Skip to main contentSkip to page footer

Die astronomischen Grundlagen des französischen Revolutionskalenders

von Prof. Dr. Peter Aufgebauer

Darstellung

Zu den großen Themen der Kultur- wie der Wissenschaftsgeschichte gehört seit jeher die Chronologie. Ihre Entwicklung führt von den Zeitrechnungssystemen der Sumerer, Babylonier und Ägypter über die Kalendereinrichtungen der Griechen und Römer zur Zeitrechnung des europäischen Mittelalters. Den bisherigen Endpunkt in dieser Entwicklung stellt in unserem Kulturbereich der Gregorianische Kalender dar, wie er 1582 eingeführt wurde und sich bis heute fast überall auf der Welt durchgesetzt hat. In einem Falle bietet die Geschichte der Chronologie das vermeintliche Kuriosum, daß der Gregorianische Kalender nach 200 Jahre währendem unangefochtenem Gebrauch aufgehoben und durch ein eigens konstruiertes Zeitrechnungssystem ersetzt wurde: Die französische Republik führte am 5. Oktober 1793 einen »nouveau calendrier« ein, der unter der populären Bezeichnung »Revolutionskalender« bekannt ist und bis zum Jahre 1806 offizielle Geltung hatte. Michael Meinzer hat vor einigen Jahren in seiner Bielefelder Dissertation[1] das System und die Geschichte des Revolutionskalenders unter dem Motto »span class=”werktitel”>Planung, Durchführung und Scheitern einer politischen Zeitrechnung«[2] im einzelnen untersucht: erklärtermaßen also mit dem Hauptaugenmerk auf den politischen Intentionen und der politischen Instrumentalisierung des Revolutionskalenders. Wichtige Aspekte der Wissenschaftsgeschichte, insbesondere der Astronomiegeschichte, hat er eher knapp referiert bzw. weitgehend in den Hintergrund treten lassen. Dies gilt insbesondere für die Beteiligung von bzw. Kritik durch die führenden Astronomen und Mathematiker Frankreichs. Auch wird bei Meinzer das zeitgenössische Echo, das der Revolutionskalender außerhalb Frankreichs fand, die Frage, inwiefern er - wie seine Schöpfer es postulierten - wegen seiner vermeintlichen Rationalität als vorbildlich für das übrige Europa gelten konnte, nur am Rande berücksichtigt. Schließlich ist die Frage zu stellen, wie der Revolutionskalender unter dem Gesichtspunkt der technischen Chronologie zu beurteilen ist: war er kalendarisch ein Fortschritt gegenüber dem - bekanntermaßen nicht von Mängeln freien - Gregorianischen Kalender?[3]

Diesen, im engeren Sinne wissenschaftsgeschichtlichen Aspekten soll im folgenden das Augenmerk gelten.[4]

Trotz der eindeutig politischen Intention, die dem im Zuge der französischen Revolution entstandenen Kalender zukam, waren seine Schöpfer, entsprechend der Geisteshaltung der Aufklärung, auch darum bemüht, die wissenschaftlichen Erkenntnisse ihrer Zeit in das System des Kalenders einzubeziehen. So läßt sich der Einfluß des in der Nachfolge Isaak Newtons namentlich in Frankreich aufgetretenen wissenschaftlichen Fortschritts in der Mathematik, Geodäsie und Astronomie auch in den Auseinandersetzungen um den Revolutionskalender und in seinem Aufbau nachweisen.

Schon vor dem Revolutionsjahr 1789 hatten verschiedene Literaten sich vom Gregorianischen Kalender abgewandt; bekannt geworden ist vor allem Pierre Silvain Marechal (1750-1803), der 1787 im »Almanach des Honnètes-Gens«[5] das antike griechische Kalendersystem von zwölf dreißigtägigen Monaten zugrunde gelegt hatte, die jeweils in Dekaden eingeteilt wurden. Die christlichen Heiligentage waren dabei zugunsten von Gedenktagen an berühmte Männer (z. B. SENECA, LEONARDO DA VINCI, ALBRECHT DÜRER, VOLTAIRE) ersetzt. War diese Konstruktion auch der Phantasie eines literarischen Außenseiters entsprungen, so wurde sie doch offensichtlich im Jahre 1793 zum Muster für den geplanten neuen Kalender genommen.

Die Entstehungsgeschichte des Revolutionskalenders sieht in Stichworten so aus[6]:

Mit dem Jahresbeginn 1792 weicht die gesetzgebende Versammlung von der Ära des Gregorianischen Kalenders ab und datiert mit dem »3. Jahr der Freiheit«, im August 1792 mit dem »4. Jahr der Freiheit und 1. Jahr der Gleichheit« und nach der Beseitigung der Monarchie im September 1792 mit »Jahren der französischen Republik«. Im Januar 1793 beginnt ein vom Konvent eingesetztes »Komitee zur öffentlichen Unterrichtung« (Erziehungsausschuß) mit der Diskussion um einen neuen Kalender. Anzahl und Rang der Mathematiker und Astronomen [7], die in bzw. mit der Kalenderkommission zusammen arbeiteten, verdeutlichen den wissenschaftlichen Anspruch des Unternehmens: Joseph Louis Lagrange (1736-1813)[8] und Alexandre Guy Pingré[9] vertraten die Pariser Akademie; Gaspard Monge (1746-1818), der Begründer der darstellenden Geometrie und ebenfalls Mitglied der Pariser Akademie und während der Revolution zeitweilig französischer Marineminister[10] gehörte dazu; eigentlicher Initiator scheint Gilbert Romme (1750-1795), Mitglied des Konvents, gewesen zu sein, der auch Sprecher in der Kalenderangelegenheit wurde.[11] Andere prominente Gelehrte wie Jean Baptiste Joseph Delambre (1749-1822)[12], Joseph Jerôme de Lalande (1732-1807)[13], Pierre Simon de Laplace (1749-1827)[14] und Antoine Laurent Lavoisier (1743-1794), der Begründer der modernen Chemie[15], beteiligten sich zeitweise an den Erörterungen.

 

Die Entstehungsgeschichte des Revolutionskalenders spiegelt den Widerstreit zweier entgegengesetzter Tendenzen: Während es den politischen Revolutionären primär um das Ziel ging, »den Sonntag abzuschaffen«[16], sahen die eigentlich - d.h. wissenschaftlich - kompetenten Männer, sofern sie überhaupt für eine Kalenderänderung eintraten, ihre Aufgabe darin, das sich in weiten Bereichen des öffentlichen Lebens durchsetzende Dezimalsystem mit den Erfordernissen der Zeitrechnung in Einklang zu bringen. Zeitgleich mit den Bemühungen um einen neuen Kalender waren eine Kommission der Pariser Akademie mit der Festlegung eines neu definierten Längenmaßes[17] und ein Komitee des Konvents mit der Festlegung eines neuen Maß- und Gewichtssystems[18] befaßt, beides auf der Basis des Dezimalsystems.

Berücksichtigt man, daß der Revolutionskalender auch in einem wesentlichen inneren Zusammenhang mit der allgemeinen Einführung des Dezimalsystems steht und in einer Zeit geschaffen wurde, in der das „Streben nach einheitlichen Vereinfachungen der menschlichen Einrichtungen zum ersten Male in umfassender Weise zum Ausdruck gelangt war“[19], dann verliert er doch einiges von seiner vermeintlichen Kuriosität.

Für eine Gesamteinschätzung des Revolutionskalenders lassen sich etwa die folgen- den drei Kriterien formulieren:

  • In welchem Maße gelang es, »den Sonntag abzuschaffen«, d.h. den christlichen Kalender vom alltäglichen Gebrauch und aus dem Bewußtsein der Bevölkerung zu verdrängen?
  • Bis zu welchem Grade ließen sich Dezimalsystem und Kalender tatsächlich vereinbaren, und inwiefern erwies sich das so geschaffene System der Zeitrechnung als rational und »fortschrittlich«?
  • Im Bewußtsein der ein halbes Jahrhundert später von François Guizot formulierten Devise »Frankreich marschiert an der Spitze der Zivilisation« sollte der Revolutionskalender als vorbildlich und beispielhaft für das übrige Europa gelten[20]. Angesichts dieses Zieles stellt sich die Frage, welche Aussichten der Kalender hatte, sich in den europäischen Ländern durchzusetzen.

 

Die maßgebende gesetzliche Grundlage des Revolutionskalenders bildet das Dekret des Konvents vom 24. November 1792, beziehungsweise vom »4. Frimaire an second de la République française une et indivisible«. Es modifiziert den Erlaß vom 5. Oktober jenes Jahres, mit dem der Kalender zunächst eingeführt worden war; sein Wortlaut findet sich in der einschlägigen Literatur verschiedentlich abgedruckt.[21] In einigen Punkten ergänzte das Komitee später noch die Durchführungsbestimmungen mit Hilfe von jeweils gefaßten Einzelbeschlüssen. Die einzelnen Begründungen für die vom Kalenderkomitee vorgeschlagenen und vom Konvent beschlossenen Änderungen der Zeitrechnung enthält ein Bericht, den Gilbert Romme im Auftrag des Komitees am 20. September 1793 der Nationalversammlung vortrug.[22]

Im folgenden soll der Revolutionskalender bezüglich der Elemente Tag, Monat, Jahresanfang, Jahrform, Schaltung erörtert und kritisch bewertet werden.

 


[1] Michael Meinzer: Der französische Revolutionskalender (1792-1805) (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution 20), 1992.

[2] So der Untertitel seiner Arbeit.

[3] Wie stark Meinzer derartige und überhaupt astronomie- und chronologiegeschichtliche Aspekte ausblendet, wird auch daran ersichtlich, daß er selbst die Standardwerke von Ginzel, Wolf und Zimmer (s. Literaturverzeichnis) nicht berücksichtigt.

[4] Dabei greift Verfasser auf Ausführungen zurück, die er bereits 1975 unter gleichem Titel in der in Leipzig erscheinenden Zeitschrift »Die Sterne. Zeitschrift für alle Gebiete der Himmelskunde«, veröffentlicht hat. Dies erscheint umso mehr gerechtfertigt, als die damalige Arbeit in einem naturwissenschaftlichen Periodikum publiziert wurde, folglich in geschichtswissenschaftlichen Bibliographien kaum verzeichnet und dementsprechend auch von M. Meinzer übersehen worden ist.

[5] Zu ihm vgl. Dommanget (1938).

[6] Vgl. Ginzel (1914), S. 328ff.; Meier (1991), S. 45ff.; Meinzer (1992), S. 12ff.; für die astronomischen Zusammenhänge auch: Lamont (1920).

[7] Zu Biographie und Werk der hier und im folgenden genannten Mathematiker und Astronomen sei generell auf das »span class="werktitel">Dictionary of Scientific Biography« (s. Literaturverzeichnis verwiesen.

[8] Seit 1753 Professor der Mathematik an der Artillerieschule in Turin; folgt 1766 einem Ruf Friedrichs des Großen nach Berlin, dort Direktor der mathematischen Klasse der Akademie der Wissenschaften. Seit 1787 in Paris als Professor für Mathematik an der Ecole normale und Ecole polytechnique. Lagrange ist der Begründer der Variationsrechnung; sein astronomisches Hauptwerk „Mécanique analytique" (Paris 1788), zählt zu den bedeutendsten astronomischen Schriften des 18. Jahrhunderts.

[9] Ausgebildet als Theologe und Astronom, hervorgetreten durch Finsternisberechnungen und eine zweibändige Untersuchung zu Geschichte und Theorie der Kometen (1783-84); insbesondere wurde er in der Fachwelt berühmt durch seine Expeditionen 1760 zur Insel St. Rodriguez (Pazifik) und 1769 nach Haiti, um die Venusvorübergänge vor der Sonne zu beobachten.

[10] Monge hat die Revolution ausdrücklich begrüßt und gefördert und war 1792 an der Absetzung und Verurteilung Ludwigs XVI. beteiligt; Wußing/Arnold (1978), S.270-282, hier S. 273.

[11] Meinzer (1992), S. 18ff.;

[12] Zunächst als praktischer Astronom und Geodät tätig; als Nachfolger Lalandes seit 1807 Professor der Astronomie am Collège de France; namentlich bekannt geworden durch seine sechsbändige »Histoire de l'astronomie« (1817-1827).

[13] Seit 1753 Mitglied der Pariser Akademie, seit 1761 Professor am Collège de France, Direktor der Sternwarte der Ecole militaire. - L. war sowohl als astronomischer Beobachter wie als astronomischer Schriftsteller bedeutend und breiten Kreisen durch sein Lehrbuch der Astronomie (1764) bekannt geworden.

[14] Seit 1784 Professor an der Ecole normale, 1799 vorübergehend Ministers des Innern. In der Mathematik geht auf ihn die Theorie der Kugelfunktionen und des Potentials, in der Astronomie die 1773 angekün- digte Entdeckung der Unveränderlichkeit der mittleren Bewegungen der Planeten zurück. Seine astronomisch-naturphilosophischen Hauptwerke sind »Exposition du Système du monde« (1796) und »Mécanique celeste« (1799-1825); die 1878 bis 1904 erschienene Gesamtausgabe seiner Schriften umfaßt 13 Bände.

[15] Lavoisier, der politisch gemäßigt konstitutionell gesonnen war, wurde von den Radikalen um Jean Paul Marat im Mai 1794 angeklagt und am 8. Mai durch die Guillotine  hingerichtet.

[16] Collection de Documents, T. 2, S. LXXVII; »a supprimer le dimanche« soll Romme auf die Frage nach dem Zweck des neuen Kalenders geantwortet haben: Meinzer (1992), S. 234 Anm. 10.

[17] Delambre (1806-10).

[18] Instructions sur les poids et mésures (1794).

[19] Foerser (1887), S. 26.

[20] Lalande (1798-99), S.267.

[21] Villain (1884/85); Collection de Documents, T. 2 (1894); Caron (1905).

[22] Druck u.a.: Villain (1884/85); Collection de documents, T. 2 (1894).