Die Beerdigung des Mainzer Jakobiners Felix Anton Blau
von Hellmut G. Haasis
I.
Der Tod Blaus
Die Vertriebenen Mainzer Demokraten sind gerade erst vor einem Jahr – Ende 1797/Anfang 1798 – in ihre Heimat zurückgekehrt, gezeichnet von Haft und Emigration. Ihre Hoffnungen hatten im Herbst 1792 eine frühe Blüte erlebt. Eine erste größere Republik auf deutschem Boden schien verwirklicht werden zu können. Der Kurfürst verjagt, der Adel beseitigt, die Volkssouveränität geachtet, bürgerliche Republikaner in den Ämtern. Doch im Kanonendonner der preußischen Armee war die Mainzer Republik dann im Frühjahr und Sommer 1793 untergegangen. Die Utopie musste sich auf eine ungewisse Zukunft vertagen lassen.
Nach bitteren viereinhalb Jahren scheint jetzt die Erfüllung aller Sehnsüchte gekommen zu sein. Die Aristokraten können nicht zurückkehren, das Militär der Feudalstaaten ist geschlagen, den Verfolgten stehen die Machtpositionen offen. Da zerbricht mit einenmal die vage Zufriedenheit. Am 2. Nivôse des siebten Jahres (VII) der französischen Republik – nach dem alten Kalender der 22. Dezember 1798 – schreibt Franz Wilhelm Jung (1757-1833), einst im revolutionären Homburger Freundeskreis um Sinclair und Hölderlin, nun in Mainz französischer Polizeikommissar, seinem Freund Johann Gottfried Ebel (1764-1830) nach Paris. Zwei Tage später muss er dem Brief eine Trauerbotschaft anfügen: »Die Menschheit hat gestern am 3. Ni[vôse VII] einen großen Verlust erlitten. Blau ist ¾ vor 7 Uhr morgens gestorben.« [1]
Jungs Nachtrag bedeutet mehr als eine Floskel, alles andere als eine Pflichtübung der Pietät. Blaus Tod ist von den Freunden schon lange geahnt worden. Nun zeigt sich mit einem Schlag, dass dieser Verlust nur zu gut in die keineswegs mehr optimistische Stimmung der Mainzer Republikaner sich einfügt. Blaus Trauerfeier markiert für die Mainzer Jakobinerbewegung einen Einschnitt. Die Zerschlagung des Rheinisch-deutschen Freistaates im Juli 1793 ist noch in Enttäuschung und Wut erlebt, mit dem Zusammentreffen aller Kräfte für die Haft oder die Emigration verarbeitet worden. Doch die Gedenkfeier für Blau trägt nur noch Trauerflor, spricht in leisen Tönen gedämpft, wie die einst stürmische »Marseillaise« am ausgehobenen Grab Blaus nur gedämpft erklingt. Es herrschten Erschöpfung und bestürzte Trauer.
Blaus Beerdigung führt uns auf eine persönlich berührende Art in die fremd gewordenen, vergessenen Anfänge der modernen Demokratie auf deutschem Boden ein. Zugleich lässt uns Blaus Biographie exemplarisch die Wege der kritischen Intelligenz erkennen, die den Anschluss an die junge französische Revolutionsbewegung riskierte. Blaus Unterdrückung und Leiden bis zur Verleumdung des Toten aus Mainzer klerikaler Sicht offenbaren uns, unter welchen Opfern die neue Mentalität des demokratisch-revolutionären Zeitalters zur Welt kam und wie wenig die damals geteilten Probleme bereits erledigt sind.
Der eingangs zitierte Jung hat sich einen Rest kosmopolitischer Hoffnung bewahrt, aber die Wirklichkeit schiebt diese Sehnsucht, die am liebsten die ganze Menschheit umarmen will, weit vor sich her. Die alten Kräfte feudalistischer Verhältnisse erheben noch ihr Haupt, nicht nur in und um Mainz, auch in Frankreich. In Paris herrschen Arroganz, Korruption, Opportunismus. Davor haben die Mainzer Flüchtlinge ihre Augen nicht verschließen können. Und auf dem rechtsrheinischen deutschen Territorium wollen die Pläne für eine Revolution, wenigstens für eine süddeutsche Republik, nicht gelingen.
Die Emigration hat die Mainzer Führungsgruppe vereinzelt, die Rückkehr keinen enthusiastischen Neubeginn zugelassen. Gerade in Mainz entsteht kein neuer Klub – kein »Konstituneller Zirkel« – wie etwa in Speyer, Alzey oder Zweibrücken[2]. Die Mainzer Demokraten leben still für sich, zurückgezogen in kleine Kreise. An den Wunden, die die Verfolgungszeit geschlagen hat, leiden am stärksten die Frauen.
Die Zentralverwaltung des Departements spürt den deprimierenden Einschnitt, den Blaus Tod mit sich bringt. Noch am selben Tag beschließt sie, dem düsteren Ereignis mit einem Staatsbegräbnis entgegenzuwirken. In einem zweisprachigen Plakat stellt sie in allen Munizipalitäten (Gemeinden) des Departements den Gestorbenen als Vorbild heraus, auch für spätere Generationen.
Die Zentralverwaltung, nach Ansicht eines Briefs des Bürgers Köhler, Regenten des Seminariums zu Mainz, wo er ihr das heute den 3. Nivôse, morgens um sechs Uhr und drei Viertel erfolgte Absterben des Bürgers Blau,
in Erwägung, dass es den republikanischen Grundsätzen angemessen ist, das Andenken derer zu ehren, welche durch ihre moralischen und Bürgertugenden, durch die Sanftmut ihres Charakters, durch ihre angenehme Sitten, ihre standhaften Bemühungen, ihrem Vaterlande zu dienen und ihre Mitbürger zu unterrichten und besser zu machen, und welche endlich durch die Hingebung, mit der sie zum Siege der Freiheit alle Arten von Verfolgungen erduldeten, ihren Zeitgenossen und künftigen Generationen zum Muster gedient haben und immer dienen werden;
in Erwägung, dass der Bürger Blau beschließt: nach Anhörung des Kommissärs des Vollziehungsdirektoriums:
Art. 1. Der Name des heute, den dritten Nivôse siebenten Jahrs, verstorbenen Bürgers Felix Blau, Bibliothekars an der Universität zu Mainz, soll bei dem nächstkommenden Feste der Erkenntlichkeit als eines Bürgers proklamiert werden, der es wert ist, den republikanischen Lehrern, den Philosophen, Freunden der Menschheit, den Feinden des Aberglaubens und der Tyrannei und allen wahren Freunden des Vaterlandes zum Muster zu dienen.
Art. 2. Gegenwärtiger Beschluß soll in beiden Sprachen gedruckt und an die Munizipalverwaltungen dieses Departements zu ihrer Nachachtung, sowie auch an den Minister der Justizpflege und an die Universität von Mainz geschickt werden.
Die Verwalter des Departements v. Donnersberg.
Unterschrieben: Malingre, Präsident; Moßdorf, Bertrand, Petersen, Verwalter;
Cosson, Kommissär des Vollziehungsdirektoriums; und Mathis, Generalsekretär.[3]
Nur zwei Mitglieder der Zentralverwaltung gehörten zu der Gruppe der deutschen Jakobiner: Carl Ludwig Adolf Petersen (1746- 1827), einst Maire (Bürgermeister) von Speyer, und August Ludwig Moßdorf (1758- 1843), früher Mitglied des Mainzer Nationalkonvents und der zweiten Revolutionsregierung. Die Mehrheit stellten die Franzosen. Im nächsten Jahr gelang es Andreas Joseph Hofmann, dem Präsidenten des Mainzer Konvents von 1793, durch eine Anzeige Cosson zu stürzen.
Dem Charakter des Zeitalters entsprechend sieht die Zentralverwaltung Blaus Haltung in Verfolgung und Krankheit unter dem Signum des Heroischen: eine »heroische Resignation« Bereits seit 1791, als erstmals eine Invasion preußischer und österreichischer Truppen, voran französischen Emigranten, drohte, durchzog Todesmystik den revolutionären Enthusiasmus Frankreichs. „Freiheit oder Tod“ war der Schlachtruf schon lange vor jeder Schlacht. Diese kollektive Todessehnsucht erwies sich bei den radikalisierten Revolutionstruppen, unter der äußersten Anspannung zur Zeit der Terreur - der Schreckensherrschaft von 1793/94 -, als eine unwiderstehliche Motivation.
In Kontinuität mit dieser Grundstimmung suchten die Republikaner, wenn es sie treffen sollte, ihre Todesstunde zu gestalten. Wie der einstige Konrektor von Grünstadt, der erst 28jährige Jakobiner Karl Christian Heubach (1769-97), starb, hielt sein Freund Kar1 Philipp Kayser (1773- 1827) fest:
19. Oktober [1797] erzählte mir Dr. Köler in Wörstadt, Heubach sei den Sonntag zuvor in Kreuznach gestorben. Die Nachricht war eine der schmerzlichsten, die ich hören konnte. Ich verbat mir jede umständlichere Erzählung von seiner Krankheit. Der Arzt in Kreuznach wollte sich seiner als eines Demokraten nicht annehmen. Nur das eine sagte er mir noch. Er habe ihm erlaubt gehabt, etwas Wein zu trinken. Als er [Heubach] nun erfahren hatte, dass die Revolution am 18. Fructidor[4] zum Vorteil der Republikaner ausgefallen sei, habe er mit Köler angestoßen: Es lebe die Freiheit! und sei eine Viertelstunde darauf gestorben.[5]
Eine alte Chronik von Guntersblum überlieferte, wie einer der örtlichen Republikaner um diese Zeit sein Leben beschloss: der Schlosser Capito. »Als dieser im Sterben lag, musste man ihm die dreifarbige Kokarde auf den Mund legen, damit er sie noch küßte.«[6]
Felix Anton Blau starb, wie seit Jahrhunderten in den Städten üblich, einen privaten Tod, ohne die Versammlung seiner Freunde und Verwandten im Sterbezimmer. Nur sein Schüler und Freund Philipp Jakob Heimberger hielt bei ihm aus. Noch im Verlöschen seines Lebens verbat sich Blau die Sterbesakramente. Der schon seit Jahren aus dem Priesterstand ausgetretene Aufklärer und revolutionäre Demokrat hatte nichts mehr mit der Kirche gemeinsam. Darin bezeugte er seine Variante des Heroischen.
Von seinen Freunden erhielt Blau, der trotz seines Charmes und seine Beliebtheit bei Frauen nicht geheiratet hatte, eine beeindruckende Todesfeier. Erstmals in der kurzen Geschichte der deutschen Jakobiner die wurde eines bürgerlichen Politikers in einem Staatsakt gedacht. Der Festkult der Revolutionsbewegung umschloß auch den Tod. Von Blaus Wohnung im Gebäude Lit. FNr. 242 (am Fuße des Stefansberges in Mainz, heute steht an dieser Stelle das um 1900 neugebaute Haus Willigisstraße 8) bewegte sich der Trauerzug in den Innenhof der neuen Zentralschule (einst Seminar, dann Universität). Hier hatte Blau ein Dutzend Jahre lang eine stattliche Anzahl aufgeklärter katholischer 'Theologen ausgebildet.
Eine Broschüre schildert Blaus Beerdigung. Damit schufen ihm seine Freunde ein Denkmal, das bis heute allen Kahlschlägen der Stadtplaner standhalten konnte.
Felix Blau geboren in Walldürn im Jahre 38 vor Gründung der Republik (1754 alten Stils), ehemals Professor auf der Universität zu Mainz bis zum ersten Jahre, Mitglied der Landesverwaltung und des rheinisch-deutschen Nationalkonvents; Schlachtopfer des deutschen Terrorism`s in der Festung Königstein vom 2. bis zum 4. Jahre, Verfasser des Pariser Zuschauers und Sekretär des Justizministers vom 5. bis zum 6. Jahre, Richter des peinlichen Gerichts des Departements von Donnersberg und zuletzt Bibliothekar der Mainzer Universität, starb am 3. Nivôse des 7. Jahrs, morgens um 7 Uhr, in den Armen seines Schülers und Freundes Heimberger.
Sowenig seine Freunde Hoffnung gehabt hatten, ihn länger unter sich zu sehen, schlug dennoch die Nachricht seines Verlustes ihren Herzen eine tiefe Wunde. Selbst Leute, welche ihn nicht gekannt hatten, bedauerten den frühzeitigen Tod eines Mannes, der durch seinen moralischen, sanften Charakter selbst die Verleumdung entwaffnet hatte, die, als er in Ketten lag, so schamlos an seinem Rufe nagte. Vergebens klagte der Fanatiker, weil er [Blau], treu seinen Grundsätzen, nicht als Heuchler starb, sondern im Hochgefühl seiner Reinheit nur mit dem Höchsten Wesen nicht aber mit unreinen Pharisäern über seine Handlungen rechnen wollte. Solche Klagen konnten nur dazu dienen, die Wahrheit dieser Grundsätze und die Blindheit ihrer Gegner zu beweisen.
Seine Freunde entschlossen sich, ihm ein Leichenbegräbnis zu feiern, das seinem einfachen, bescheidenen Lebenswandel entspräche und wobei die Trauer seiner würdigen Mitbürger mehr als schnöder Prunk die beredeste Verkündigung seiner Verdienste wäre. Man bestimmte den Hof des Universitätshauses (ehemaligen Seminariums) zum Orte seiner Beerdigung, weil er ehemals in diesem Hause gelehrt hatte und weil dieser Ort zur Errichtung des ihm bestimmten Denkmals der schicklichste schien. Der Anblick dieses Denkmals ermunterte die vorübergehenden Zöglinge der Universität zur Erwerbung echter Verdienste um die Menschheit und überzeugte ihre Feinde, dass der Lehrer der Wahrheit auch im Tode nicht aufhöre, ihr warme Verteidiger und treue Verkünder zu bilden.
Ein Polizeikommissär in Amtstracht eröffnete den Zug. Nach ihm folgten die Akademiker der hiesigen hohen Schule. Vor den Professoren der Universität wurde die Inschrift getragen, die so sehr auf den Verstorbenen angewendet werden kann: Vitam impendere vero[7]. Vor dem Sarge, der auf einem Trauerwagen erhöht stand und mit einem dreifarbigen, mit Flor umbrämten Leichentuche bedeckt war, las man die Inschrift: Durch Großmut besiegte er seine Feinde. Zur Seite des Wagens gingen acht junge, in Trauer gekleidete Bürgerinnen mit Zypressenzweigen. Auf dem Sarge lag in einem Eichenkranze Blaus Kritische Geschichte der Unfehlbarkeit der Kirche. Nach dem Sarge folgte die Inschrift: Mit allen Tugenden des Sokrates strebte er nicht nach seinem Ruhm. Nach dieser kamen seine Freunde Arm in Arm ohne gesuchte Ordnung. Die Kälte hatte die Trauermusik verhindert, den Zug zu begleiten. Als er im Hörsaale des neuen Universitätshauses angekommen war, wurde der Sarg auf eine Erhöhung gestellt und aufgedeckt. Der edle Tote lag in seiner gewöhnlichen Kleidung mit einem Eichenkranze ganz unentstellt darin. Seine rechte Hand lag auf seinem menschenfreundlichen Herzen.[8]
[1] Zürich Zentralbibliothek, Ms Z II 510, Brief Nr. 3
[2] vgl. »Die konstitunellen Zirkel des Jahres VI (1797/1798)«
[3] Plakat in Neustadt [Weinstrage], Stadtarchiv, Nr. 286; etwas fehlerhaft abgedruckt bei Görres, S. 372, ein Nachdruck aus der Zeitschrift »Der Rübezahl«.
[4] Staatsstreich in Paris durch Augereau mit der Vertreibung der Royalisten aus den Verfassungsorganen, Ansatz eines neojakobinischen Kurses
[5] Kayser, S. 28.
[6] Hassis, Morgenröte, 140.
[7] Das Leben der Wahrheit opfern!
[8] Beerdigung, S. 3-6