Skip to main contentSkip to page footer

Des Knaben Wunderhorn

Eine Liedersammlung von Joachim von Armin und Clemens von Brentano

Die Ausgleichung

Mündlich

        Der König über Tische saß,
        Ihm dienten Fürsten, Herren,
        Viel edle Frauen schön und zart,
        So saßen sie paarweis.
        Da man das erste Essen aß,
        Da kam in hohen Ehren,
        Ein Mädchen jung, von edler Art,
        Also in kluger Weis.

        Den Becher, den sie schwebend hält,
        Von Golde ausgetrieben,
        Der Königin sie reicht ihn dar,
        Die Königin schenkt ein,
        Ihn vor den König liebreich stellt:
        »Das trink auf treue Liebe!«
        Da kommt ein Knab mit gelbem Haar,
        Trägt einen Mantel fein.

        Der König biethet dar sogleich
        Den Mantel weiß und eben,
        Der Königin als Ehren-Dank:
        »Wie schön wird er dir stehn!«
        Drauf will er trinken alsogleich,
        Da sprizt der Wein daneben,
        Sie will den Mantel legen an,
        Der Mantel steht nicht schön.

        Der König und die Königin
        Verwundern sich gar sehre,
        Der König sieht den Becher an,
        Den Mantel sie ablegt;
        Da fanden sie dann beyder Sinn,
        Geschrieben hell und here:
        »Nur treue Lieb draus trinken kann.«
        »Die Treu den Mantel trägt.«

        Der Königin bracht ein Zwerglein klein,
        Des Bechers Goldgemische,
        Dem König lehrt die Feye sein,
        Des Mantels alten Brauch;
        Der Schimpf soll nun auch allen seyn,
        Und Herrn und Fraun am Tische
        Versuchten auch den Becher Wein,
        Den Mantel also auch.

        Den Herren wird der Bart so naß,
        Der Mantel Fraun entstellet
        Bis auf die jüngste Fraue schön,
        Dem ältsten Herrn vertraut,
        Dem wird der weiße Bart nicht naß,
        Der Mantel leicht gesellet
        Sich jedem Bug der Fraue schön,
        Daß man treu Lieben schaut.

        Den Becher läst der König gleich
        Dem Ritter voller Treue,
        Die Königin das Mäntelein,
        Der Fraue, die ihn trug,
        Zum Zwerglein ward der Ritter gleich,
        Sein Fräulein wird zur Feye,
        Den Becher und den Mantel fein,
        Sie nahmen voller Trug.

        Sie gossen aus den Becher Wein,
        Ein Tröpflein auf den Mantel,
        Und gaben ihn der Königin,
        Den Becher leer dem König.
        Gleich trank der König daraus Wein,
        Der Königin paßt der Mantel,
        Vergnügt ward da die Königin,
        Vergnügt ward da der König.

        Nun prunkten sie noch manches Jahr,
        Mit Becher und mit Mantel,
        Und jeder Ritter trank ihn wohl,
        Er stand wohl jeder Frau.
        Doch wuchs mit jedem neuen Jahr,
        Der Flecken in dem Mantel,
        Der Becher klang wie Blech so hohl,
        Sie stellten beydes zur Schau.