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Briefe auf einer Reise durch Deutschland und der Schweiz im Sommer 1808.

von Charlotte von Ahlefeld.

Ein und zwanzigster Brief

Martigny, in Wallis,
den 6. August.

Vorgestern früh ritt ich hinter meinem treuen Führer, Paccard, einen mühsamen Weg auf die Flessiére, einen Berg, dessen Haupt die sogenannten Aiguilles rouges krönten. Die Aussicht dort ist, wo möglich, noch überrasschender, wie von den Montevert, denn hier mischen sich Spuren des Bewohntseyns wohlthuend in die Aussichten, die sich in grauenvolle Einöden eröffnen, und man erblick zu seinen Füßen das ganz Chamounythal mit seinen einzelnen Hütten und Dörfern, freilich nur klein, wie einen Anbau der Liliputaner, aber doch mit der tröstlichen Ahndung, daß ein menschliches Daseyn uns nahe ist. Nur das Eismeer stellt sich hier nicht von seiner vortheilhaftesten Seite dar, indem es zu tief und zu entfernt liegt, um sich so herrlich zeigen zu können, wie auf dem Montevenrt. Der Montblanc aber mit seinen majestätischen Nachbarn steht in seiner ganzen Erhabenheit da; ein Anblick, den man auf dem Montenevert entbehrt, wo ihn die aiguille de charmoz dem Auge verbirgt. Hier erst findet man den richtigen Maasstab seiner Größe, da er, unten im Thal gesehen, sich nur wenig über den Dome de gouté und seine übrigen Gefährten zu erheben scheint. Sein herrlicher, wie eine abgerundete Pyramide gebildeter Gipfel strahlte mit seiner unvergänglichen Hülle von Schnee und Eis funkelnd im Glanz der Sonne, da´der Blick kaum seinen Schimmer zu ertragen vermochte. Unten in der Tiefe lieft das Thal von Chamouny wie ein schmaler Streifen, durch das sich die Are in mahlerischen Krümmungen windet. Rings umher fassen Gletscher und himmelansteigende Wälder, von steilen Bergen getragen, es ein, und die schroffen Spitzen der überall hervorragenden Aiguillen vermehren noch die Mannichfaltigkeit und das seltsame dieser einzigen, mit nichts zu vergleichenden Aussicht.

Das Heruntersteigen war sehr beschwerlich, da es zu Fuß geschehen mußte. Einzelne Quellen, die flüstern aus dem Innern des Felsens hervorsprudelten, erfrischten mich auf der mühevollen Wanderung, die die Mittagsglut der Sonne noch erschwerte. Sie waren mir immer freundliche Ruhepunkte, wo ich meine erschöpften Kräfte wieder sammelte, um endlich das Thal zu erreichen, wo ich den Maulesel wartend fand, mich nach Chamouny zurück zu tragen. Gegen Abend machte ich noch einen kleinen Spaziergang ins Feld, das mir wohl angebaut und fruchtbar schien. Auch besahen wir die Kriche, die eine sehr schöne Lage, gerade dem Montblanc gegen über, hat.

Gestern früh bestiegen wir von neuem die Maulesel, und unsere Guiden giengen, unsern Zug leitend, voran. Die Gegend war wild und schauerlich, und die Arve wälzte uns zur Seite ihre weissen Wogen zwischen dunklen Felsenufern mit Tannen besetzt dahin. Große Granittrümmern lagen oft mitten in ihrem Wege, aber ohne sie zu hemmen, denn schäumend stürzte sie über sie weg. Wir kamen an dem Gletscher argentiére und la tour vorbei, und erreichten langsam den hohen col de Balme, wo wir einige Stunden ausruhten, und dan, nachdem wir den letzten Abschiedsblick auf Chamouny geworfen hatten, auf der andern Seite zu Fuß wieder herab zu steigen. Ich sah auf dem col de Balme mit Schauder den mont Büêt ziemlich nahe, in dessen Untiefen der junge hoffnungsvolle Eschen sein leben verlohr.

Als wir nach vielen Anstrengungen endlich hinunter gelangt waren, mußten wir von neuen einen Berg von großer Höhe ersteigen. Doch als er sich wieder senkte, lag Martigny herrlich und belohnend, als das Ziel unserer Wallfahrt in einem der schönsten Thäler vor uns, und die südliche Milde des Klimas, die sich an allen Bäumen und Gewächsen zeigt, machte es uns beinahe unglaublich , daß nur eine so kurze Entfernung dies Thal von Chamouny, der Heimath eines ewigen Winters trennt.