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Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands

Die christliche Poesie Teil 2

Text

Der zweite, Karolingische, Sagenkreis führt uns bereits völlig aus dem streng Volksmäßigen zur Kunstdichtung und auf das eigentlich romantische Gebiet. Wir haben schon oben angegeben, was wir und unsere Zeitgenossen allgemein unter romantisch verstehen, müssen uns aber, um Verwirrung und Mißverständnisse zu vermeiden, hier zunächst gegen eine gelehrte Neuerung verwahren, wonach nur das ursprünglich Romanische romantisch genannt werden soll. Es kann uns im Grunde ziemlich [⇐564][565⇒] gleichgültig sein, woher wir das Romantische überkommen haben; es ist jedenfalls ein ganz eigentümlicher, vom klassischen Altertum wie von der nordisch-heidnischen Weltanschauung verschiedener Geist, der vorzüglich in Deutschland Aufnahme und Vertiefung erhalten hat und also wesentlich deutsch ist. Romanisch kann diese Erscheinung, trotz der verführerischen Klangähnlichkeit, schon darum nicht genannt werden, weil grade die romanischen Franzosen und Italiener sich am wenigsten dabei beteiligt haben, dieselbe vielmehr durch germanische Völker, durch die Goten in Italien und Spanien und durch die Normannen in Frankreich, ins Leben gerufen worden ist. Christlich wäre ohne Zweifel die angemessenste Bezeichnung dafür, wenn sie nicht zu allgemein wäre, indem wir, zumal in der neueren Zeit, eine Menge christlicher, ja geistlicher Gedichte besitzen, die nichts weniger als romantisch sind. Wir sehen daher, der Name romantisch mag nun alt oder von den Schlegels erfunden sein, überall keinen vernünftigen Grund, von einer Bezeichnung abzuweichen, die einmal ins Volksbewußtsein gedrungen und deren angebliche Unklarheit und Nebelhaftigkeit hier am wenigsten störend ist, da ja das Romantische selbst, nach allen Seiten ins Unendliche auslaufend, sich nirgend in feste und bestimmte Begriffsgrenzen einhegen läßt.

Die schon in grauer Vorzeit schlummernden Keime jenes romantischen Geistes aber sind vorzüglich durch die Kreuzzüge geweckt und lebendig geworden; ja, diese zweite Völkerwanderung, nicht nach den Goldgruben Kaliforniens, sondern zur Eroberung des Himmelreichs, diese ungeheuere Geistesbewegung, die wie Flut und Ebbe von unsichtbaren Himmelskräften allein regiert wird, ist schon an sich ein durchaus romantisches Weltereignis. Das ganze irdische Leben scheint plötzlich höher gerückt, andere Heldengestalten, die nur dem König aller Könige dienen mögen, schreiten mit Schwert und Fahne voran, und eine neue Welt, von der die Abendländer schon längst sehnsüchtig geträumt, steigt mit ihren Palmen, Elfen, Sagen und Geschichten märchenhaft auf. Es ist das idealisierte Abenteuer, das kühn an den Himmel geknüpfte Heldentum, der belebende Frühlingssturm des jungen Christentums, kurz: eine Zeit, die wir heutzutage als unbegreifliche Dummheit und Phantasterei in die beliebte Rumpelkammer des dickfinsteren Mittelalters werfen und deren Helden wir unbedenklich ins Irren- oder Arbeitshaus zu heilsamer Kur und Besserung verweisen würden. Wir haben gewiß von unserem Standpunkt ebenso recht als jene Zeit von dem ihrigen, es handelt sich dabei eben nur darum, welches der wahrere und höhere Standpunkt sei.

Die Kreuzzüge sind es denn auch, die auf die Dichtungen des Karolingischen Sagenkreises wesentlich influiert haben. Das Charakteristische derselben ist der Kampf für das Christentum, und dieser Kampf, obgleich im fernen Westen gegen Mauren geführt, hat durchaus die Physiognomie und Färbung der Kreuzzüge. Alles hat hier bereits ein allegorisch geistliches Gewand angelegt: Karl der Große, als der Mittelpunkt des christlichen Völkervereins, fast regungslos in majestätischer Götterruhe über dem Ganzen waltend, und um den Allgewaltigen seine zwölf Paladine gleich den zwölf Aposteln gruppiert; ja selbst Judas, wie wir sogleich sehen werden, fehlt nicht.

Am schärfsten ist diese veränderte Anschauungsweise in dem herrlichen, aber fast einzigen würdigen Repräsentanten dieses Fabelkreises, in dem Rolandsliede, ausgeprägt. Und an diesem Gedicht erkennen wir zugleich am besten, wie das an sich Unscheinbare und Unbedeutende einzig und allein durch die erhöhete Auffassung und Gesinnung gehoben wurde. Der Gegenstand ist eine historisch beglaubigte Niederlage, die Karls Heer durch einen Überfall der Ungläubigen im Jahre 778 in den Pyrenäen erlitten und wobei ein Held Hruodlandus geblieben sein soll. Aber durch welche übermächtigen Schlaglichter, die alles wunderbar beleuchten, wird dieser einfache Vorgang hier in ein wahrhaft tragisches Weltereignis verwandelt! Karl der Große ist mit seinen zwölf Heldenfürsten gegen die Heiden in Spanien gezogen. Da beschließt in dem hartbedrängten Saragossa der Heidenkönig Marsilie, sich scheinbar der Taufe zu unterwerfen, um den Kaiser zum Abzug zu bestimmen und die harmlos Abziehenden dann zu vernichten, und zu diesem Zwecke wird eine Gesandtschaft zu Karl nach Corderes abgeordnet. Prächtig ist die Schilderung des rüstigen Heldenlebens in Karls Heereslager sowie des Kaisers selbst. »Seine Augen leuchten wie der Morgenstern, so daß man ihn von ferne kannte und niemand fragen durfte, wer der Kaiser sei; niemand war ihm gleich, mit vollen Augen konnten die Gesandten ihn nicht anschauen, der leuchtende Glanz seines Antlitzes blendete sie wie die Sonne um Mittag; den Feinden war er schrecklich, den Armen heimlich, im Volkskrieg siegselig, dem Verbrecher gnädig, Gott ergeben, ein rechter Richter, der die Rechte alle kannte und sie allem Volk lehrte, wie er sie von den Engeln gelernt hatte; und mit dem Schwerte endlich war er Gottes Knecht.«

Die zwölf Fürsten des Kaisers wittern Marsilies Arglist, aber der verräterische Judas, Genelun, lauert auf eine Gelegenheit, seinen Stiefsohn Roland, den er tödlich haßt, im Einverständnis mit dem Heidenkönig zu verderben. Auf seinen Rat wird Roland mit der Hälfte Spaniens belehnt und bei seinem Einzuge mit den Seinigen in dem Tale Ronceval von einem zahllosen Heidenheer überfallen. Und diese Katastrophe ist der eigentliche Brennpunkt, der hier über das Ganze, sowie über die tiefere Bedeutung der Kreuzzüge überhaupt, sein eigentümliches Licht wirft. Von allen Seiten rettungslos umzingelt, kämpfen die christlichen Streiter gegen die stündlich wachsende Übermacht bis zum letzten Atemzuge mit ungebrochener Freudigkeit, denn sie streiten für das Gottesreich, zu dem, wie beim jüngsten Gericht, die Heldenseelen der Erschlagenen glorreich emporsteigen; und Roland, da endlich alles verloren, gibt sterbend sein Schwert Durendarte, nachdem er es vergeblich zu zertrümmern gesucht, in die Hand seines unsichtbaren Führers Jesus Christus zurück, damit es nicht durch weltlichen Kampf entweiht werde. Obgleich irdisch besiegt, ist er dennoch der Sieger in höherem Sinne, es ist das ritterliche Märtyrertum, das er errungen. Und in diesem Sinne wurde das Rolandslied häufig bei den Normannen als Schlachtlied gesungen, um den Mut durch ein erhabenes Vorbild zu beseelen.

Das Rolandslied ist allerdings deutschen Ursprungs, es gehört zu den Liedern, die, nach dem neuen Aufschwung, den das Rittertum durch die Kreuzzüge erhalten, im Frankenlande das Andenken Karls des Großen feierten und um das Jahr 1095 vom Bischof Turpin in einer lateinischen poetischen Chronik gesammelt, späterhin aber teilweise in französischer Sprache aufgezeichnet wurden, und aus einer dieser letzteren Aufzeichnungen ist das Rolandslied vom Pfaffen Konrad übertragen. Eine spätere, vielfach verstümmelnde Bearbeitung durch den Österreicher Stricker ist kaum der Rede wert.

Aus dem Karolingischen Sagen- und Liederkreise haben wir auch noch die Haimonskinder und den Wilhelm von Oranse. Allein das Gedicht von den vier Haimonskindern, das die weltliche Seite dieser Sagen, Karls Kampf mit seinen Vasallen, behandelt, hat gar keinen deutschen Bearbeiter gefunden, sondern nur eine schlechte Übersetzung aus dem Niederländischen erlitten. Wolfram von Eschenbachs Wilhelm von Oranse dagegen, meisterhaft in der Form, steht nur in mittelbarem Bezug auf die Karlssagen und ist ein unvollendetes Bruchstück geblieben. Sonst enthält es alle die großen Grundzüge des Rolandsliedes, die nach dem Himmelreich strebende Ritterschaft und den Preis dessen, der »um Gott sich in Not läßt finden, denn ihm sind die himmlischen Sänger hold, deren Ton so hell erklingt«; und auch das bedeutendere Verständnis des weiblichen Gemüts, das wir oben als ein charakteristisches Symptom der neuen christlichen Poesie bezeichneten, findet hier in den Frauengestalten der Alyze und Arabele eine glänzende Vertretung.

Auch dieser Sagenkreis aber ging, und zwar früher und rascher als die anderen, seinem Verfall entgegen. Die Kreuzzüge, die ihn hervorgerufen, haben ihn auch verdorben. Alle fremdartigen Zaubereien, Märchen und Fabeln des Orients zogen in die einfachen Geschichten von Karl dem Großen überwältigend ein und verwandelten sie allmählich in einen rein phantastischen Boden für jede willkürliche Erfindung.

Wir sahen bisher das christliche Bewußtsein, allmählich wachsend, alle bedeutenderen Dichtungen jener Zeit durchdringen. Diese religiöse Weltansicht aber kulminiert endlich in den epischen Gedichten, welche aus dem dritten Fabelkreise vom heiligen Gral und Artus und seiner Tafelrunde hervorgegangen.

Es ist für unsere Betrachtung ziemlich gleichgültig, ob diese Sage, wie Gervinus meint, eine bloß willkürliche Dichtererfindung oder, nach Vilmar, orientalischen Ursprungs sei. In der christlichen Auffassung, die wenigstens in der Poesie Jahrhunderte lang Geltung hatte, war der heilige Gral eine aus köstlichem Stein gearbeitete und im Besitz Josephs von Arimathia befindliche Schüssel, in welcher nicht nur beim letzten Abendmahle Christi Leib seinen Jüngern dargereicht, sondern auch am Kreuze das Blut des sterbenden Erlösers aufgefangen worden, und das daher große Wunderkräfte besaß, alljährlich am Karfreitage durch die heilige Hostie erneut, welche eine leuchtend weiße Taube vom Himmel brachte und in den von schwebenden Engeln oder reinen Jungfrauen getragenen Gral niederlegte. Der Gral wurde in einem waldumkränzten runden Tempel aufbewahrt, an dessen Wunderpracht und sinnreicher Konstruktion alle Glut dichterischer Phantasie sich wahrhaft erschöpft hat. Hüter aber, oder König des Grals zu sein, war der höchste Ruhm des Rittertums, denn nur ein tapferes, keusches, aller Welteitelkeit entsagendes Gemüt konnte zu dieser Ehre gelangen.

Der andere Teil dieser Sage dagegen ist notorisch britischen Ursprungs. Der fabelhafte christlich-keltische König Artus, unablässig gegen das aus Sachsen eindringende Heidentum kämpfend, hält prächtig Hof zu Kaarlleon in Wales inmitten seiner Heldengenossen, von denen die zwölf hervorragendsten um seine Tafelrunde sitzen. Die Fahrten dieser Helden, deren vorzüglichster Schauplatz der noch heut diesen Namen führende Wald von Brezilian in der Bretagne ist, sind der Gegenstand vieler britischen Erzählungen, welche, wie wir aus der neuerdings aufgefundenen Geschichte vom Peredur ersehen, nur das durchaus rohe und unkünstlerische Material sinnloser Abenteuer enthalten. Immerhin aber lag es ziemlich nah, jenen Kampf der Blüte britischer Ritterschaft um das Christentum mit dem höchsten Ziel alles Rittertums, mit dem Ringen nach dem heiligen Gral, in Verbindung zu setzen.

Dies tat der größte Dichter seiner Zeit und des Mittelalters überhaupt, Wolfram von Eschenbach, in seinem Parzival, indem er kühn jenes äußerliche Heldenleben abenteuernder Ritterschaft nur als den irdischen Gegensatz eines inneren geistigen Heldentums auffaßte. Der Grundklang dieses merkwürdigen Gedichts ist das tiefe Gefühl von der Unzulänglichkeit alles Weltruhmes, daher die Sehnsucht nach etwas Höherem und der Versuch, das Rittertum unmittelbar an das Ewige zu knüpfen. Parzival nämlich, dessen Seelengeschichte der eigentliche Gegenstand ist, wird in tiefer Abgeschiedenheit erzogen, aber von dem Glanze fröhlicher Ritter, die in blitzendem Waffenschmuck am Saum seines Waldes vorüberziehen, unwillkürlich in die Welt verlockt. Mit der Unbefangenheit jugendlichen Ungestüms stürzt er sich nun in die rauschende Flut des Weltlebens, König Artus will den tapferen Jüngling an seine Tafelrunde aufnehmen, sein ernstgestimmtes Gemüt aber strebt höher, er sucht den Gral. Ja seine einsame Wanderschaft führt ihn, scheinbar zufällig, eines Abends wirklich zu dem Tempel des heiligen Grals, dessen nächtliche Pracht sich wahrhaft geisterhaft vor dem Erstaunten auftut. Aber, noch immer in [⇐569][570⇒] irdischen Banden verstrickt, unterläßt er es mit dumpfer Gleichgültigkeit, dort nach dem ihm angetragenen Heile zu fragen, und als er am anderen Morgen erwacht, stehen die Hallen lautlos und öde, und er muß traurig wieder weiterziehn. So in lauer Halbheit vergeblich mit der Welt ringend, deren Lust und Glanz ihn doch nirgend zu befriedigen vermag, wendet sich nun Parzival verzweifelt und trotzig von Gott ab und stürmt in wüster Hast von Zweifel zu Zweifel, von Abenteuer zu Abenteuer fort. Da tritt ihm ein grauer Ritter mahnend entgegen und geleitet ihn zu dem Einsiedler Trevrizent, der den Verirrten belehrt, daß nur eine gänzliche innere Umkehr den Gral gewinnen könne. Jetzt ringt Parzival das hochmütig-verzagte Weltkind in sich gewaltig nieder, seine innere Reinigung auch äußerlich durch Kämpfe für die Sache Gottes mit dem Schwert bewährend, und zieht endlich siegreich als König in die Gralsburg ein.

Man sieht, es ist die ewig alte und neue Geschichte des inneren Menschenlebens, wie es zu allen Zeiten in erhabenen und starken Seelen sich kämpfend offenbart. Das Ganze aber mit seinem streng architektonischen Bau ist wie ein Münster, der von der breiten Grundlage irdischen Treibens zwischen sehnsüchtig emporrankenden Reben- und Blumengewinden allmählich in die feierliche Einsamkeit der höheren Luftschicht aufsteigt, wo über dem vertosenden Leben der Tiefe nur noch steinerne Heiligenbilder mahnend stehen, bis zuletzt alles sonnentrunken im Kreuze gipfelt. Der Tiefsinn und symbolische Gedankenzug erinnert häufig an Dante, noch mehr aber, trotz der ganz verschiedenen äußerlichen Form, an die Autos von Calderon, indem hier wie dort das durchgehends Allegorische in wirklichen Gestalten persönlich und lebendig wird.

Außer dem Parzival besitzen wir von Wolfram von Eschenbach leider nur noch zwei unvollendet gebliebene epische Fragmente: den Willehalm (Wilhelm von Oranse) und den Titurel. Auch das erstere, das jedoch zu der Gral- und Artussage in gar keiner Beziehung steht, bekundet wieder den gedankenvollen Ernst des Dichters in dem unverwandten Streben der Ritterschaft nach dem Himmel sowie in der tief wahren Charakterzeichnung der schönen Heidin Arabele, welche Vater, Gatten und Kinder verläßt, um Christin zu werden, dann aber vor der Schlacht um Schonung der Heiden fleht und den Christen zürnt, weil sie wähnten, sie habe nur aus menschlicher Liebe ihren [⇐570][571⇒] Göttern entsagt, »sie hätte auch dort Liebe gelassen und holde Kinder bei einem Gatten, an dem sie keine Untat gefunden; um Gottes Huld trüge sie jede Schuld und einen Teil auch um den Marquis (Willehalm)«. – Der Titurel dagegen knüpft unmittelbar an die Gralsage an. Es ist die Geschichte des alten Gralkönigs Titurel, besonders hervorleuchtend durch die noch unübertroffene Schilderung des wunderbaren Liebespaares Tschionatulander und Sigune. Hier tönt aller Nachtigallenlaut der zartesten Jugendliebe in Sigune, von welcher Tieck so schön und wahr sagt: »Gestorben, wie man sagt, sind längst Isalde und Sigune, ja, du lächelst über mich, denn sie haben wohl nie gelebt, aber das Menschengeschlecht lebt fort, und jeder Frühling und jede Liebe zündet von neuem das himmlische Feuer, und darum werden die heiligsten Tränen in allen Zeiten dem Schönsten nachgesandt, das sich nur scheinbar uns entzogen hat und aus Kinderaugen, von Jungfrauenlippen, aus Blumen und Quellen uns immer wieder mit geheimnisvollem Erinnern anblitzt und anlächelt, und darum sind auch jene Dichtergebilde belebt und unsterblich.«

Es ist indes überall dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Der Tiefsinn und die kräftige Darstellung Wolframs sind immer nur die Gabe seltener Geister und können nicht leicht zu allgemeinem Verständnis der Menge gelangen, welche das Behagen bloßer Unterhaltung, einen mäßigen Spaziergang durch ihre Küchengärten den unbequemen Höhen und großen Aussichten vorzuziehen pflegt. Und so sehen wir denn auch innerhalb dieses Sagenkreises dem Parzival eine ganze Reihe größtenteils unbedeutender Dichtungen gegenüberliegen. Wir übergehen hier die bloßen Nachahmer, den Albrecht von Scharfenberg, welcher das Wolframsche Bruchstück von Titurel zu einer langweiligen Geschichte der Tempelritterschaft des Grals in die Breite geschlagen, sowie den unbekannten Dichter des Lohengrin, wo, bei mancher Schönheit im einzelnen, Parzivals Sohn Lohengrin mit gleicher Langweiligkeit bedacht ist und nicht die geringste Familienähnlichkeit mit seinem Vater bewährt. Beide Gedichte jedoch, der sogenannte jüngere Titurel und Lohengrin, galten lange für Wolframs Werke, dessen Namen sie frech usurpiert hatten, zum Beweise, wie berühmt und dennoch unerkannt in seinem eigentlichen Geiste Wolfram gewesen. – Aber selbst bei anderen, welche die Sage selbständiger behandeln, zeigt sich der große [⇐571][572⇒] Abstand. Der bedeutendste unter ihnen ist ohne Zweifel Hartmann von der Aue. Aber in seinen beiden Gedichten, in Erek und Enite sowie in Iwein, hat er von der Gralssage nur den weltlichen Teil derselben, Königs Artus' Hofhaltung, die Wolfram als bloßen Gegensatz aufgegriffen, herauszufinden vermocht. Anstatt Wolframs einsamen Berggipfeln, seinen großen Intentionen und Weltsymbolen haben wir hier nur die sprachgewandte Liebenswürdigkeit eines frommen, friedlich gestimmten Gemüts, anstatt der himmelstürmenden Kühnheit des Rittertums nur dessen passive Tugenden: Mäßigung, Milde, Zucht und feine gesellschaftliche Sitte, die wir loben müssen, ohne davon ergriffen zu werden.

Man sieht wohl, Hartmanns Rittermoral war leichter nachzumachen als der Parzival, König Artus' Tafelrunde allgemein faßlicher als die Gralsburg. Und so wurden denn auch in der Tat nach Wolframs Zeiten fast alle Helden dieser Tafelrunde poetisch, oder vielmehr unpoetisch genug, einzeln verarbeitet, teils als Nachahmung Hartmanns, wie der Wigalois des Wirnt von Grafenberg, teils bloß roh und stoffartig allen Abenteuerwust der alten britischen Erzählungen zusammenfegend, wie im Lanzelot vom See von Ulrich von Zatzikhofen, im Wigamur und Gauriel von Muntabel.

Wo irgend der religiöse Glaube wahrhaft lebendig das Innerste eines Volkes durchdrungen, wird er sich nicht mit der kirchlichen Devotion begnügen, sondern, wie die Seele den Leib, zugleich die ganze Physiognomie der Lebenseinrichtungen bestimmen und vor allem seine Liebe, Sehnsucht, Furcht und Hoffnungen auch in der Poesie, die ja überall der Spiegel des nationalen Seelenlebens ist, künstlerisch darzustellen streben. Wir sahen im Parzival das Rittertum mitten aus dem wilden Gestein der vorchristlichen Sage, durch die es seine Wurzeln getrieben, plötzlich wie eine Eiche emporpfeilern und mit Ästen und Zweigen geheimnisvoll rauschend in den Himmel greifen. Es ist der ernste Geist der neuen Zeit, den Wolfram, wie kein anderer vor und nach ihm, erkannt und hieroglyphisch anzudeuten gewagt hat. Das alte, rauhe, noch halbheidnische Heldentum der übermütigen Kraft, der Habgier, des Hasses und der Rache verwandelt sich in einen Heroismus der Selbstbezwingung, Entsagung und himmlischen Minne. Derselbe Geist, der sich in dem Klosterleben [⇐572][573⇒] zeigt, welchem grade die kräftigsten Gemüter zu strenger Buße oder in lebendiger Erkenntnis der Armseligkeit des Irdischen sich zuwandten, der die geistlichen Ritterorden geschaffen und in dem idealen Kampfe der Kreuzzüge ganze Nationen gleichsam zu einem großen Ritterorden vereinte, erscheint nun auch in der Poesie als Legende.

Unter der großen Menge legendarischer Dichtungen jener Zeit kann man füglich, nach Inhalt und Zeitfolge, mehrere einzelne Gruppen unterscheiden, die sich aber freilich, da allen die unwandelbare Überzeugung von der bergeversetzenden Wunderkraft des rechten Glaubens zum Grunde liegt, nicht kompendienartig und haarscharf voneinander abgrenzen lassen. Den Anfang machen die apokryphischen Geschichten von der Jugend Christi und der heiligen Jungfrau. Dann, organisch aus diesen sich fortbildend, folgen die Gedichte von den einzelnen Heiligen und Märtyrern; und endlich, in immer weiteren Kreisen auslaufend, die das Kirchliche mit dem Weltlichen vermittelnden geistlichen Erzählungen. Es wird hier genügen, bei jeder Gruppe nur die bedeutendsten Werke zu nennen und wenigstens einige davon mit kurzen Worten näher zu bezeichnen, um Gedanken und Darstellungsweise anschaulicher zu machen.

Die apokryphischen Geschichten stehen dem eigentlichen Mittelpunkte aller dieser Gruppen, dem Evangelium, noch am nächsten. Sie bilden miniaturartig gleichsam die bunt ausgemalten Initialien zu den Evangelien und sind in ihrer innigen Beschränkung kirchliche Idyllen, die Evangelien, wo sie die frühesten Lebensjahre Christi und seiner heiligen Mutter kaum andeuten, mit frommer Erfindung oder nach uralten christlichen Sagen liebevoll ergänzend. Solche lieblich-umhegte, einfach-herzliche Idyllen, in denen Frühlingsgrün und Himmelsbläue ineinander spielen, sind: »Die heilige Familie« von dem Kartäusermönch Bruder Philipp, und insbesondere »Die Kindheit unseres Herrn« von Konrad von Fußesbrunnen, beide aus dem 13. Jahrhundert. – Noch älter ist die von dem Tegernseer Mönch, dem Pfaffen Wernher, im Jahre 1173 gedichtete Legende von dem ersten Jugendleben der heiligen Jungfrau, mit deren Geburt »wird erlöschet der Zorn über die Unwürdigkeit zu Gott zu gelangen, und die fleischliche Gier, da wird auch der Mensch geladen zu Gottes Tische, zu dem lebendigen Brot, das die Seele nimmt aus der Not; der Mensch [⇐573][574⇒] ward Engels Genoß; Gott die Welt da segnete und Heil vom Himmel regnete, da Gott leuchtete überall usw.« – Hierher gehört endlich auch »die goldene Schmiede« Konrads von Würzburg, und es ist ein wahrer Jubel, mit anzusehen, wie da der wackere Meister in seiner einsamen Werkstatt unermüdlich schmelzt und fügt und schmiedet und hämmert, daß wunderbare Funken überall umhersprühen, um mit Gold, Smaragden, Karfunkel und allem köstlichsten Edelgestein, das die Erde birgt, seine hohe »Himmelskaiserin« Maria würdig auszuschmücken; denn »wenn auch seine Rede auf zu Berge flöge wie ein edler Adler, über ihr Lob hinaus vermöchten die Schwingen seiner Worte ihn nicht zu tragen, und wenn man ausrechnet das Gestirn, und der Sonnen Staub und allen Sand und alles Laub vollkömmlich hat gezählet, dann erst wird ihr Preis recht gesungen!«

Aus diesem friedlichen Stilleben treten die eigentlichen Heiligen-Legenden bereits immer weiter in die Welt und ihren verworrenen Kampf heraus. Zu den ältesten Legenden dieser Gruppe gehört – außer der nach ihrer frühesten Abfassung von Karl Simrock übersetzten vom »ungenäheten Rocke Christi« – die noch in einem Bruchstücke aus dem 9. Jahrhundert vorhandene, späterhin aber von dem bereits erwähnten Dichter Hartmann von der Aue meisterhaft bearbeitete Legende vom »heiligen Georg vom Stein« sowie die wunderliche Sage »vom Pilatus«, in welcher der römische Statthalter dieses Namens mit einem deutschen grimmen Königssohne Pontus identifiziert wird, der sich nach Christi Tode wegen seines ungerechten Urteilsspruches selbst um das Leben bringt, dessen Leichnam sodann erst in die Tiber, später in die Rhone geworfen wird, aber immer wieder herausgeholt werden muß, weil er als ein böser Geist überall große Überschwemmungen verursacht, bis man ihn endlich in den See am Pilatusberge in der Schweiz versenkt, wo er liegt bis an den Jüngsten Tag, aber die bösen Wetter in den Bergen erzeugt und den See zornig aufwühlt, so oft man einen Stein hineinwirft. – In der Legende vom heiligen »Alexius« des vorhin genannten Konrad von Würzburg entsagt Alexius, der Sohn eines reichen römischen Bürgers, am Abend seines Hochzeittages der Welt und ihren Freuden, gibt den goldenen Ring seiner Braut Adriatica zurück und zieht in ärmlicher Kleidung hinaus. Nach mancherlei strengen Bußübungen und Pilgerfahrten [⇐574][575⇒] wird er zuletzt in einem Meersturm nach Rom verschlagen. Hier findet er in dem Palast seines Vaters unter der Treppe als Bettler eine Lagerstatt, von allen unerkannt, so bleich waren Antlitz und Locken durch die freiwillige Not geworden. Die Diener verhöhnen den vermeintlichen Bettler, der Vater fragt ihn nach seinem Sohne, die treue Adriatica nach ihrem Gemahl. Dort stirbt er bald darauf, nachdem er seinen Lebenslauf auf ein Pergament niedergeschrieben und dieses fest in seine Hand geschlossen hatte; im Augenblick seines Todes aber fangen alle Glocken Roms von selbst zu läuten an, und es verbreitet sich die Kunde, daß unter der Treppe des Palastes der Heilige verschieden. Nun versuchen erst der Vater, dann die beiden Kaiser Arkadius und Honorius, und endlich selbst der Papst vergeblich, das Pergament aus der erstarrten Hand des Toten zu ziehen, sie öffnet sich nur der stillweinenden Adriatica. Wunderlieblich endlich ist in der Legende von der heiligen »Elisabeth« das zarte Bild der Heiligen gleichsam von einem milden Glorienschein umgeben: wie sie während der Messe mit innerlichen Augen das göttliche Wunder schaut, dann in ihrer Gefährtin Isentrut Schoße einschlummert und im Schlafe bald lächelt und bald weint, in ihrer Sterbestunde aber unsichtbar himmlischer Gesang ertönt.

Das Wesentliche der geistlichen Erzählungen, die wir oben als die dritte legendarische Gruppe unterschieden, ist, wie bereits erwähnt, die versuchte Vermittelung oder wohl auch willkürliche Vermischung des Weltlichen mit dem Göttlichen, indem sie entweder Novelle und Profanhistorie unmittelbar an das Kirchliche anknüpfen oder ihre Geschichten, auch ohne solchen kirchlichen Boden, nur durch großartige Züge christlicher Tugenden beseelen. So ist z.B. in dem aus dem 13. Jahrhunderte herrührenden Gedichte »Heraklius« eine ziemlich zweideutige Liebesgeschichte, welche übrigens die Grundlage unserer heutigen Theater-Griseldis bildet, mit dem Feste der Kreuzeserhöhung lediglich dadurch in Verbindung gesetzt, daß Heraklius zu letzt Kaiser wird und als solcher von den Persern das von ihnen geraubte heilige Kreuz wieder erobert. – Das vortreffliche sogenannte »Annolied« (um 1170) enthält, neben dem Lebenslaufe des Erzbischofs Anno von Köln, zugleich auch eine bedeutend konfuse Profangeschichte, insbesondere des Julius Cäsar, der mit seinen »guten Helden aus dem deutschen Lande« den Pompejus [⇐575][576⇒] in die Flucht jagt. – Hiermit nahe verwandt sind die beiden beinah gleichzeitigen großen Reimchroniken: die sogenannte »Kaiserchronik« und die etwas spätere »Weltchronik« des Rudolf von Ems. Die erstere verbindet, im guten alten Stil, die Legende fast aller Heiligen ebenfalls mit einer verworrenen Profanhistorie, während in der Weltchronik die Geschichte des Alten Testaments bis auf Salomo, zugleich aber die Geschichte der heidnischen Völker sehr anmutig erzählt wird, so daß also hier das Göttliche und Weltliche schon immer weiter auseinanderfällt oder doch, fast unvermittelt, nebeneinander her läuft.

Geistlicher, obgleich ohne eigentlich kirchlichen Hintergrund, ist die andere, oben erwähnte Art christlicher Erzählungen, wie der arme Heinrich und der gute Gerhard. Im »armen Heinrich« von Hartmann von der Aue (aus den letzten Jahren des 12. Jahrhunderts) ist es die rührende Gestalt eines armen, kindlichfrommen Mädchens, die freiwillig in den Tod gehen will, um einen reichen Herrn vom Aussatz zu retten, der nach damaliger Sage nur durch das Blut einer reinen Jungfrau geheilt werden konnte. Der Kranke trägt sein Unglück nicht mit Geduld, sondern ingrimmig und unter ungestümen Verwünschungen, wird aber durch die christliche Liebe und Aufopferung der Jungfrau so erschüttert, daß er sich zu Geduld und Gottergebung wendet, sonach auch ohne Blutvergießen geheilt wird und dem frommen Mädchen endlich seine Hand reicht. – Im »guten Gerhard« des Rudolf von Ems dagegen wird Kaiser Otto der Rote, der sich selbstgefällig seiner guten Werke gegen Gott rühmt, durch das Beispiel anspruchloser Bescheidenheit eines Kölner Kaufmanns zu Demut und Buße bekehrt. – Allenfalls könnte zu diesem ganzen Kreise, wenigstens als letzter Ausläufer, auch noch die Erzählung vom »Herzog Ernst« insofern gerechnet werden, als der Held zur Sühne eines verübten Mordes einen Zug nach Jerusalem unternimmt und in diesem Gedichte dieselbe Verwirrung von historischen Personen und Zeiten sich wiederholt, die wir vorhin im Annoliede und in den Reimchroniken bemerkt haben. Außerdem aber bringt dieser abenteuerliche Ritterpilger auch noch alle phantastischen Fabeln und Wunder des Orients, wie sie in den Kreuzzügen umliefen, aus Jerusalem mit nach Hause. Denn er hat auf seiner Irrfahrt das »Schnabelvieh« der Kraniche, die eine indische Jungfrau entführt hatten, [⇐576][577⇒] geschlagen, für den König der einäugigen Arimaspen gegen die Völker der Plattfüße und Langohren gekämpft, am Magnetberg des Labbermeeres Schiffbruch gelitten und von dort, in ein Seehundsfell eingenäht, sich durch einen Greifen forttragen lassen. Man sieht, er ist der Übergang und erste Hauptanführer nach dem Lande der ungeheuerlichen Reise- und Lügenpoesie, die in ihrer Übertreibung später ins Komische umschlug und deren wir weiterhin noch besonders erwähnen werden.

Was insbesondere jene Reimchroniken wohlmeinend, aber ungeschickt und unkünstlerisch und daher vergeblich erstrebten, eine Vermittelung des Kirchlichen mit dem Weltlichen, ist in den alten Gedichten, welche speziell antike Geschichten und Sagen zum Gegenstande haben, wirklich erreicht worden. Es sind vorzüglich dreierlei Stoffe, die sie behandeln: die wunderbaren Taten und Heereszüge Alexanders des Großen, die Geschichte des Aeneas und der Trojanische Krieg. Alle diese Gedichte haben das miteinander gemein, daß sie nicht aus den klassischen Originalen, Homer oder Virgil, sondern aus mannigfach abgeleiteten Quellen und Volkssagen schöpfen, und daß alle ihre griechischen und römischen Helden in Kostüm, Physiognomie und Reden durchaus deutsch sind. Aber ganz abgesehen von diesen Äußerlichkeiten, welch ein innrer Abstand dieser Gedichte von unserer modernen Auffassung des Altertums! Während in unseren heutigen Nachbildungen das Christentum, gleichsam verlegen, geblendet und beschämt in der heidnischen Schönheit bis zur Abgötterei aufzugehen pflegt, schreitet dort der Glaube noch geharnischt und unangefochten mitten durch die schöne Fremde, die verlockenden Fernen als eine neue Provinz sich erobernd. Die alten Helden und Halbgötter müssen sich der Feuertaufe unterwerfen, und das Charakteristische jener Gedichte ist eben die Christianisierung des Antiken, eine freie Übersetzung ins Christliche.

Am leuchtendsten tritt dieser Charakter grade in dem schönsten und bedeutendsten dieser Gedichte, in dem »Alexander« des Pfaffen Lamprecht hervor. Hier haben wir, anstatt der antiken Ruhe und Selbstgenüge, das überall durchtönende Gefühl von der Vergänglichkeit aller irdischen Größe und Schönheit und daher die Wehmut, das immer weiter und höher strebende Sehnen und zuletzt die Demut, die der Kraft [⇐577][578⇒] so wohl ansteht; mit einem Wort: alle eigentümlichen Züge eines christlichen Ritters ohne Furcht und Tadel. Wie morgenkühl und taufrisch ist da in dem Briefe, in welchem Alexander seinem Lehrer Aristoteles die ihm zugestoßenen Abenteuer beschreibt, der Wunderwald geschildert, wo beim Rauschen der Wipfel zwischen rieselnden Quellen und Vogelsang hohe duftige Blumen stehen, deren halbaufgeschlossenen Knospen wunderschöne Mädchen entsteigen und ihren lieblichen Gesang mit dem der Waldvögel vermischen. Aber der Sommer gehet dahin: »die Blumen all verdarben, die schönen Mägdlein starben, ihr Laub die Bäume ließen, die Brunnen all ihr Fließen, die Vögelein ihr Singen – die Freuden all zergingen.« Man würde indes sehr irren, wenn man glaubte, daß durch solche zarte Wehmut etwa der Kraft irgend Eintrag geschieht. Vielmehr tut Alexander schon als Knabe, »wenn ihm etwas übel wider seinen Sinn fuhr, wie der Wolf tut, wenn er über seinem Raube steht«, und ficht in den späteren Kämpfen »mit grimmigem Mut, wie der zornige Bär tut, wenn ihn die Hunde bestehen, die er mit den Klauen mag fangen, an denen rächet er seinen Zorn«. Und es ist ebenso groß als wahr, wenn der Held sodann, auf die Frage, warum er als ein Sterblicher die Welt so in Bewegung setze und nicht Mäßigung lerne, den zagen Warnern zur Antwort gibt: »Uns ist von der höchsten Gewalt eingepflanzt, zu üben, welche Kraft wir erhalten haben; das Meer ist dem Winde gegeben, es aufzuwühlen.« Als aber Alexander nun bis an das Ende der Welt gekommen, erfaßt ihn auf dem höchsten Gipfel irdischer Macht der menschliche Schwindel; er will auch das Paradies haben und Zins von den englischen Chören. »Hie muget ir tumpheit horen!« ruft da der Dichter aus. Aber der Held pocht vergeblich an das Himmelstor, die Scharen der Engel beachten es nicht, und der Alte am Tore warnt ihn vor Gierigkeit, denn die Gierigkeit sei der unersättliche Schlund der Hölle. So, von der himmlischen Warnung wunderbar getroffen, kehrt Alexander um und wendet sich fortan von Kampf und Habsucht zur Demut. »Da ward ihm vergeben«, – von der ganzen eroberten Welt aber blieb ihm nichts übrig, als »Erde sieben Schuhe lang, wie dem allerärmsten Mann«.

Gedankenarm dagegen und im Grunde nur eine neutralisierende Abschwächung der antiken Größe sind die anderen bis auf uns gekommenen Gedichte dieser Gattung. Demungeachtet [⇐578][579⇒] zählen sie noch immer zu dieser Reihe, durch eine traditionelle Erbschaft christlicher Gesinnung und ritterlicher Ehrenhaftigkeit. In der »Eneit« (einer Bearbeitung von Virgils Aeneide) von Heinrich von Veldeke entschädigt wenigstens einigermaßen die Unschuld und Reinheit der irdischen Liebe in den eingeflochtenen Episoden; und Herbort von Fritzlar erklärt in seinem »liet von troje« gleich vornweg, daß er nie einen Mann loben werde, der untreu sei, und ob sich auch alle anderen Tugenden in ihm vereinten. Außerdem aber zeichnet sich die Eneit und insbesondere der »trojanische Krieg« von Konrad von Würzburg durch eine Sprach-und Reimgewandtheit und eine Anmut der Formen aus, die gewissermaßen den Übergang zur höfischen Kunstdichtung, vom alten Epos zum Minnegesange bildet.

Die Lyrik ist von aller Poesie die subjektiveste, sie geht nicht auf die gewordene Tat, wie das Epos, und nicht auf die werdende Tat, wie das Drama, sondern auf den eigentlichen tieferen Grund von beiden: auf den inneren Menschen; sie hat es mit der Stimmung und nicht mit der äußeren Manifestation dieser Stimmung zu tun. Wie das Epos die Poesie der Vergangenheit, der Sage und traditionellen Heroengeschichte, so ist die Lyrik, da sie an die Individuen gewiesen, wesentlich die Poesie der Gegenwart und folglich unruhig und wandelbar wie diese; von den Wellen der Zeit erweckt und getragen, gleichsam eine unsichtbare geheimnisvolle Äolsharfe, die von den wechselnden Lüften gespielt wird und einer wunderbaren unendlichen Modulation fähig ist. Sie ist daher auch ihrer Natur nach musikalisch und singbar, und ihr eigentliches Organ ist das Lied.

Aus dieser ihrer Eigentümlichkeit aber läßt sich die Geschichte der Lyrik leicht erklären und in wenige Hauptzüge zusammenfassen.

Sie kann nämlich hiernach nirgend den Anfang einer Nationalpoesie bilden, wo vielmehr das Epos liegt. Denn die poetische Wahrnehmung des äußerlich Gegebenen, es sei nun Mythe oder historische Tatsache, geht naturgemäß überall der subjektiven Verarbeitung dieses Gegebenen voraus, und es bedarf schon einer weiter fortgeschrittenen Zivilisation, um das Innerliche künstlerisch zu verklären. Auch sind in der Tat die ersten lyrischen Versuche aller Völker, wie namentlich die [⇐579][580⇒] Schlachtlieder der alten Deutschen, eben nur epische Fragmente und Erinnerungen an die sagenhafte Heldenzeit.

Sodann hat die Lyrik diesen idealen Zug nach dem Inneren mit dem Wesen des Christentums gemein. Daher tritt sie überall erst durch das Christentum selbständig und vorwaltend auf, während sie bei den Alten stets nur noch episodisch an das Epos oder Drama, wie eine blütenreiche Liane am Hauptstamm, angelehnt erscheint.

Als Poesie der Gegenwart mußte ferner die Lyrik immer mehr aus der klösterlichen Beschaulichkeit in das wirkliche Leben hervortreten, von der Geistlichkeit zu den Laien übergehen und grade in der reichsten Gegenwart, in der ungeheuren Bewegung und Anregung der Kreuzzüge, ihre eigentliche Blütenzeit feiern. Aber diese Poesie war eben darum nicht mehr eine halbhistorische, von Geschlecht zu Geschlecht sich forterbende Tradition, sondern individuell und persönlich geworden. Und so fiel sie denn auch sehr bald den Rittern anheim, als dem Stande, der das äußere Leben am entschiedensten bestimmte und führte. Daher kommen nun die fahrenden Sänger und Harfner allmählich in Verachtung, wir sehen fast nur adelige Dichter; ja Kaiser, Könige und Fürsten, wie Konrad IV., Heinrich VI., Friedrich II., Wenzel II. von Böhmen, Heinrich der Löwe, verschmähen es nicht, sich den zahllosen Sängern anzureihen. Da jedoch die Ritter an Bildung noch hoch über dem anderen Volke standen, so nahm bei ihnen die Poesie einen fast exklusiven höfischen Kunstcharakter an; und so entstand der Minnegesang.

Eben durch ihre subjektive Natur aber ist die Lyrik auch bei den verschiedenen Nationen, die ja in der Weltgeschichte mehr oder minder gesonderte Volksindividualitäten darstellen, verschiedener und bezeichnet jeden besonderen Volkscharakter schärfer als andere Zweige der Poesie. Ja, wir möchten sie in diesem Betracht vorzugsweise eine deutsche Kunst nennen, wegen der größeren Innigkeit, die an der Glätte des Liedes romanischer Völker nirgend recht haften will und doch der eigentliche Grundklang aller Lyrik ist. Diese Innigkeit ist allerdings, wie jedes Talent, ursprünglich eine freie Gabe Gottes, steht aber fortwährend in so lebendiger Wechselbeziehung mit der Geschichte der Nation, daß sich hier Ursache und Wirkung schwer voneinander sondern lassen. Schon das erste Auftreten der germanischen Völker mitten zwischen den [⇐580][581⇒] vom Morgenrot des Christentums wunderbar beleuchteten Trümmern der alten Welt mußte ihrer an sich ernsten Sinnesart eine tiefere, gedankenvollere Richtung geben. Ebenso wirkten weiterhin auch die Kreuzzüge hier anders ein als bei den anderen Nationalitäten. Denn die romanischen Völker – die Spanier in der Heimat, die Franzosen im Orient – streiften gleichsam im Fluge die Blüten der ersten Begeisterung, ja die letzteren gründeten im Siegesjubel neue Königreiche, die freilich ebenso rasch wieder verschwanden, als sie entstanden waren. Die späteren Kreuzzüge der Deutschen dagegen waren unglücklich und endigten tragisch mit dem Tode eines großen Kaisers. Daher drängten hier die gewaltigen Ereignisse zur Entsagung, zur Wehmut über die Vergänglichkeit aller menschlichen Größe, vom äußeren Ruhmesglanz zum Streben nach innerer Weihe.

Es ist hiernach schwer begreiflich, wie in neuerer Zeit von namhaften Literarhistorikern die fröhliche Kunst der Troubadours und Provenzalen so hoch über das deutsche Minnelied erhoben werden konnte. Offenbar hat hierbei der politische Historiker dem poetischen Urteil vorgegriffen. Allerdings glänzten die Troubadours an prächtigen Minnehöfen und bildeten selbst an den Höfen der Könige durch Lob und Tadel eine politische Macht, während die meisten deutschen Dichter in der einsamen Freiheit ihrer Berge und Burgen sangen. Allein Politik und Königshöfe sind nie und nirgend die rechte Schule der Poesie, und so mußte auch hier das, was den deutschen Sängern äußerlich fehlte, innerlich ihrem Liede zugute kommen. Der Minnegesang der Troubadours mag daher immerhin reicher, künstlicher, beweglicher und mannigfaltiger sein; der deutsche dagegen ist bei weitem intensiver, keuscher, inniger, natürlicher und gedankenvoller. Wir finden bei den Troubadours im Grunde schon alle Eigenschaften, die uns bei den heutigen Franzosen, je nach der individuellen Ansicht anwidern oder blenden: Nationaleitelkeit, maßlose Ruhmredigkeit, Frivolität, dialektische Virtuosität und sehr viel Politik. Da aber die Lyrik eben die Geschichte der Seele ist, so entscheidet hier nicht die noch so reich auf der Oberfläche glänzende Äußerlichkeit, sondern einzig die Tiefe, und diese ist ohne Zweifel auf deutscher Seite.

Der deutsche Minnegesang ist bereits öfters und treffend mit der Frühlingszeit verglichen worden, die mit ihren Blumen [⇐581][582⇒] und Vogelsang im Schimmer der ersten Jugendliebe wie eine zauberische Feeninsel unversehens auftaucht. Auch nannten die Sänger sich selbst gern Nachtigallen, und schon Gottfried von Straßburg, dessen wir weiter unten noch besonders erwähnen werden, erkannte freudig an, »daß diese Nachtigallen ihres Amtes wohl pflegten und lobwürdig ihre süße Sommerweise mit lauter Stimme sangen, das Herz mit Wonne füllten und der Welt hohen Mut gaben, die alles Reizes entblößt und sich selbst lästig wäre, wenn nicht der liebe Vogelgesang dem Menschen, dem ja nach Liebe sein Herz stand, die Freude und Wonne und die mancherlei Lust ins Gedächtnis riefe, die edle Herzen beseligt; daß es freundlichen Mut und innigliche Gedanken weckt, wenn der süße Gesang der Welt ihre Freuden zu sagen beginnt.« – Dieser Minnegesang aber war eben nur der Widerklang und poetische Ausdruck des damaligen Lebens, seinen Gegenstand bildeten fast ausschließlich dieselben geistigen Elemente, die auch das Rittertum in seiner schönsten Blüte umfaßte: Gottesdienst, unverbrüchliche Treue im Herren- und Frauendienst und endlich dieser Frauendienst selbst.

Außer mehreren Liedern, die von Kaiser und Reich und Lebensmannen handeln, besitzen wir nämlich aus jener Zeit auch viele eigentlich geistliche Lieder von den göttlichen Dingen, unter denen sich besonders die des Minnesängers Spervogel durch ungesuchte Erhabenheit auszeichnen. Ja, eine der musikalischsten Liederformen, die Leiche, ist aus der sogenannten Sequenz des Kirchengesanges entstanden; während späterhin die weltlichen Tage- oder Wächterlieder, wo der Wächter von der Zinne den kommenden Tag verkündet und die Liebenden an das Scheiden mahnt, gleichfalls geistlich umgedeutet wurden.

Den bei weitem überwiegenden Stoff des Minnegesanges aber bildete, wie schon der Name andeutet, der Frauendienst. Dieser scheint uns indes keinesweges, wie andere wollen, aus dem mit der zunehmenden Zivilisation wachsenden Bedürfnis der durch Erwerb immer mehr belästigten Männer nach häuslichem Trost und Erholung entstanden zu sein. Ja, unsere sogenannte Häuslichkeit, die sich mit dem Stilleben ihrer Krautgärten begnügt, ist grade ein rechtes Gegenspiel jenes phantastischen Kultus, wo der Rittersänger von Land zu Land schweifend und toastierend, die Dame, die er feiert, oft nicht [⇐582][583⇒] einmal von Angesicht gesehen hat. Wie hätte auch sonst grade späterhin, als die Sorge des Mannes für Haus und Hof doch offenbar immer lästiger geworden, der fromme, freudige Glaube aber gesunken war, jene Verehrung beinah in rohe Verachtung der Frauen umschlagen und der alte Frauendienst allmählich ganz in Verfall geraten können? Der Frauendienst, in seiner ersten ungetrübten Blüte, wuchs vielmehr lediglich aus der christlichen und also idealeren Auffassung der irdischen Schönheit – die Natur mit ihren Bergen, Wäldern und Vogelsang mit eingeschlossen – und aus dem daraus folgenden Gefühle der unsichtbaren Gewalt, welche die Unschuld und Reinheit dieser Schönheit, die im Weibe ihre höchste Blüte hat, über das zerfahrene Treiben und die verworrenen Leidenschaften des Mannes ausübt. Es ist, wie Gervinus richtig bemerkt, mehr die Verehrung des weiblichen Geschlechts als einzelner Frauen. Daher sehen wir diese Verehrung überall kühn an das höchste Ideal geistiger Schönheit, an die Verherrlichung der Jungfrau Maria geknüpft, als des himmlischen Symbols weiblicher Milde und Reinheit, das seinen überirdischen Glanz verklärend auf alle irdischen Frauen herniederstrahlte. Vergeblich suchen wir in allen anderen Sprachen einen Ausdruck für unsere deutsche Minne, für jene höhere Liebe, »die alle Enge und Weite umspannt; die auf Erden und im Himmel thront, die überall, nur in der Hölle nicht, gegenwärtig ist«.

Wir bemerkten schon vorhin, daß die Lyrik, als die spezifisch subjektive Poesie, sich von den Massen auf die Individuen zurückzog und natürlicherweise, namentlich im Minnegesange, eine kunstreichere Form annahm. Doch darf man sich hier die Kluft noch keineswegs so bedeutend denken, wie sie etwa in neuerer Zeit die sogenannten Gebildeten vom sogenannten Volke scheidet. Der Adel teilte noch immer das tiefe Naturgefühl des Volkes und stand im Wissen nur wenig über demselben; Wolfram von Eschenbach selbst konnte weder lesen noch schreiben. Daher sind diese ritterlichen Minnelieder noch ganz frei von aller gelehrten Prätention und Pedanterie, und wurden nicht, wie die späteren Kunstgedichte, deklamiert, »gesagt«, oder gar aufgeschrieben, sondern stets, wie das Volkslied, gesungen; und wer nicht selbst singen konnte, hielt sich sein »Singerlein«, einen Knaben oder Jüngling, der die Weise der Geliebten vorsingen mußte. Und welch [⇐583][584⇒] ein überreicher Frühling mußte das sein, der so plötzlich ganz Deutschland von einem Ende zum andern durchklungen, da wir, ungeachtet so vieles verlorengegangen, dennoch Lieder von hundertsechzig Minnesängern besitzen. Gleichwie aber die Nachtigallen sich gern und dankbar in schattenreichen Gärten niederlassen, wo ihnen liebreicher Schutz und Pflege geboten wird, so gruppierten sich auch diese Sänger sehr bald um die kleineren deutschen Höfe, unter denen besonders der des thüringischen Landgrafen Hermann und die babenbergischen Herzoge von Österreich durch ihre Kunstliebe und ungemessene Gastfreiheit gegen die Dichter sich unsterblich gemacht haben. Wie rein aber die Saiten dieser Sänger gestimmt sein mußten, zeigt schon der Umstand, daß damals die heilige Elisabeth an der Seite ihres Gemahls zu Eisenach Hof hielt, wo sie von den Flügeln dieses melodischen Gesanges zur göttlichen Minne emporgehoben ward und schwerlich einen störenden Mißklang geduldet hätte.

Ein Denkmal jener poetisch bewegten Zeit ist uns in dem Wettgesange übriggeblieben, der von einem späteren Dichter unter dem Namen des Sängerkrieges auf der Wartburg in ein Ganzes zusammengefaßt worden. Dieser Wartburgkrieg ist zwar, wenigstens in seinen hier angeführten Nebenumständen, offenbar nur sagenhaft, beruht aber, wie alle Sage, ohne Zweifel ursprünglich auf historischem Boden. Es scheint in der Tat um das Jahr 1207 ein solches poetisches Turnier auf der Wartburg stattgefunden zu haben, bei welchem Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide, Heinrich von Ofterdingen, ja sogar ein entschieden mythischer Sänger, der Ungar Klingsor, aus dem Stegreif mitgefochten haben sollen. Manches in dem Gedichte mag vielleicht aus diesem Kampfspiel noch wörtlich übernommen sein, das Ganze, wie es uns hier dargestellt wird, mit seinen rätselhaften Spitzfindigkeiten, macht jedoch einen fast wehmütigen Eindruck, als Nachklang einer großen untergegangenen Dichterzeit, die der neuere Sänger nicht mehr verstanden hat.

Zu den frühesten Minnesängern gehören, außer dem schon erwähnten Spervogel, der von Kürenberg, Walram von Gresten, Dietmar von Aist und der im Kreuzheere vor Philomelium heldenmütig gefallene Friedrich von Hausen. Auch die eigentlich erzählenden Dichter: Gottfried von Straßburg, Heinrich von Veldeke, Hartmann von der Aue und Wolfram [⇐584][585⇒] von Eschenbach mit seinen schönen Tage- und Wächterliedern, reihten sich diesem Frühlingschore an.

Der ausgezeichnetste unter ihnen aber ist Walther von der Vogelweide, dessen Gedichte von Simrock trefflich übersetzt und von Lachmann und Uhland vielfach besprochen und erläutert worden sind. Manche neuere protestantische Schriftsteller, wieder einmal die heutige Weltansicht um eine Handvoll Jahrhunderte zurückdatierend, haben ihn vergnüglich zu den Ihrigen zählen wollen. Auch hat er allerdings in seinen Gedichten oft an Papst und Geistlichkeit scharf genug gerügt, was zu rügen war, denn »sie bannten, die sie wollten, und nicht den, den sie sollten; da störte man das Gotteshaus«. Aber man übersieht eben hierbei, oder will vielmehr nicht sehen, daß er überall nur das damalige politische Treiben des römischen Hofes rügt um des Heils der Kirche willen, welcher er getreulich anhing, und ohne Zweifel gegen den neuen Protestantismus mit großer Entrüstung protestiert haben würde.

Walther steht schon darum an der Spitze jener Sänger, weil er, fern von aller konventionellen Spielerei, am entschiedensten und männlichsten die dreierlei Elemente umfaßt, die wir oben als das Charakteristische des Minnegesanges bezeichnet haben. Kein anderer sang so rein, so süß und wahr wie Walther von der ewigen Schönheit der Frauen, »wenn lieblich lacht in Lieb ihr süßer roter Mund und Pfeil' aus spielenden Augen schießen in Mannes Herzens Grund«. Dieser liebliche Frauendienst aber ruht bei ihm, wie ein Heiligenbild auf Goldgrund, auf einem tiefen religiösen Gefühle. »Da dacht ich mir viel ange (angstvoll), wie man zu Welt hier sollte leben: und keinen Rat ich konnte geben, wie man drei Dinge erwürbe, der keines nicht verdürbe. Die zwei sind Ehre und fahrendes Gut, das oft einander Schaden tut, das dritte ist Gottes Hulde, der zweien Übergulde; die wollt ich gern in einen Schrein. Ja leider, das kann nimmer sein, daß Gut und weltlich Ehre und Gottes Hulde mehre zusammen in ein Herze kommen. Stieg und Wege sind ihnen benommen, Untreue ist in der Saße (Hinterhalt), Gewalt führt auf der Straße, Friede und Recht sind sehre wund. Die drei zusammen haben kein sicheres Geleite, nur zwei, die werden ehe gesund.« – Ebenso ernst wahrt er in Lied und Tat den Herrendienst, indem er mit unwandelbarer Treue in Glück und Not zu seinen rechtmäßigen Kaisern hält. – Wie wahr und ergreifend endlich ist bei ihm die Wehmut und [⇐585][586⇒] Klage über die Vergänglichkeit der irdischen Dinge: »O weh, wohin geschwunden sind alle meine Jahr! hat mir mein Leben geträumt oder ist es wahr? Was ich je wähnte, daß es wäre, ist das icht (etwas)? Darnach hab ich geschlafen und ich weiß es nicht. Nun bin ich aufgewacht, und mir ist unbekannt, was einst vertraut mir war wie meine andre Hand. Leut und Lande, da ich von Kindheit bin erzogen, die sind mir fremd geworden, als wär es all erlogen. Die mir Gespielen waren, die sind träge und alt, und öde liegt das Feld, verhauen ist der Wald – nur daß das Wasser fließet, so wie es weiland floß –, wie ich gedenke manchen wonniglichen Tag, der mir zerronnen ist, wie in das Meer ein Schlag: Immer mehr o weh!«

Und mit dieser Klage wollen wir von jenem lieblichen Reich der Liederträume Abschied nehmen. Der Frühling ist längst verrauscht, und ein scharfer trockener Herbstwind streift über das verwandelte Land. Aber wem erwecken solche ferne Klänge, wie das Alphorn dem Schweizer, nicht noch heut ein wunderbares Heimweh nach seiner stillen harmlosen Jugendzeit, deren Erinnerung in jedem gesunden Herzen unvergänglich ist.

Die Poesie hat, wie jedes geistige Leben, ihren notwendigen Entwickelungsprozeß, der sich, weil er der natürliche ist, bei allen Völkern wiederholt. Die erste jugendlich frische, fast noch kindliche Anschauung der Welt erzeugt das Epos. Diese Anschauung, je lebendiger sie ist, weckt indes sehr bald ein nach den verschiedenen Individualitäten verschiedenes Interesse und Mitgefühl an dem großen Sagenstoff; die Poesie wird eine mehr innerliche und wesentlich lyrisch. Eine solche bloß experimentale und vorbereitende Trennung der beiden ursprünglichen Grundelemente aller Poesie kann aber nirgend von Dauer sein und strebt unablässig nach Wiederversöhnung. Und diese Vermittelung ist eben das Wesen des Dramas, wo das lyrisch Subjektive, ohne sich selbst aufzugeben, in der darzustellenden Handlung wiederum objektiv wird. Man begreift hiernach leicht, daß schon das bloße Bedürfnis solcher Vermittelung einen höheren Grad, wir möchten nicht sagen, menschlicher Bildung, sondern künstlerischer Ausbildung und Reife voraussetzt als jene Vorbereitungszeit. Daher erscheint auch das Drama, gewissermaßen Epos und Lyrik in ein Ganzes zusammenfassend, überall zuletzt. Daher hat das Mittelalter [⇐586][587⇒] eigentlich noch gar kein Drama; wohl aber schlummern in diesem großen Völkerfrühlinge schon alle verhüllten Keime dazu, welche bei den Völkern des Abendlandes das Christentum allmählich ins Leben rief, nachdem die Alten ihren künstlerischen Zyklus geschlossen hatten, und das klassische Drama in der allgemeinen Fäulnis längst in sich selbst zerfallen war.

Das Drama ist überall, bei den Alten wie bei den neueren Völkern, religiösen Ursprungs und aus dem natürlichen Bedürfnis hervorgegangen, den religiösen Kultus durch Wechselgesänge zu feiern, zu beleben und zu erläutern. Das Drama ist ferner, seiner Natur nach, in seinen ersten Anfängen durchaus tragisch, die versuchte Darstellung des Konfliktes zwischen Subjektivem und Objektivem, des unvergänglichen Kampfes der in der Menschenbrust begründeten Sehnsucht und Forderung des Ewigen und Unendlichen gegen die begrenzenden Schranken des Endlichen. Wo aber, auch vom bloß künstlerischen Standpunkt betrachtet, fände wohl die Poesie in der ganzen Weltgeschichte einen so tief tragischen Stoff als im christlichen Glauben? Was waren den Alten ihre wetterwendischen Götter mit ihren menschlichen Launen und Tücken, ihr Ajax und Hektor gegen die einzige Heldengestalt Christi, wie Er, in jenem ungeheueren Kampfe des Unendlichen mit dem Irdischen allen voranschreitend, zuletzt verkannt, verraten und von allen verlassen in furchtbarer Einsamkeit durch alle Grauen und Schrecken des Todes geht, um das arme Menschengeschlecht aus seiner uralten Knechtschaft zu befreien!

Und so ist denn diese große Welttragödie auch wirklich der Ausgangspunkt und erste Gegenstand unseres Dramas; ja die Kirche selbst vermittelte den Übergang. Es ist bekannt und von anderen bereits hinreichend nachgewiesen, wie dramatisch bald im Anfange der christliche Gottesdienst sich gestaltete. Die ganze christliche Weltansicht von Erschaffung der Welt bis zu Christus war durch korrespondierende Wechselgesänge und mimisch-plastische Darstellungen schon in der zwölfstündigen Urliturgie angedeutet, deren tiefe Symbolik, in ihre Hauptzüge zusammengedrängt, uns noch bis heute in dem heiligen Meßopfer aufbewahrt ist. Fast ebenso alt war die Sitte, während der Passionszeit die Leidensgeschichte Christi in der Kirche aus den Evangelien vorzulesen, wobei die Reden Christi von dem Priester, dagegen die Reden der Apostel, [⇐587][588⇒] des Herodes, des Pilatus, der Hohenpriester und des jüdischen Volkes von verschiedenen Personen vorgetragen wurden. Es ist aber natürlich, daß man hierbei in den Text der Evangelien, teils zur Erläuterung, teils zur Verstärkung des Eindrucks, sehr bald Versifikation, kirchliche Traditionen, ja sogar Rezitative und einzelne Gesangstücke mit einwob, während schon im 12. Jahrhundert ein Kostüm der Vortragenden und höchstwahrscheinlich auch eine Art von Aktion hinzukam. Auch diese Anfänge aber nahmen in nächster Folge denselben Gang, den wir oben bei der Legende bemerkten. Erst war Christus, seine Geburt, sein Wandel, sein Leiden und sein Sieg der einzige Gegenstand und alles streng an die Evangelien angeschlossen; später aber wurden allmählich auch einzelne Momente und Gestalten des großen Weltdramas, wie die Jungfrau Maria, die Heiligen und Märtyrer, zum Gegenstande eigener Darstellungen gemacht. So entstanden die ersten christlichen Dramen, die Mysterien; und aus ihnen – da die Aufgabe, das Übersinnliche darzustellen, nur annähernd und sinnbildlich gelöst werden kann – die wesentlich allegorischen Moralitäten, wo Feld und Wald, die einzelnen Seelenkräfte, die biblischen Gedanken, ja der Gedanke selbst, neben historischen Personen, wie eine wunderbare Hieroglyphenschrift, redend und handelnd auftraten. Und so lebenskräftig und unversehrt war damals noch der Glaube, daß es keineswegs zu Ärgernis und Störung, sondern durch den Gegensatz vielmehr nur zur Verstärkung des Eindrucks gereichte, als nach und nach auch derbe Scherze und komische Zwischenspiele eingeschoben wurden, in denen besonders ein Marktschreier, der an die zum Grabe wallenden Frauen Salben und Spezereien verkauft, und der um die falschen Silberlinge schachernde Judas die Lieblingsrollen übernehmen mußten.

Die Spur dieser geistlichen Dramen läßt sich mit Sicherheit bis in das 4. Jahrhundert verfolgen, aus welchem ein aus dem Griechischen übersetztes Passionsspiel, angeblich von dem Kirchenvater Gregor von Nazianz, bis auf uns gekommen ist. Auch aus dem 9. Jahrhundert, wo sie wahrscheinlich unter Karls des Großen geistreicher Mitwirkung allgemeiner wurden und wobei besonders der Abt Angilbert tätig war, besitzen wir noch ein lateinisches Drama in Versen über die Geburt Christi, und aus dem 10. die sechs legendarischen Moralitäten der Benediktinernonne Roswitha (Helene von [⇐588][589⇒] Rostow im Kloster Gandersheim am Harz). Im 12. Jahrhundert aber sehen wir schon in den meisten großen Städten eigene Brüderschaften zur Aufführung von Passionsspielen sich vereinigen; so in Rom die del Gonfaloni, die der Batutti in Treviso, und 1404 die Confrèrie de la Passion in Paris. Während also Mysterium und Moralität hiernach im Süden und Westen Europas, sowie in England, schon einen Zyklus stehender Vorstellungen bildeten, der sich den Festen des Kirchenjahres anschloß, scheinen sie in Deutschland erst im 14. Jahrhundert sich allgemein verbreitet zu haben. Wenigstens erhalten wir wunderlicherweise durch Eulenspiegel die früheste Andeutung davon, welche aber zugleich beweist, wie bald das geistliche Schauspiel hier national geworden, indem dort von einer solchen Vorstellung auf einem Dorfe die Rede ist. Die erste Aufführung dagegen, von der wir bestimmte Kunde haben, ist ein Spiel von den klugen und törichten Jungfrauen, welches 1322 die Predigermönche in Eisenach gaben und das den Markgrafen Friedrich von Meißen so gewaltig ergriff, daß er in tiefem Hinbrüten vom Schlage gerührt wurde.

Dem gottesdienstlichen Ursprunge und Charakter entsprach auch die ganze äußere Erscheinung dieses Schauspiels. Gleich den Liturgien, aus denen sie hervorgegangen, bestanden sie in lateinischen Rezitativen, erst später wurden zur Erklärung und Erweiterung des Bibeltextes gereimte Verse in der Landessprache eingeschoben und gesprochen. Die Schauspieler waren Geistliche, der Schauplatz die Kirchen oder, wenn diese nicht Raum genug boten, die Kirch-und Klosterhöfe. Die Bühne selbst aber hatte gewöhnlich drei Stockwerke übereinander, von denen das obere und untere Himmel und Hölle, das mittlere die Erde vorstellte. Das gesamte Personal stand oder saß im Halbkreise auf der Bühne in der jedesmaligen Tracht der Zeit, nur Gott Vater, die Engel und Apostel in priesterlichen Gewändern, Christus als Bischof. Alle intonierten vor Beginn des Schauspiels das: veni sancte spiritus, worauf der »expositor ludi«, als Heiliger oder wohl auch als der »alte Heidenmann« Virgilius, mit den nötigen Aufklärungen über Zeit, Ort und Gegenstand das Spiel eröffnete und überhaupt die Stelle des Prologs und Chorführers vertrat, während die andern, wenn die Reihe an sie kam, aus jenem Halbkreise vortraten und dann wieder dahin zurückkehrten, die Chorknaben aber die geistlichen Zwischengesänge ausführten. Die Vorstellung, [⇐589][590⇒] meist an den Nachmittagen, dauerte oft mehrere Tage (Tagewerke) und bedurfte besonders in der späteren Zeit eines sehr zahlreichen Personals; ja ein im Jahre 1498 zu Frankfurt gegebenes Passionsspiel hat nicht weniger als zweihundertfünfundsechzig Personen. Wie volksmäßig aber diese Stücke geworden, bezeugt schon der Umstand, daß sie, gleich dem alten Epos, nicht aufgeschrieben wurden, sondern als Nationalgut traditionell von Geschlecht zu Geschlecht sich forterbten. Daher sind auch, außer einigen Oster- und Heiligenspielen, grade von den gangbarsten, den Passionsspielen, bis jetzt nur drei vollständige Texte aufgefunden, während wir von anderen lediglich einige sogenannte Spielbücher besitzen, welche bloß im allgemeinen den Gang des Stückes und die Anfänge und Stichworte der Reden angeben.

So waren denn also auch auf diesem Gebiet schon früher die Fundamente zu einem kühnen Münsterbau gelegt, der alle mannigfaltigen Erscheinungen des Lebens symbolisch erfassen und sehnsüchtig bis zum Kreuze emporranken sollte. Allein der Bau blieb unvollendet, wie die meisten Münster. Nur in dem tiefernsten Spanien, das bis in die neuere Zeit für seinen Glauben ritterlich gefochten, hat das Mysterium in Calderons Autos seine künstlerische Vollendung und Verklärung erlebt. Warum es aber in Deutschland sich nicht ebenso naturgemäß fortentwickeln konnte, sondern mit seinem ersten, fast rätselhaften Rohbau abschloß, werden wir weiterhin Gelegenheit genug finden, näher nachzuweisen.