Skip to main contentSkip to page footer

Maria Müller

von Charlotte von Ahlefeld.

Fünftes Kapitel

Als sie diesen Brief geschrieben hatte, trug sie ihn zum Vater, gestand ihm alles, weinte an seinem Halse, und empfing seine Vergebung und seinen Beifall. Nie liebte wohl ein Vater sein Kind inniger! Er glaubte nun, sie würde in Thränen zerfließen, aber als die ersten vorüber waren, wurde der Schmerz, sich nicht allein in ihren süßesten Hoffnungen, sondern auch in dem Karakter des Geliebten getäuscht zu sehen, still und ernst. Sie suchte der Melancholie zu entfliehn, aber sie folgte ihr, wie ihr Schatten. Man sah ihr Auge trocken, und nur wenn sie aus ihrer Kammer kam, verrieth eine kleine Röthe, daß es sich in der Einsamkeit ergossen hatte. In ihren sonst so heitern Blicken wohnte jetzt jene rührende Freundlichkeit, die mit Thränen kämpft, und das feinere, durch stille Duldung umschleierte Gefühl karakterisirt, das schweigend seinen Kummer trägt, und ihn der Welt schonend verbergen möchte.

Um diese Zeit kam Ludwigs erster Brief an den Alten. Er athmete Herzlichkeit, Sehnsucht und Liebe. Marie las ihn, und ihr Gesicht von Schwermuth umwölkt, wurde ernster, als sie ihn zurückgab. Was denkst Du, Marie? fragte Müller. – Daß ich ihn nicht betrügen will, antwortete sie. Ludwig verdient ein freies, ganzes Herz, ein Herz noch nicht von Gram zerrissen, noch nicht von fremder Liebe erfüllt. – Wie, meine Tochter! Du könntest den Mann noch lieben, der Dich so tief herabwürdigen wollte? – Mit Unwillen, sogar mit Verachtung wende ich mich von seinem entehrenden Antrag hinweg, versetzte Marie, aber ihn selbst – ach mein Vater, ihn liebe ich noch immer mit aller Innigkeit, deren ich fähig bin. Die Welt hat seine Sitten verdorben, aber es ist nur ein vorübergehender Taumel, ein Schlaf seiner bessern Ueberzeugung, aus dem er gewiß erwachen wird.

Vielleicht gelingt es einem edlen Mädchen seines Standes, ihn den rechten Weg liebevoll und sanft zu führen, von dem er abweichen wollte. Wenn er dann recht glücklich ist, fuhr sie fort, und senkte ihr thränenschweres Auge zur Erde, o dann will ich ihm gern verzeihen, daß er diese tiefe Wunde meinem Herzen schlug. Und Du willst Ludwigs Hoffnungen, die auch die meinigen sind, durch eine romanhafte Grille vernichten? sagte der Vater.

Ludwig würde mit mir nicht glücklich seyn, erwiederte Marie. O erlaub' Er mir, guter Vater, einsam mein trübes Leben zu enden. Still und eingezogen will ich meinen Frühling dahin fliehn sehn, Sein Alter erheitern, und alle die Pflichten erfüllen, die Gott und mein Gewissen mir auflegen. Aber heirathen will ich nie! – Brauche ich einst, wenn ich so unglücklich seyn sollte, Ihn zu verlieren, männlichen Rath und männliche Hülfe, so wird sie mir Ludwigs Freundschaft nicht verweigern. – Sie umschloß den Vater mit heißen Thränen, sie bat, sie flehte so süß um ihre Freiheit, daß der gütige Alte ihr das feierliche Versprechen gab, sie niemals zu zwingen.

Wodmar war von Mariens entschlossener Antwort überrascht worden. Er hatte ihrem zartfühlenden Herzen die feinsten Empfindungen für Ehre und Tugend zugetraut, aber bei dieser glühenden Liebe für ihn zweifelte er an ihrer Beharrlichkeit. Ein Blick, ein Kuß, ein Wort, dachte er, würde sie überreden: aber er hatte sich betrogen. Er kam täglich in ihr Haus, aber die alte Magd hatte den bestimmten Auftrag, ihn abzuweisen. Er schrieb mit alle der feurigen Beredsamkeit, mit der das Laster seine Wünsche vertheidigt; – Marie sandte ihm seine Briefe unerbrochen zurück. Er wandte sich an eine ihrer Nachbarinnen, und sparte weder Geld noch Schmeichelei, um durch ihre Vermittelung Marien wenigstens zu sehn, und sie mit sich auszusöhnen; aber das edle, beleidigte Mädchen vermied jede ihrer Schwachheit gelegte Schlinge, und war immer dem Auge ihres Verführers unsichtbar.

Mit jeder neuen, vergeblichen Mühe machte der Unmuth, sie umsonst angewendet zu haben, des Grafen brennende Begierde nach Mariens Anblick lauer. Es ist ein überspanntes Geschöpf, sagte er mißvergnügt zu sich selbst, das geheirathet, aber nicht geliebt seyn wollte; eine Tugendheldin, wie man sie in Romanen findet, weiter nichts. – Aber Mariens Bild, mit der ganzen Harmonie ihrer Reize, das ihm die Erinnerung so oft zurück rief, stellte sich dann immer seinem Unwillen gegenüber, und besiegte ihn schneller, als er wünschte. Er fühlte eine Leere in seiner Brust, die ihm jede Freude verbitterte, und alle seine ehemalige gute Laune verdarb. Vergebens suchte ihn Georg durch neue Bekanntschaften zu erheitern, – vergebens ihn zu gewaltsamen Mitteln, sogar zu einer Entführung zu bewegen. Die Stimme seines Edelmuths unterdrückte die Stimme seiner glühenden Wünsche, und er sagte mit fester Entschlossenheit: Nein! wenn sie nur in ihrer eingebildeten Tugend das höchste, einzige Glück findet, dessen sie fähig ist, warum soll ich es ihr entreißen? Wer giebt mir das Recht, es zu thun? Ach, ich hätte meine Welt in Deiner Liebe gefunden, setzte er voll Wehmuth, mit allem Schmerz unbefriedigter Liebe hinzu, und Du wolltest mir Deine Grillen nicht opfern? Behalte sie denn, und sey glücklich, ich will Dich vergessen! – Er seufzte, und mit jedem neuen Seufzer goß seine immer mehr und mehr besänftigte Fantasie stillere Ruhe und Ergebung in seine Seele.

»Komm, lerne Deine Braut kennen, schrieb ihm sein Vater aus der Residenz, sie verläßt in diesen Tagen die Pension, in der sie erzogen wurde, und ist bereit, Deine Hand anzunehmen. Ehe zwey Monat ins Land gehn, müßt Ihr verbunden seyn.«

Diese Nachricht ergriff den jungen Grafen mit einem sonderbaren Schrecken. Er war kein Freund des Ehestandes, indessen wollte er keinesweges dem Bande ausweichen, das ihn an Josephinen knüpfen sollte, ob er gleich überzeugt war, daß es einen Theil der Freuden seiner goldnen Unabhängigkeit stranguliren würde. Eine lange Reihe ihm bisher so fremder Gedanken schloß sich an die Aussicht seiner nahen Verheirathung. Josephine soll schön und geistreich seyn, dachte er bei sich selber, sie wird mich wenigstens zerstreuen, wenn sie mich auch nicht zu fesseln vermag. – Sein Trübsinn floh vor einer Menge Bilder der Zukunft, denen wenigstens die Neuheit Reize lieh. Noch einmal versuchte er Marien zu sprechen, aber umsonst, ihre Thür blieb ihm verschlossen, die Klagen, die er in seine Briefe goß, fanden nicht den Weg zu ihrem Herzen.

So reisete er ab, mit dem festen Vorsatz, ihr Andenken in ewige Vergessenheit zu begraben. Als sein Wagen durch die Vorstadt an ihrem Hause dahin flog, und an der Gartenmauer vorbei, über die die dunkeln Linden flüsternd sich beugten, die in jener glücklichen Nacht ihn und seine Marie in ihren vertraulichen Schatten nahmen, da ward ihm das volle Herz so gepreßt, und noch einmal empörte sich laut sein Unmuth gegen ihre strenge Tugend. O, rief er unwillig aus, warum habe ich jene Stunden so ungenützt verstreichen lassen, die mir Mariens Liebe auf immer erworben hätten, wenn ich nicht zu gewissenhaft gewesen wäre! Jetzt wäre sie mein, und meine flammende Zärtlichkeit hätte längst ihre Zweifel beruhigt, und besser als alle die Gründe, mit denen ich ihre Unschuld einzuwiegen gedachte, mich dem Ziel meiner Wünsche genähert.

Er gab sich Mühe, sie zu vergessen, sie zu verachten, aber es war nicht möglich. Seine Sehnsucht nach ihr wuchs mit dem Raum, der sie trennte. Er erinnerte sich ihrer Liebkosungen, so süß und rührend, ihrer Reize, ihrer glühenden Liebe, mit der holdesten Sittsamkeit verbunden, und ein tiefer Seufzer, daß dies alles nicht bestimmt war, sein Leben zu verschönern, klagte um die Vergangenheit. In seinen Unwillen gegen Marien mischte sich dennoch eine geheime Achtung für ihre festen Grundsätze. Was für eine Tugend muß das nicht seyn, sagte er, die eine so innige Neigung überwindet? Sie muß glücklich machen, weil sie nach dem allgemeinen Wahne, der ihr huldigt, Ansprüche auf ein besseres Leben giebt. Könnt' ich auch mich täuschen, und an sie glauben! setzte er hinzu; die Hälfte der Freuden, die ich durch die Freimüthigkeit meiner Denkungsart genoß, gäbe ich gern um diesen frommen Betrug meiner Sinne dahin.

Während Wodmar mit dem Gedanken an Marien beschäftigt, seiner Braut tiefsinnig sich näherte, ward er von dieser mit zerrißnem Herzen erwartet. Josephine, fest entschlossen, dem Manne, den man ihr bestimmte, ihre Hand zu geben, ob sie ihn gleich nicht kannte und nicht liebte, ob sie gleich, ohne ihn gesehn zu haben, durch ein andres Bild, das in ihrer Seele wohnte, schon sogar wider ihn eingenommen war, Josephine, die mit heimlichen Thränen sich die Entsagung ihres Lieblingswunsches errungen hatte, mußte oft ihren ganzen Stolz zurückrufen, um das Beben zu ersticken, das bei der Annäherung seiner Ankunft sie überfiel.

Ach, sie war nicht glücklich, so viel sie auch beneidet wurde. Unter einer kalten, stolzen Außenseite verbarg sie ein weiches, gefühlvolles Herz, das mehr verlangte, als Geld und einen gräflichen Bräutigam. Ihr Sinn war ernst und melancholisch, tiefe Gefühle lagen in ihrer Brust, und wenn auch der Zwang ihres Standes sie mit einer Hülle von Kälte überzog, wie der Schnee die duftenden Veilchen, so lohnte sich doch das Aufsuchen bei diesen wie bei jenen. Ihre Eltern, zu unbedeutend, um viel von ihnen zu sagen, verließen die Residenz als Josephine vierzehn Jahr alt war, weil ihr gutes Vernehmen mit dem Hof durch ihre allzugroßen Ansprüche auf Auszeichnung gestört worden war. Josephine, mit der man sich im Prunk eines glänzenden Lebens wenig beschäftigt hatte, ob sie gleich die einzige Tochter, und, was der Welt noch mehr galt, die einzige Erbin ihrer Eltern war, – Josephine bedurfte noch einer feinern Ausbildung, um vollendet zu seyn, und da man bei dem finstern Mißmuth, der die Ihrigen aufs Land begleitete, zweifelte, ihr diese selbst geben zu können, so ließ man sie in einer Erziehungsanstalt, die vieles Aufsehn machte, und die erst vor kurzem durch eine gewisse Madam Wilmuth errichtet worden war.

Madam Wilmuth war eine Witwe mit vielen Kenntnissen, aber einem geringen Vermögen. Vor ihrer Verheirathung hatte sie sich als Gouvernante in verschiedenen großen Häusern alle die Fähigkeiten erworben, die das eben so schwere, als ehrenvolle Amt einer Erzieherin verlangt. Aus einer glücklichen Ehe war ihr ein einziger Sohn geblieben, der durch alle die guten Anlagen, die sich schon frühe in ihm entwickelten, den Schmerz über den Verlust ihres geliebten Mannes milderte, und in eine stille Trauer verwandelte, die ihr lieber war, als alle Freuden eines Herzens, das noch nie gelitten hat, und dem der süße Gram fremd ist, mit dem man verhüllte Aussichten, vergebliche Hoffnungen, verlorne Freunde betrauert. Als sie Witwe ward, bot man ihr in den angesehensten Familien die Erziehung der Töchter an, aber eine gewisse Unabhängigkeit war ihr lieb geworden, und sie konnte sich nicht entschließen, ihr zu entsagen. Sie nahm ihr kleines Vermögen zusammen, um eine Kostschule zu errichten, und es gelang ihr. Die Sanftmuth ihres Wesens, so viel Vertrauen einflößend, die Nachsicht, mit welcher sie ihre Zöglinge behandelte, vor der so gern jugendliche Herzen sich öffnen, und der gutmeinende Ernst, mit dem sie tadelte und strafte, erwarb ihr die Liebe und Achtung der Eltern und Kinder. Josephine schloß sich mit Innigkeit an die ehrwürdige Matrone. So warm war man noch nie ihren Empfindungen begegnet, so herzlich hatte man noch nie ihren Gefühlen geantwortet, wie jetzt, und sie sah sich zu einem neuen, bessern Leben erwacht, zu einem Leben, welches ihr im einförmigen Kreise ihrer bisherigen Existenz immer wie ein schönes Ideal vorgeschwebt war, aber ohne die Hoffnung, es je realisirt zu sehn.

Madam Wilmuths Methode war sehr einfach, die Herzen ihrer Untergebenen mit dem festen Bande einer zärtlichen Freundschaft an sich zu ziehen. Sie bewies ihnen Vertrauen, und nahm dafür im schönen Tausche das ihrige hin. Sie tadelte immer nur den Fehler, nicht die Person, die ihn hatte, und vermied auf alle Weise die Eigenliebe zu verwunden, die, wenn sie richtig geleitet wird, oft die edelsten Gemüther bilden hilft. Ihr Ton war so mütterlich und schonend, daß er tief in die zarten Seelen eindrang, und sie mit kindlicher Liebe erfüllte. Seyd wahr und einfach, sagte Madam Wilmuth ihren Zöglingen oft, und sie wurden es, weil ihr Beispiel dasselbe sagte. Sie lehrte die jungen Mädchen immer thätig, nie müßig seyn, weil Fleiß eine der lieblichsten Blumen im Kranz weiblicher Tugenden ist. Sie empfahl ihnen Verschwiegenheit, und zeigte ihnen, daß durch den Mangel derselben schon oft der stille Friede einer ganzen Familie zertrümmert, die Eintracht der festesten Freundschaft unterbrochen, das Glück der innigsten Liebe gestört worden sey. Thränen zitterten dann in Josephinens schönem, blauem Auge, und sie that sich und Madam Wilmuth das feierliche Gelübde, jedes Geheimniß, das ihr die Zukunft anvertrauen würde, treu in ihrem Busen, wie in einem Grabe, zu verwahren. Seyd streng gegen eure eignen Fehler, aber nachsichtig und duldend gegen die Fehler andrer, bat Madam Wilmuth; aber Josephine schüttelte dann zweifelnd mit dem Kopf, denn ob sie gleich den ersten Theil dieser Lehre an sich selbst anwandte, so konnte sie doch gegen fremde Fehler kaum die Miene der Toleranz beobachten, und kaum fremde Schwächen nur bemitleiden. Sie fühlte ihren innern Werth und die Kraft zum Guten zu sehr in sich, als daß sie nicht von Andern alles das hätte fordern sollen, was sie selbst zu leisten im Stande war. Madam Wilmuth konnte diesen Stolz, der sich auf die Reinheit ihres Herzens gründete, weder mißbilligen noch vertilgen. Sie suchte ihn blos zu mildern, und es gelang ihr. Dieser Stolz, dachte sie bei sich selbst, wenn sie ihn in seiner ganzen Würde erhält, wird sie niemals sinken lassen. Sie wird sich fest und rein auf der Spiegelglätte des Hofs erhalten, und die Klippen der großen Welt vermeiden, ohne an ihnen gescheitert zu seyn.

Josephine war die älteste ihrer Pflegetöchter, und da sie von dem allgemeinen Unterricht der Kleinern ausgeschlossen war, so brachte sie den großten Theil ihrer zeit in der belehrenden Gesellschaft der Madam Wilmuth zu. August Wilmuth pflegte auch, so oft es sein Dienst erlaubte, – er war Offizier, – diese stillen Stunden zu theilen, die das sanfte, unterrichtende Wesen seiner Mutter, und Josephinens heitrer Geist, durch einen freundlichen Ernst gemäßigt, zu Stunden des Himmels umschuf.

August war ein liebenswürdiger junger Mann, noch in der ersten Blüthe der Jugend. Seine Gestalt war angenehm, ohne schön zu seyn, denn sie trug den Stempel der Güte und des Edelmuths. Er verband dieses Gefühl und reine Moralität mit einem festen Karakter, und die Liebe und Verehrung, die er für seine Mutter empfand, machte seinen Sinn weich und biegsam, und gab ihm eine Sanftheit, die seinen Umgang sehr angenehm machte. Er hatte noch nie geliebt. – Oft, in der Einsamkeit, in der er gewöhnlich lebte, gab er süßen Träumereien Raum in seiner Seele, und seine Fantasie webte immer mit leiser Ahndung die Freuden einer glücklichen Liebe in die Bilder der Zukunft, die er sich entwarf. Aber noch hatte er das Wesen nicht gesucht und nicht gefunden, das ihm fähig schien, die Leere seiner Seele zu füllen. Schöne Gesichter waren ihm wie schöne Blumen, ein lieblicher Anblick, aber noch keins hatte seine glückliche Ruhe unterbrochen.

August zeichnete sehr schön. Seine Mutter stellte ihn scherzend als Lehrmeister ihrer Untergebnen an, und da man sich von beiden Seiten Mühe gab, und mit einander zufrieden war, so ließ sie ihm ein Amt, das er so wohl zu verwalten wußte. Josephine hatte viel Geschicklichkeit, und fand Geschmack an der Malerey; sie machte sehr bald große Fortschritte, und August beschäftigte sich am liebsten mit ihr, weil ihre Leichtigkeit zu lernen seinem Bestreben, ihr nützlich zu seyn, gefällig zu Hülfe kam.

So mochten ungefähr zwei Jahre vorübergegangen seyn. Josephine war eins der schönsten Mädchen geworden, aber August, der ihre Reize nach und nach sich hatte entfalten sehn, bemerkte es nicht, weil er an ihren Anblick gewöhnt war. Die Gelegenheit sich täglich zu sehn und zu sprechen, hatte bei Josephinens liebenswürdigen Eigenschaften ihr seine ganze Zuneigung erworben, aber sie war nicht leidenschaftlich, sondern wie die ruhige Liebe des Bruders zu der Schwester. Auch Josephine fühlte ein Wohlwollen für ihren Freund, das mit einer stillen, reinen Flamme in ihrem Innersten loderte, und ihr Herz mit dem zarten Vertrauen der heiligsten Freundschaft ihm öffnete. Es ward ihr wohl in seiner Gesellschaft, und die Stunde, die zum Zeichnen bestimmt war, wurde allemal von ihr mit froher Ungeduld erwartet. Das Vergnügen, das sie in seinem Umgang fand, leuchtete aus ihren Augen, und entging Augusts Blicken nicht, der ihr Wohlwollen zu schätzen wußte, und sich immer mehr ihr mit wärmern Gefühlen näherte, je mehr er sah, daß Josephine sich mit der ganzen Unschuld ihrer reizenden Unbefangenheit an ihn anschloß. Um diese Zeit wollte August einen Versuch im Portraitmalen machen. Er bat Josephinen um die Erlaubniß, sie malen zu dürfen, und sie erlaubte es gern. Schnell waren seine Anstalten getroffen, und Josephine saß in einer schönen, ungezwungenen Stellung, die ihr eigen war, ihrem jungen Maler gegenüber.