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Heinrich von Kleist an Ulrike von Kleist

vom 12.11.1799.

Frankfurt a. d. Oder, den 12. November 1799

Ich war zuerst willens, der langen Verspätung dieses Briefes eine Rechtfertigung voranzuschicken; aber es fällt mir ein, daß doch eben nicht viele Billigkeit dazu gehört, sie zu entschuldigen, wenn man mich und die Absicht meines Hierseins kennt. Ich habe mir ein Ziel gesteckt, das die ununterbrochene Anstrengung aller meiner Kräfte und die Anwendung jeder Minute Zeit erfordert, wenn es erreicht werden soll. Ich habe besonders in diesem meinem zweiten akademischen Kursus eine Masse von Geschäften auf mich geladen, die ich nicht anders als mit dem allermühsamsten Fleiße bearbeiten kann; eine Masse von Geschäften, die selbst nach dem Urteile Hüllmanns zu schwer für mich ist, und von der ich daher, wenn ich sie dennoch trage, mit Recht sagen kann, daß ich das fast Unmögliche möglich gemacht habe. Unter diesen Umständen siehst Du wohl ein, daß es bisher nötig war, mich oft mit einem augenblicklichen Andenken an Dich zu begnügen; und daß mir selbst jetzt die Zeit einer schriftlichen Unterhaltung mit Dir noch nicht geworden wäre, wenn durch den Eintritt der Messe die akademischen Vorlesungen nicht ausgesetzt worden wären. Diese vierzehn Tage der Ruhe, diesen Sonntag für meine lange geschäftsvolle Woche, benutze ich, um mich einmal nach Herzenslust zu vergnügen; und dieses Vergnügen soll ein Brief an Dich sein.

Wenn man sich so lange mit ernsthaften abstrakten Dingen beschäftigt hat, wobei der Geist zwar seine Nahrung findet, aber das arme Herz leer ausgehen muß, dann ist es eine wahre Freude, sich einmal ganz seine Ergießungen zu überlassen; ja es ist selbst nötig, daß man es zuweilen ins Leben zurückrufe. Bei dem ewigen Beweisen und Folgern verlernt das Herz fast zu fühlen; und doch wohnt das Glück nur im Herzen, nur im Gefühl, nicht im Kopfe, nicht im Verstande. Das Glück kann nicht, wie ein mathematischer Lehrsatz bewiesen werden, es muß empfunden werden, wenn es da sein soll. Daher ist es wohl gut, es zuweilen durch den Genuß sinnlicher Freuden von neuem zu beleben; und man müßte wenigstens täglich ein gutes Gedicht lesen, ein schönes Gemälde sehen, ein sanftes Lied hören - oder ein herzliches Wort mit einem Freunde reden, um auch den schönern, ich möchte sagen den menschlicheren Teil unseres Wesen zu bilden.

Dieses letzte Vergnügen habe ich seit Deiner Abwesenheit von hier gänzlich entbehren müssen, und grade dieses ist es, dessen ich am meisten bedarf. Vorsätze und Entschlüsse wie die meinigen bedürfen der Aufmunterung und der Unterstützung mehr als andere vielleicht, um nicht zu sinken. Verstanden wenigstens möchte ich gern zuweilen sein, wenn auch nicht aufgemuntert und gelobt, von einer Seele wenigstens möchte ich gern zuweilen verstanden werden, wenn auch alle andern mich verkennen. Wie man in einem heftigen Streite mit vielen Gegnern sich umsieht, ob nicht einer unter allen ist, der uns Beifall zulächelt, so suche ich zuweilen Dich; und wie man unter fremden Völkern freudig einem Landsmann entgegenfliegt, so werde ich Dir, mein liebes Ulrikchen entgegenkommen. Nenne es immerhin Schwäche von mir, daß ich mich so innig hier nach Mitteilung sehne, wo sie mir so ganz fehlt. Große Entwürfe mit schweren Aufopferungen auszuführen, ohne selbst auf den Lohn verstanden zu werden Anspruch zu machen, ist eine Tugend, die wir wohl bewundern, aber nicht verlangen dürfen. Selbst die größten Helden der Tugend, die jede andere Belohnung verachteten, rechneten doch auf diesen Lohn; und wer weiß, was Sokrates und Christus getan haben würden, wenn sie voraus gewußt hätten, daß keiner unter ihren Völkern den Sinn ihres Todes verstehen würde. Willst Du es doch eine Schwäche nennen, so ist es höchstens die Schwäche eines Münzensammlers z. B. der zwar hauptsächlich für sich und zu seinem Vergnügen, zu seinem Nutzen sammelte, und daher auch nicht zürnt, wenn die meisten gleichgültig bei seiner sorgfältig geordneten Sammlung vorübergehen, aber eben deswegen um so viel lieber einmal einen Freund der Kunst in sein Kabinett führt. Denn meine Absichten und meine Entschlüsse sind solche Schaumünzen, die aus dem Gebrauche gekommen sind und nicht mehr gelten; daher zeige ich sie gern zuweilen einem Kenner der Kunst, damit er sie prüfe und mich überzeuge, ob, was ich so emsig und eifrig sammle und aufbewahre, auch wohl echte Stücke sind, oder nicht.

- Ich überlese jetzt den eben vorangegangnen Punkt, und finde, daß er mir mißfallen würde, wenn ich ihn, so wie Du hier, aus dem Munde eines jungen Menschen hörte. Denn mit Recht kann man ein Mißtrauen in solche Vorsätze setzen, die unter so vielen Menschen keinen finden, der sie verstünde und billigte. Aber doch ist es mit den meinigen so; verstanden werden sie nicht, das ist gewiß, und daher, denke ich, werden sie nicht gebilligt. Wessen Schuld es ist, daß sie nicht verstanden werden -das getraue ich mich wenigstens nicht zu meinem Nachteil zu entscheiden. Wenn ein Türke und ein Franzose zusammenkommen, so haben sie wenigstens gleiche Verpflichtung, die Sprache des andern zu lernen, um sich verständlich zu machen. Tausend Bande knüpfen die Menschen aneinander, gleiche Meinungen, gleiches Interesse, gleiche Wünsche, Hoffnungen und Aussichten; - alle diese Bande knüpfen mich nicht an sie, und dieses mag ein Hauptgrund sein, warum wir uns nicht verstehen. Mein Interesse besonders ist dem ihrigen so fremd, und ungleichartig, daß sie - gleichsam wie aus den Wolken fallen, wenn sie etwas davon ahnden. Auch haben mich einige mißlungene Versuche, es ihnen näher vor die Augen, näher ans Herz zu rücken, für immer davon zurückgeschreckt; und ich werde mich dazu bequemen müssen, es immer tief in das Innerste meines Herzens zu verschließen.

Was ich mit diesem Interesse im Busen, mit diesem heiligen, mir selbst von der Religion, von meiner Religion gegebnen Interesse im engen Busen, für eine Rolle unter den Menschen spiele, denen ich von dem, was meine ganze Seele erfüllt, nichts merken lassen darf, - das weißt Du zwar nach dem äußern Anschein, aber schwerlich weißt Du, was oft dabei im Innern mit mir vorgeht. Es ergreift mich zuweilen plötzlich eine Ängstlichkeit, eine Beklommenheit, die ich zwar aus allen Kräften zu unterdrücken mich bestrebe, die mich aber dennoch schon mehr als einmal in die lächerlichsten Situationen gesetzt hat.

Die einzige Gesellschaft, die ich täglich sehe, ist Zengens, und ich würde um dieser peinlichen Verlegenheit willen, auch diese Gesellschaft schon aufgegeben haben, wenn ich mir nicht vorgenommen hätte, mich durchaus von diesem unangenehmen Gefühl zu entwöhnen. Denn auf meinem Lebenswege werden mir Menschen aller Art begegnen, und jeden muß ich zu nutzen verstehen. Dazu kommt, daß es mir auch zuweilen gelingt, recht froh in dieser Gesellschaft zu sein; denn sie besteht aus lauter guten Menschen, und es herrscht darin viele Eintracht, und das Äußerste von Zwanglosigkeit. Die älteste Zengen, Minette, hat sogar einen feineren Sinn, der für schönere Eindrücke zuweilen empfänglich ist; wenigstens bin ich zufrieden, wenn sie mich zuweilen mit Interesse anhört, ob ich gleich nicht viel von ihr wieder erfahre. Aber von allem diesen ist nichts, wenn der ganze Haufen beisammen ist. Ein Gespräch kann man ihr sich durchkreuzendes Geschwätz nicht nennen. Wenn ein Gespräch geführt werden soll, so muß man bei dem Gegenstande desselben verweilen, denn nur dadurch gewinnt es Interesse; man muß ihn von allen seinen Seiten betrachten, denn nur dadurch wird es mannigfaltig und anziehend. Aber hier - doch Du kennst das. Ich wollte Dir nur zeigen, daß das Interesse, das mir die Seele erfüllt, schlecht mit dem Geiste harmoniert, der in dieser Gesellschaft weht; und daß die Beklommenheit, die mich zuweilen ergreift, hieraus sehr gut erklärt werden kann.

Ich sage mir zwar häufig zu meinem Troste, daß es nicht die Bildung für die Gesellschaft ist, die mein Zweck ist, daß diese Bildung, und mein Zweck, zwei ganz verschiedne Ziele sind, zu denen zwei ganz verschiedne Wege nach ganz verschiednen Richtungen führen - denn wenn man z. B. durch häufigen Umgang, vieles Plaudern, durch Dreistigkeit und Oberflächlichkeit zu dem einen Ziele kommt, so erreicht man dagegen nur durch Einsamkeit, Denken, Behutsamkeit und Gründlichkeit das andere usw. Auch soll mein Betragen jetzt nicht gefallen, das Ziel, das ich im Sinne habe, soll für töricht gehalten werden, man soll mich auf der Straße, die ich wandle, auslachen, wie man den Colomb auslachte, weil er Ostindien in Westen suchte. Nur dann erst bewunderte man ihn, als er noch mehr gefunden hatte, als er suchte - usw. Das alles sage ich mir zu meinem Troste. Aber dennoch möchte ich mich gern von dieser Beklommenheit entwöhnen, um so viel mehr, da ich mit Verdruß bemerke, daß sie mich immer öfter und öfter ergreift.

Aber ich fürchte, daß es mir in der Folge wie den meisten Gelehrten von Profession gehen wird; sie werden in ihrem äußern Wesen rauh, rêche, wie der Franzose sagt, und für das gesellige Leben untauglich. Ich finde das aus vielen Gründen sehr natürlich. Sie haben ein höheres Interesse lieb gewonnen, und können sich nicht mehr an dem gemeinen Interesse erwärmen. Wenn ein anderer z. B. ein Buch, ein Gedicht, einen Roman gelesen hat, das einen starken Eindruck auf ihn machte und ihm die Seele füllte, wenn er nun mit diesem Eindruck in eine Gesellschaft tritt, er sei nun froh oder schwermütig gestimmt, er kann sich mitteilen, und man versteht ihn. Aber wenn ich einen mathematischen Lehrsatz ergründet habe, dessen Erhabenheit und Größe mir auch die Seele füllte, wenn ich nun mit diesem Eindruck in eine Gesellschaft trete, wem darf ich mich mitteilen, wer versteht mich? Nicht einmal ahnden darf ich lassen, was mich zur Bewunderung hinriß, nicht einen von allen Gedanken darf ich mitteilen, die mir die Seele füllen. - Und so muß man denn freilich zuweilen leer und gedankenlos erscheinen, ob man es gleich wohl nicht ist.

Der größte Irrtum ist dann wohl noch der, wenn man glaubt, ein Gelehrter schweige aus Stolz, etwa, weil er die Gesellschaft nicht der Mitteilung seiner Weisheit wert achtet. Ich wollte schwören daß es meistens grade das Gegenteil ist, und daß es vielleicht grade der äußerste Grad von Bescheidenheit ist, der ihm Stillschweigen auferlegt. Ich rede hier besonders von großen Gelehrten, die ihr Lob in allen Zeitschriften lesen. Man besucht sie häufig um den Giganten doch einmal in der Nähe zu betrachten; man erwartet von ihnen, das wissen sie selbst, lauter Sentenzen, man glaubt, daß sie wie in ihren Büchern reden werden. Sie reden aber nur wenige gemeine Dinge, man verläßt sie mit dem Verdacht, daß sie aus Stolz geschwiegen haben, ob sie zwar gleich nur aus Bescheidenheit schwiegen, weil sie nicht immer in den erwarteten Sentenzen reden konnten, und doch nicht gern, die gute Meinung, die man von ihnen hatte, zerstören wollten.

In solchen Lagen hat man die gelehrtesten Männer oft in der größten Verlegenheit gesehen. Unser gescheuter Professor Wünsch, der gewiß hier in Frankfurt obenan steht und alle übersieht, würde doch gewiß, des bin ich überzeugt, durch die abgeschmacktesten Neckereien des albernsten Mädchens in die größte Verlegenheit gesetzt werden können. Du weißt, wie es Rousseau mit dem Könige von Frankreich ging; und man braucht daher weder dumm noch feig zu sein, um vor einem Könige zu zittern. Ein französischer Offizier, der, als Ludwig der 14. ihn heranrief, sich zitternd seinem Könige näherte, und von ihm mit kalter königlicher Überlegenheit gefragt wurde, warum er so zittere? hatte dennoch die Freimütigkeit zu antworten: Sire, ce n�est pas devant vos ennemis, que je tremble ainsi.

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Meine Briefe werden lang, mein liebes Ulrikchen; und was das Schlimmste ist, ich rede immer von mir. Verzeihe mir diese kleine menschliche Schwachheit. Vieles verschweige ich noch, das ich bis zu Deiner Rückkunft aufbewahre. Ob Dich Neuigkeiten mehr interessiert hätten, als der Inhalt dieses Briefes? - Wer weiß. Aber auf alle Fälle gab es keine Neuigkeiten, außer die alte Leier, daß die Messe schlecht sei. Die Kleist aus Schernewitz war hier, und hat mir gut gefallen. Sie will künftiges Jahr nach Flinzberg ins Bad reisen, und wünschte eine Reisebegleiterin - wen habe ich ihr wohl vorgeschlagen? Sie hat mir also förmlich aufgetragen, Dich zu dieser Reise einzuladen.

Bis dahin denke ich wirst Du doch noch einmal nach Frankfurt kommen? Was in aller Welt machst du denn in Werben? Niemand von uns, ich selbst nicht, kann begreifen, was dir den Aufenthalt dort auf viele Monate so angenehm machen kann. Wenn es kein Geheimnis ist, so schreibe es mir. Grüße Schönfeld und Frau, Onkel und Tante Pannwitz, kurz alles was Pannwitz heißt, auch Caroline. Ist sie noch böse? - Adieu.

Dein treuer Bruder Heinrich.

N. S. Hier kommen noch einige Supplemente, die ich Dir zur Bekanntmachung an Pannwitz, den das interessieren wird, mitteile. Schätzel hat das 3. Batl. bekommen aber ausgeschlagen und verlangt Pension. Gaudy ist Major geworden und hat Schätzels Kompanie. Welchen Eindruck dies gemacht hat, und in welchem Tone die Grumbkow spricht, kannst Du Dir denken. Das Sonderbarste hierbei ist, daß Gen. Kleist an Hagen geschrieben hat, es täte ihm dieser Einschub, von dem er auf sein Ehrenwort nichts wüßte, sehr leid. Wir wollen nicht glauben, daß hier eine Falschheit zum Grunde liege, ob ich Dir zwar gleich in der folgenden Neuigkeit ein Beispiel von einer unerhörten, unmenschlichen Falschheit geben werde. Der Kaufmann Scholz ist seines Arrests entlassen, statt seiner sitzt seine Frau - warum? das hast Du schon zu Anfange der ganzen Geschichte vorausgesehen. Die Sache ist keinem Zweifel mehr unterworfen. Sie hat sich selbst verraten. Ein Fragment aus einem Briefe von ihrem Manne, worin sie das Wort Geld in Gift umgefälscht hat, um den Verdacht gegen ihn zu verstärken, hat sie verraten. Einige Zeugen, ein Student und zwei Mädchen, die sie bewegt hatte, einen falschen Eid für ihren Betrug zu schwören, haben sie verraten. Sie selbst hat es schon eingestanden, daß sie einen Betrug gespielt habe. - Ist es wohl glaublich, daß dies ein Weib sei? - -

Zweite Nachschrift.

Ich liefre Dir noch ein Supplement zum Supplement. Schätzel ist Gen. Major geworden, erhält 8oo Rth. Pension und bleibt nun in Frankfurt.

Noch eine Hauptnachricht, die Dich vielleicht bewegen wird, sogleich nach Frankfurt zu kommen. Zengens und unsre Familie nebst viele andere Damen Frankfurts nehmen ein Kollegium über Experimentalphysik bei Wünsch. Nehmen, sagte ich? Das klingt ja beinah, als wäre von Medizin die Rede. So übel schmeckt es indessen nicht. Es ist eine Brunnenkur zum Nutzen und Vergnügen. Du wirst sie nicht verschmähen. Willst du die Vorlesung von Anfang an beiwohnen, so mußt Du auf irgend eine Art suchen, sogleich nach Frkft. zu kommen.

Quelle:
Müller-Salget, Klaus / Ormanns, Stefan (Hg.): Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Band 4 - Briefe von und an Heinrich von Kleist 1793–1811. 1997