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Leben mit dem Krieg. Süddeutschland im Krieg mit und gegen Napoleon.

von Prof. Dr. Ute Planert

1. Differenzierung

Was Krieg für die Bevölkerung konkret bedeutete, hing entscheidend davon ab, ob man an einer Heeresstraße oder nahe einer Festung,  in einer Garnisonsstadt, entlang des Rheins oder in unwegsamen Gebirgsgegenden lebte. Differenziert werden muß aber auch in zeitlicher Hinsicht: Kriegsintensive Phasen und Perioden relativer Normalität wechselten einander ab, und das gutausgerüstete und wohlversorgte französische Heer der ersten Kriegsmonate war nicht zu vergleichen mit jenen Armeen, die wenig später ihren gesamten Bedarf im Feindesland requirierten. Bei aller zeitlichen und räumlichen Differenzierung darf freilich nicht vergessen werden, daß der starke Anstieg der Steuerlasten und Kriegskontributionen, ökonomische Umwälzungen, Hunger und Teuerung, wiederholte Aushebungen und immer strengere Rekrutierungsbestimmungen Alltag und Lebenswelt noch in Gebieten prägten, die selbst nicht von Kriegshandlungen, Truppendurchzug und Einquartierungen betroffen waren.

Einer der wesentlichen Unterschiede lag darin, ob man sich vom Militärdienst freikaufen konnte oder wie zahlreiche bürgerliche Berufsgruppen von vornherein von der Wehrpflicht ausgenommen war. Auch die Generation spielte eine große Rolle, waren es doch in erster Linie die ledigen jungen Männer, die man zu den Fahnen rief. Die Chancen, den Krieg zu überleben, waren ebenso wie die Nahrungsmittelzuteilung, die Beschaffenheit des Quartieres und Ausstattung mit Kleidung und Gewehren zwischen Offizieren und Mannschaften so unterschiedlich verteilt, daß die Lektüre von Autobiographien gelegentlich den Eindruck erweckt, es könne unmöglich vom gleichen Krieg die Rede sein. Die Wahrnehmung des Krieges war je nach militärischer Charge und somit nach Sozialschicht so unterschiedlich, daß selbst bei Mitgliedern der gleichen Kampfverbände kaum von einem gemeinsamen Kriegserlebnis gesprochen werden kann. Ich möchte das am Beispiel der Nahrungsmittelversorgung verdeutlichen. Während Nahrung in der Autobiographie eines württembergischen Generals als abstraktes, bloß organisatorisches Problem erscheint, nimmt der Hunger in den Memoiren eines württembergischen Leutnants immerhin gelegentlich Gestalt an, um  gegenüber freundlicheren Andenken -  an eine Liebensaffaire oder an ein Konzert am Flügel eines besetzten Schlosses - zurückzutreten. Für diese Erinnerungen scheint die adelige Cavalierstour Pate gestanden zu haben, und es zeigt sich, daß bei adeligen und bürgerlichen  Autographen die Logik des Genres nicht selten über die Darstellung des Unmittelbaren triumphiert . Über die ungeheuren Strapazen des Marsches und der Kälte, über Hunger, Verwundung, Leiden und Tod geben vorwiegend die Erzählungen gemeiner Soldaten Auskunft. In der ungeschminkten Darstellung des Elends vergleichbar, differeriert die Verarbeitung des Erlebten allerdings beträchtlich. Die zeitliche Distanz zu den Geschehnissen spielt dabei eine wichtige Rolle, aber auch die individuell unterschiedlich ausgeprägte Fähigkeit, sich von den Schrecken des Krieges gleichsam nur äußerlich berühren zu lassen.Stärker noch als in ex post verfaßten Berichten tritt die physische und psychische Not der Soldaten in den wenigen erhaltenen Kriegsbriefen zutage, die von der Postzensur und der regelrechten Bereinigung der Archive von anderen als obrigkeitsstaatlichen Quellen im 19. Jahrhundert verschont geblieben sind. Von Heldentum und Kampfesmut, wie sie sich in die dominante Erinnerung durch die euphorischen Berichte einiger weniger kriegsfreiwilliger Studenten oder durch am sicheren heimischen Schreibtisch abgefaßte Lyrik eingeprägt haben, ist hier nichts zu spüren. Todesangst, Heimweh und die Hoffnung auf ein rettendes göttliches Wunder bestimmen den letzten Brief, den zwei badische Soldaten aus Danzig im Juni 1812 an ihre Eltern und Geschwister nach Waldshut schrieben und um Geld baten, um ihren Hunger zu stillen. Die Bitte um Geld für Lebensmittel nahm in dem Brief der beiden jungen Männer ebenso viel Raum ein wie der Wunsch, sich in die Gebete der Verwandten eingeschlossen zu sehen. »Mir wünschden nur noch Ein mal vor unserm Dott, noch nach Haus zu komen, aber wegem grossen und geferlichen krig ist es ohne grosses Glück schier unmöglich, o Gott wolle uns füren und Leiden«.  Diese innige Religiosität findet sich fast nur noch in den Selbstzeugnissen der unteren Sozialschichten. In den »höheren Stände« ist weitaus weniger von Religion die Rede; hier war aber auch die Not vielfach deutlich geringer.

Auch in der Heimat unterschied sich die persönliche Situation je nach sozialem Stand beträchtlich. Wer über gute Beziehungen zu den Behörden verfügte, konnte eine Art Freistellungsmandat erwirken und war Requistitionen und Plünderungen weit weniger ausgesetzt als die Mehrzahl derjenigen, die durch requirierende und marodierende Truppen Hab und Gut verloren. Je länger der Kriegszustand anhielt, desto drückender empfand man die Lasten der Requirierungen durch kaiserlich-österreichische und französische Soldaten, zumal die versprochene Entschädigung oftmals ausblieb.

Wer in der Nähe von Truppenkorridoren lebte, war auf vielfältige Weise besonders belastet. Etliche Gemeinden waren nicht mehr willens oder in der Lage, noch die veranschlagte Mengen an Pferden oder Naturalien aufzubringen. Orte, die wie die ehemalige Reichsstadt Villingen ständig mit kaiserlichen oder französischen Soldaten belegt waren, waren durch Seuchen stärker als andere gefährdet. 1794 fiel dort fast der gesamte Rinderbestand der Hornviehseuche zum Opfer und vernichtete damit die ökonomische Grundlage zahlreicher Einwohner. Auch wer in der Nähe von ehemaligen Klöstern oder beschlagnahmten Adelssitzen wohnte, wo die Militärlazarette einquartiert wurden, war besonders von Seuchen bedroht. 1813, als einer von kranken Soldaten eingeschleppten Thypusepidemie in Württemberg Ärzte und Pfleger erlagen, fand sich trotz ausgesetzter Belohnungen niemand, um die Kranken zu versorgen. Einwohner aus den umliegenden Ortschaften wurden unter Zwang zur Krankenpflege verpflichtet, so daß sich das Nervenfieber auch dort verbreitete und zahlreiche Opfer forderte. Eine ausgedehnte freiwillige Krankenpflege durch Vaterländische Frauenvereine, die eng mit den staatlichen Behörden kooperierten, wie man es aus Preußen und dem Rheinland kennt, gab es im Süden offenbar nicht. Lediglich in Karlsruhe und München werden solche Frauenvereine erwähnt, doch welchen Zuspruch sie gefunden haben, darüber schweigen die Quellen sich aus.

Dieser Punkt führt zu einer weiteren wichtigen Differenz, dem Geschlecht. Das Geschlecht entschied über die Kriegsteilnahme und damit vielfach über die Überlebenschance. Zwischen 1805 und 1812 zogen in Baden und Württemberg über 70.000 junge Männer in den Krieg. Von den 15.800 württembergischen Soldaten im Rußlandfeldzug kamen gerade einmal 500 zurück - krank, verwundet und vielfach für ihr Leben vom Krieg gezeichnet. Es gab Dörfer, in denen fast alle jungen Männer zwischen 20 und 30 Jahren im Krieg geblieben waren. Aber auch Konflikte in der Heimat wiesen geschlechtsspezifische Muster auf. Wo ein Streit zwischen Soldaten und Zivilisten tödlich endeten, waren fast ausschließlich Männer die Opfer. Frauen  dagegen hatten Vergewaltigung zu fürchten - ein Massenschicksal, wie der Anstieg unehelicher Geburten zeigt. Aber auch hier machte die konkrete Situation zum einen, die soziale Stellung zum anderen einen entscheidenden Unterschied. Konnten sich etwa die Mädchen und Frauen in einem Dorf bei Heidenheim erfolgreich unter das Dach der Kirche flüchten und auf den Beistand des Pfarrers zählen, führten  Bürger in Villingen an der Baar französische Soldaten zu alleinlebenden Frauen - (man darf annehmen: der Unterschicht) -  um ihre eigenen Angehörigen zu schonen. Die Schreie der Vergewaltigten, notierte eine Bäuerin in ihr Tagebuch, habe man anschließend überhört. Aus Villingen ist freilich auch das Auswanderungsgesuch einer jungen Frau erhalten, die einen elsässischen Soldaten heiraten und mit ihm nach Frankreich ziehen wollte.