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Morgenlied

Im May 1785.

Prächtig steigt die Sonne wieder
   Aus der Morgenröthe Zelt,
Tausend, tausend Jubellieder
   Singt ihr die erwachte Welt,
Und der Blumen süßes Düften
Steigt ihr auf in reinen Lüften.
 
Seht! wie ihr die Heerden hüpfen,
   Hört! wie ihr die Taube girrt;
Rascher scheint der Bach zu schlüpfen
   Der durch frische Wiesen irrt,
Und die kleinen Sommer Müken
Tanzen ringelnd ihr Entzüken.
 
Traurig siz ich in der Fülle
   Lauter Freude rings umher,
Schwermuthsvoller, ernst und stille
   Bleibt mein Busen freudenleer.
Ach! die Purpurstralen weken
Mir des Todes bleiches Schreken.
 
Weh mir! daß ich durch die Chöre,
   Durch das Lied, das Leben singt,
Laut des Todes Röcheln höre
   Das aus jedem Odem dringt,
In den Weyhrauch reiner Lüfte
Mischt sich Duft der Todtengrüfte.
 
Blumen, die dem Aufgang blühen,
   Welken, wenn der Mittag sinkt,
Und von Wangen, die ihm glühen,
   Todes Schweis der Abend trinkt,
Leichen, Gräber ohne Zahlen
Wird sein lezter Grus bestralen.
 
Tauche deine goldnen Flügel,
   Erden Licht! ins Schatten Meer,
Streu um unsre Todenhügel
   Nacht das tiefste Dunkel her,
Bis in Edens Sonnenwälzen
Unsrer Gräber Fesseln schmelzen.