Skip to main contentSkip to page footer

Kennzeichen wahrer Liebe

Nicht alles, was man Liebe heißt, ist Liebe
Wenn's gleich Uraniens Gewänder trägt.
Unschuldig sind des Herzens erste Triebe,
Und selig der, der sie in uns erregt!

Ihr Feuer wärmet sanft, so wärmt die Sonne
Im Frühling den jungen Blütenbaum;
Sie ist allein der Urborn echter Wonne,
Und was ihr vorging, was ihr folgt, ist Traum.

Nur sie berührt des Herzens feinste Saite,
Die Einmal, Einmal nur harmonisch klingt,
Und dann verstummet, wenn nicht eine zweite
Gleich lautende zur Antwort widerklingt.

Sie ist genügsam, duldend und bescheiden,
Sie zehret stets von ihrem eignen Schatz;
Ein Wirt, ein Blick gewährt für alle Freuden
Der Eitelkeit den reichlichsten Ersatz.

Durch stille Selbstzufriedenheit beglücket,
Ist sie verschwiegen, kaum dem Busenfreund
Vertraut sie, was sie kränket und entzücket;
Sie ist, indes die Afterliebe scheint.

Vor ihr entfliehen die niedrigen Begierden,
Erhabene Gedanken zeugt sie nur,
Und machet leicht der Menschheit schwerste Bürden.
Ach! was wär ohne sie die Kreatur !

Sie kennt nicht kleinen Eigennutz, sie währet
Auch dann noch oft, wann jede Hoffnung flieht,
Still wie ein Lämpchen, das sich selbst verzehret,
Und ungesehn in öden Gräbern glüht.

Ihr, die ihr zürnt, wenn diese saften Triebe
In uns erwachen, eh' ihr ihnen wehrt,
Bedenket, dass der Frühling echter Liebe
Oft schnell verblüht, und selten wiederkehrt.