanitätsdienstlichen Personals waren allzu oft unzureichend. Ärzte wie Georg Hartog Gerson, der einer angesehenen jüdischen Arztfamilie aus Altona bei Hamburg entstammte und im April 1810 an der Hannoverschen Universität Göttingen promoviert worden war, bildeten die Ausnahme. Als Wundarzt diente er in der Königlich Deutschen Legion, die in britischen Diensten bei Waterloo kämpfte. Für gut ausgebildete, kompetente Mediziner war der Militärdienst jedoch zumeist unattraktiv. In der britischen Armee rangierte der etatmäßige Wundarzt noch unterhalb des jüngsten Fähnrichs. Die Stellen für Wundärzte blieben daher in den Regimentern oft unbesetzt, mit fatalen Folgen für die sanitätsdienstliche Versorgung. Das britische 28. (North Gloucestershire) Infanterieregiment – 557 Offiziere und Soldaten – beklagte bei Waterloo sowie dem Gefecht bei Quatre Bras zwei Tage zuvor, insgesamt 253 Verluste, verfügte aber über lediglich einen unqualifizierten Sanitäter. Insgesamt gab es in der etwa 67.000 Mann starken Armee Wellingtons bei Waterloo nur etwa 200 Regimentswundärzte.
Typische Verwundungen bei Waterloo
Das erstaunliche Schicksal Sir Frederick Cavendish Ponsonbys von den 12. Leichten Dragonern ist durchaus typisch für das Schicksal der Verwundeten von Waterloo. Vor allem die Art seiner Wunden ist exemplarisch für die Epoche und für die Schlacht, in der er sie empfing. Im Wesentlichen gab es drei hauptsächliche Verwundungstypen:
- Schussverletzungen, die durch Musketen oder Pistolenkugeln hervorgerufen wurden;
- Schnitt- und Stichwunden durch Degen, Bajonette oder Lanzen;
- großflächige Fleischwunden und abgerissene Extremitäten durch direkte Kanonentreffer mit eisernen Vollkugeln.
Das lange Warten auf Hilfe
Nicht ungewöhnlich war auch Ponsonbys Mehrfachverwundung. Der Abtransport von Verwundeten war in den beteiligten Armeen entweder gar nicht oder nur unzureichend organisiert. Um Desertion zu verhindern und kampffähigen Soldaten keinen Vorwand zu geben das Schlachtfeld zu verlassen, war es den Soldaten generell untersagt, ihre Schützenlinie oder ihr Karree zu verlassen, um verwundete Kameraden hinter die eigenen Linien zu bringen. In der Schlacht hatten lediglich die Regimentsmusiker (allerdings nicht die Trommler) die Aufgabe, Verwundete zu bergen. Krankentragen standen dafür jedoch nicht zur Verfügung, sondern mussten improvisiert werden. Wer sich nicht durch eigene Kraft aus der unmittelbaren Gefahrenzone bringen konnte, musste deshalb oft Stunden auf das Ende der Schlacht warten, bevor ihm geholfen wurde. Ein Verwundeter, der in der Kampfzone verblieb, lief aber Gefahr, ein weiteres Mal getroffen zu werden. Viele Soldaten wurden deshalb bei Waterloo mehrfach verwundet. Nicht selten gab es auch gezielte Angriffe auf Verwundete, so bei der Flucht der französischen Armee am Abend oder bei der beschriebenen französischen Gegenattacke am frühen Nachmittag gegen die Union Brigade. Ein britischer Kavallerist überlebte 18 Wunden, die er dabei empfing.
Die lange Verweildauer Ponsonbys auf dem Schlachtfeld war ebenfalls typisch. Verantwortlich dafür war neben dem allgemeinen Befehl, sich nicht um die Verwundeten zu kümmern solange die Schlacht anhielt, die allgemeine Überforderung der Kommandostrukturen angesichts des Massenanfalls von Verwundeten. Viele Verwundete wurden zudem erst spät entdeckt. Nicht überall hatten die zehntausende Soldaten und Pferde das hochstehende Getreide platt gedrückt. Vor allem die in aufgelöster Ordnung kämpfenden Plänkler liefen Gefahr, nach einer Verwundung den Kontakt mit der eigenen Truppe zu verlieren. Einige Verwundete wurden erst vier Tage nach der Schlacht geborgen.
Auch nach Ende der eigentlichen Kampfhandlungen war die unmittelbare Gefahr für Leib und Leben der Verwundeten nicht vorbei, wie das Beispiel Ponsonbys ebenfalls zeigt. Viele Verwundete starben in der Nacht an Schock oder Blutverlust. Mindestens ebenso viele wurden Opfer der Plünderer und Leichenfledderer, für die ein Verwundeter, zumal wenn er sich wehrte, ein Ärgernis war. Seine Plünderung kostete mehr Zeit als die eines Toten. Viele Plünderer halfen daher mit der Klinge dem Tode nach.
Ponsonbys hilflose Agonie an der Grenze zum Tode bis zum nächsten Morgengrauen war ebenfalls keine Ausnahme. Weder die britisch-niederländisch-deutsche Armee Wellingtons noch die preußische Armee Blüchers ging in der Nacht zu irgendeiner Form der geordneten Verwundetenversorgung über. Die geschlagenen Franzosen hatten das Schlachtfeld fluchtartig verlassen und dabei ihre Toten und Verwundeten zurückgelassen, die nun der Gnade und Fürsorge der Sieger ausgeliefert waren. Während die preußische Kavallerie den Feind verfolgte, gingen die Armee Wellingtons und Teile der preußischen Infanterie noch auf dem Schlachtfeld völlig erschöpft zur Ruhe über.
Der Morgen nach der Schlacht
Die Lähmung und die Tatenlosigkeit der Überlebenden erscheinen heute unverständlich, ja herzlos. Die Antriebslosigkeit der Armeeführung und der meisten Vorgesetzten erklärt sich teilweise dadurch, dass auch die Nerven der kommandierenden Offiziere unter den traumatisierenden Eindrücken der Schlacht gelitten hatten und sie durch Schock in ihrer Fähigkeit zur rationalen und ordnenden Entschlussfassung beeinträchtigt waren. Hinzu kam, dass der Ausgang der Schlacht, vor allem der plötzliche und totale Zusammenbruch der französischen Armee, über dessen eigentliche Ursache noch heute die Historiker streiten, Truppe und Offiziere mit einer ungewohnten Situation konfrontierte, für die es keine standardisierten Verhaltensregeln gab. Schlachten jener Epoche endeten üblicherweise nicht so plötzlich und nicht mit einem so vollkommenen Zusammenbruch einer Seite. Gewöhnlich brach eine Armee die Schlacht rechtzeitig ab, bevor sich die anbahnende Niederlage zur Katastrophe und damit zur Auflösung der eigenen Streitmacht auswachsen konnte. Bei Waterloo fielen die Schlachtentscheidung und die einsetzende Abenddämmerung zusammen. Damit verblieb keine Zeit, den flüchtenden Feind zu verfolgen, wie es die taktischen Lehrbücher vorschrieben. Unter normalen Verhältnissen hätten beide Armeen das Schlachtfeld noch am selben Tage verlassen und sich darauf vorbereitet, den Kampf am nächsten Morgen fortzusetzen. Die Soldaten waren es gewohnt, ihre Verwundeten und Toten einfach zurückzulassen.
Waterloo war jedoch eine Ausnahme. Die einbrechende Dunkelheit und die Unordnung, die durch den allgemeinen Vormarsch gegen Ende der Schlacht entstanden war, besonders aber die völlige Erschöpfung der Truppe sorgten dafür, dass die meisten Regimenter die Nacht mehr oder weniger genau dort verbrachten, wo sie zuletzt gekämpft hatten. Die abgekämpften und übermüdeten Soldaten rückten an improvisierten Biwakfeuern eng aneinander, um sich gegenseitig Schutz zu geben vor den rationalen Gefahren durch Plünderer und den irrationalen Schrecken des in gespenstisches Mondlicht gehüllten Schlachtfeldes. Umgeben von Toten drängten sich die apathischen Lebenden zusammen, warteten auf den Anbruch des nächsten Tages und auf weitere Befehle.
Am nächsten Morgen hatten die Armeestäbe ihren Schock überwunden und der Krieg ging weiter. Wellingtons Armee verließ gegen Nachmittag das Schlachtfeld und marschierte nach Süden gen Paris. Die Mehrheit der Wundärzte und ihre Helfer begleiteten die abrückenden Regimenter – es wurde mit erneuten Kampfhandlungen gerechnet. Zurück blieb eine kümmerliche, durch gefangengenommene französische Wundärzte unzureichend verstärkte Nachhut, die mit der gewaltigen Aufgabe, die Verwundeten zu versorgen und die Toten in hastig ausgehobenen, flachen Massengräbern beizusetzen, völlig überfordert war.
Rettung: Versorgung durch belgische Anwohner
>Dass dennoch so viele ihre Verwundungen und Amputationen überlebten, lag an der aufopfernden Pflege der belgischen Bevölkerung und dem Engagement der zivilen Ärzte in der unmittelbaren Umgebung. In einem Radius von knapp zwei Kilometern rund um das Schlachtfeld wurde jedes Haus, jeder Bauernhof, jede Kirche, jede Scheune und jeder Schuppen in ein Notlazarett verwandelt (in der Stefanskirche der nahegelegenen Ortschaft Braine l’Alleud erinnert noch heute eine Tafel daran). Nonnen halfen als Krankenschwestern und Bauern versorgten die Verwundeten großherzig mit Wasser, Nahrung sowie improvisiertem Verbandsmaterial.
Wie Ponsonby wurden die meisten transportfähigen Verwundeten mit Wagen und Fuhrwerken, ja sogar mit Schubkarren nach Brüssel gebracht, wo allein fünf Krankenhäuser für die Verwundeten der Alliierten eingerichtet wurden. Der Bürgermeister der Stadt ordnete an, dass alle Bürger der Stadt saubere Kleidung und Bettlaken zur Verfügung stellen mussten. Wer ein Krankenhaus lebend erreichte, hatte gute Chancen zu überleben. Die Todesrate lag bei niedrigen neun Prozent und damit nur unwesentlich höher als die, die 100 Jahre später in den Lazaretten des Ersten Weltkriegs herrschte.
Literatur
Letzte Änderung der Seite: 06. 03. 2021 - 00:03