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Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands

Die neue Romantik

Kleist

So haben wir bereits aus der Mitte der Romantik vorzüglich drei bedenkliche Richtungen sich allmählich entwickeln gesehen: mit Tieck eine heimlich zersetzende Ironie; in Werners frühesten und berühmtesten Schriften die geistigen Oszillationen Novalis' zu einem wunderlichen System des Pantheismus ausgebildet, und mit Uhland endlich eine offene Rückkehr zum Protestantismus. Der Protestantismus aber, wie irgendwo geistreich bemerkt worden, hat keine gefundene Wahrheit zum Fundament, sondern nur den Willen, sie zu suchen und zu finden und mithin immer zu verneinen, daß irgendwo jene Wahrheit bereits gefunden sei. Es konnte daher nicht fehlen, die ursprüngliche Freudigkeit der Romantik löste sich fortan immer mehr wieder in die alte, spürende Unruhe auf, aus dieser Unruhe entstand der Zweifel und die Ungenüge und aus der Ungenüge jene Zerrissenheit, die zuletzt als Karikatur, ganz wider ihre Absicht, komisch wurde. Und so sehen wir sogleich in einem der besten unter ihnen, in Heinrich v. Kleist, ein großes Talent sich zwischen Hochmut und Verzweiflung an den unglücklichen Geschicken seines Vaterlandes krankhaft zu Tode arbeiten, weil er den Glaubensmut nicht mehr hatte, die Welt und ihre Erscheinungen, wie die Romantik allerdings verlangte, nur an dem Höchsten zu messen.

Diese Zerrissenheit blickt düster und dräuend aus seinem Leben sowohl als aus allen seinen Dichtungen. Sein Lebenslauf bildet eine unausgesetzte Kette von schroffen Widersprüchen und Gegensätzen, eine durchgehende Unruhe heftiger Leidenschaften, immerwährende Sprünge von frevlem Übermut zu gänzlicher Verzagtheit, wilde, phantastische Pläne, die, kaum gefaßt, wieder aufgegeben werden. Der innere Zwiespalt aber ist, wie fast immer in solchen Fällen, auch schon äußerlich als Grundthema gegeben: eine unzureichende Vorbildung zu der brennenden Begier nach wissenschaftlicher Durchbildung und Geltung. Schon in seinem fünfzehnten Jahre (er war 1776 geboren) tritt er als Junker in die Garde zu Berlin und macht als solcher den Feldzug am Rheine mit. Nach dem Frieden als Lieutenant zurückgekehrt, wird ihm die Zopfzeit des einförmigen Garnisondienstes in Potsdam unerträglich, er fordert den Abschied und beginnt, spät und nicht gehörig geschult, seine Universitäts-Studien in Frankfurt an der Oder mit allem Ungestüm eines Autodidakten. Hier will er sich erst zum simplen, nützlichen Staatsbürger ausbilden, heiraten usw.; bald aber scheint es ihm wieder gemein, sich durch ein Amt fesseln und für vielleicht ihm innerlich ganz fremde Staatszwecke als blindes Werkzeug gebrauchen zu lassen; und so verläßt er schon nach Verlauf eines Jahres wieder die Universität, um einige Zeit zwecklos in Deutschland umherzuschweifen. Von der Kantschen Philosophie um so aufgeblasener, je ungenügender er sie erfaßt zu haben scheint, beschließt er endlich, die kaum selbst erst neugewonnene Lehre den Franzosen beizubringen, und reist mit fast gänzlicher Aufopferung seines kleinen Vermögens nach Paris.

Schon damals zeigt sich, wohl nicht ohne Schuld jener halbverstandenen Philosophie, die innere Zerrüttung. Welch ein trostloser Abgrund, wenn er auf dieser Reise z.B. vom Leben sagt: »Dieses rätselhafte Ding, das wir besitzen, wir wissen nicht von wem, das uns fortführt, wir wissen nicht wohin, das unser Eigentum ist, wir wissen nicht, ob wir darüber schalten dürfen, eine Gabe, die nichts wert ist, wenn sie uns etwas wert ist, ein Ding, wie ein Widerspruch, flach und tief, öde und reich, würdig und verächtlich, vieldeutig und unergründlich, ein Ding, das jeder wegwerfen möchte, wie ein unverständiges Buch – sind wir nicht durch ein Naturgesetz gezwungen, es zu lieben? Wir müssen vor der Vernichtung beben, die doch nicht so qualvoll sein kann als oft das Dasein, und indes mancher das traurige Geschenk des Lebens beweint, muß er es durch Essen und Trinken ernähren, und die Flamme vor dem Erlöschen hüten, die ihn weder erleuchtet noch erwärmt. – Geduld! – Kann der Himmel die von seinen Menschen verlangen, da er ihnen selbst ein Herz voll Sehnsucht gab?« – Und wenige Wochen darauf schreibt er, freilich wohl nicht ohne bittere Ironie, grade das Gegenteil: »Ja tun, was der Himmel sichtbar, unzweifelhaft von uns fordert, das ist genug – Leben, solange die Brust sich hebt, genießen, was rund um uns blüht, hin und wieder etwas Gutes tun, weil das auch ein Genuß ist, arbeiten, damit man genießen und wirken könne, anderen das Leben geben, damit sie es ebenso machen und die Gattung erhalten werde – und dann sterben –, dem hat der Himmel ein Geheimnis eröffnet, der das tut und weiter nichts. – Ja, unsinnig ist es, wenn wir nicht grade für die Quadratrute leben, auf welcher, und für den Augenblick, in welchem wir uns befinden. Genießen! das ist der Preis des Lebens! Ja wahrlich, wenn wir niemals seiner froh werden, können wir nicht mit Recht den Schöpfer fragen: warum gabst du es mir? Lebensgenuß seinen Geschöpfen zu geben, das ist die Verpflichtung des Himmels; die Verpflichtung des Menschen ist, ihn zu verdienen.«

Mitten in dieser Verstimmung hatte ihn in Paris plötzlich ein Ekel und eine Verachtung vor aller Gelehrsamkeit und Wissenschaft überkommen; er wollte fortan als Bauer leben und sterben und flüchtete deshalb nach der Schweiz, wo er am Thuner See sich in die tiefste Einsamkeit vergrub. Und so gewaltsamer Ernst schien es ihm mit dieser Entsagung, daß er damals an einen Freund schreiben konnte: »Ich will mich nicht mehr übereilen. Tu ich es noch einmal, so ist es das letztemal – denn ich verachte alsdann entweder meine Seele, oder die Erde, und trenne sie.« – Demungeachtet finden wir ihn, nach einer dort überstandenen Todeskrankheit, schon im J. 1802 wieder in Weimar, und zwar in Wielands Hause, dann in Berlin, Dresden und nach mehreren fruchtlosen Versuchen, sich in Berlin als Beamter eine feste Stellung zu begründen, abermals in Paris, wo er in einem Anfall von Verzweiflung sich mit seinem besten Freunde heftig entzweite und alle seine Papiere verbrannte, darunter auch bereits zum dritten Male das Manuskript seiner Lieblingstragödie: Robert von Guiscard.

Endlich, beim Wiederausbruche des Krieges im Jahre 1809, ballt sich alles Finstere in ihm in ein einziges Gefühl, in einen fanatischen Patriotismus zusammen, noch verschärft und versäuert durch eine mehrmonatliche Gefangenschaft in Frankreich, welche die damalige Fremdherrschaft aus Mißverständnis oder instinktartiger Ahnung seiner Gesinnungen über ihn verhängt hatte. Wie tief aber Deutschlands Schmach in seine Seele schnitt, bekunden Äußerungen wie die folgende: »Wo ist der Platz, den man jetzt in der Welt einzunehmen sich bestreben könnte, im Augenblicke, wo alles seinen Platz in verwirrten Bewegungen verwechselt? Kann man auch nur den Gedanken wagen, glücklich zu sein, wenn alles in Elend darniederliegt? Ich arbeite, wie Sie wohl denken können, doch ohne Lust und Liebe zur Sache. Wenn ich die Zeitungen gelesen habe, und jetzt mit einem Herzen voll Kummer die Feder ergreife, so frage ich mich, wie Hamlet den Schauspieler, was mir Hekuba sei?« – Wie ganz verschieden ist dieser Schmerz von der gläubigen, männlichen Trauer Arnims! Kein Trost, keine Hoffnung leuchtet hier durch die sternenlose Nacht:

»Nicht der Sieg ist's, den der Deutsche fodert,Hülflos, wie er schon am Abgrund steht;Wenn der Kampf nur fackelgleich entlodert,Wert der Leiche, die zu Grabe geht.«

Nur die Rache noch blitzt und zuckt blutrot durch dieses Dunkel:

»Alle Triften, alle Stätten,Färbt mit ihren Knochen weiß;Welchen Rab und Fuchs verschmähten,Gebet ihn den Fischen preis;Dämmt den Rhein mit ihren Leichen,Laßt, gestäuft von ihrem Bein,Schäumend um die Pfalz ihn weichen,Und ihn dann die Grenze sein!Eine Lustjagd, wie wenn SchützenAuf der Spur dem Wolfe sitzen!Schlagt ihn tot! das WeltgerichtFragt euch nach den Gründen nicht!«

Und so sehen wir allmählich die wachsenden Schatten über dem unglücklichen Dichter zusammenschlagen und ein edles Gemüt von der gespenstischen Übermacht seines eigenen Ungestüms unaufhaltsam fortgetrieben bis zum Selbstmord. – Es ist bekannt, wie eine ihm befreundete Frau, die seit langer Zeit an einem unheilbaren Übel litt, ihm einst das Versprechen abgenommen, ihr einen Dienst zu leisten, wenn sie ihn fordre. Sie forderte den Tod, und er hielt Wort. Im Jahre 1810, an einem einsamen See zwischen Berlin und Potsdam erschoß er erst die Freundin und dann sich selbst. – Der Vorfall wurde damals von Aufgeregten als eine Großtat gefeiert, von andern, die nichts als ihren gewöhnlichen Novellen-Schlendrian begreifen, mit dem gemütlichen Tränenschmuck einer unglücklichen Liebe ausgeputzt. Beides der schroffen Natur des Dichters durchaus fremd und zuwider. Kleist selbst war gewiß am weitesten davon entfernt, die Tat für mehr als Notwehr gegen das Unerträgliche gelten zu lassen, und ein Liebesverhältnis zwischen ihm und seiner Todesgefährtin hat niemals stattgefunden. Das Gräßliche geschah aus stolzem Ekel an einer Zeit, die ihm des Lebens unwürdig schien, aus Verzweiflung an einer besseren Zukunft Deutschlands, deren Morgenrot doch so bald über seinem Grabe heraufdämmern sollte!

So war sein Leben und so auch seine Poesie. Ihm ward das verhängnisvolle Talent des Unglücks, die unselige Gabe, alle Dissonanzen des irdischen Daseins tiefer und herber als andere herauszufühlen, zu dem gänzlichen Unvermögen, sie harmonisch, d.h. als Ringe einer unsichtbaren, ewigen Gliederung zu begreifen; und diese Sphinx, weil er ihr uraltes Rätsel nicht zu lösen vermochte, hat ihn und seine Poesie erwürgt. Denn so vereinzelt und abgerissen von ihrem religiösen Urgrund konnten die Erscheinungen für ihn keine innere Berechtigung haben, er aber war zu stolz, um sich an einem bloßen Gaukelspiel ästhetisch zu ergötzen, und so hat er in einer in ihrer Wurzel ehrenhaften ethischen Entrüstung, so wie im Leben sich selbst, so in seinen Dichtungen Liebe, Schönheit, Freundschaft, Hohes und Niederes dem Tode geweiht.

Gleich seine erste Dichtung: »Die Familie Schroffenstein«, kündigt diesen dämonischen Krieg an. Ohne alles juvenile Schwanken des Anfängers, mit festen, scharfen Charakterzügen wird uns hier die Selbstzerstörung der düstersten aller menschlichen Leidenschaften, des Argwohns, schonungslos und systematisch vorgeführt. Zwei verwandte Familien entzweien sich wegen der scheinbaren Ermordung eines Knaben, welcher der einen Familie angehört, die, den vermeintlichen Mord der andern zuschreibend, gleich in der ersten Szene auf das heilige Abendmahl blutige Vergeltung schwört. Die Mutter des Knaben schaudert vor dem Schwur: »O Gott! wie soll ein Weib sich rächen?« Ihr Gemahl erwidert: »In Gedanken. Würge sie betend.« – Es ist der trostlose, finstre Geist der Rache, der durch das ganze Schauspiel schreitet und um ein Nichts, um eines selbstgemachten Phantomes willen Schuldige und Unschuldige in den Boden tritt.

In der »Penthesilea« dagegen hat der Dichter mit derselben verzweifelten Ungenüge am Menschenlichen das Übermenschliche, ja das Unmögliche versucht, allen Nachtigallenlaut der süßesten Liebe und allen Blutdurst des Tigers in der Brust eines Mannweibs gewaltsam zu vereinen. Was ist alle Faselei der Neueren von Emanzipation der Frauen gegen diese entsetzliche Amazonenkönigin, wie sie mit ihrem geliebten Feind Achilles bräutlich plaudert, den sie in der Feldschlacht, wo er die Betäubte zu seiner Gefangenen gemacht, besiegt zu haben glaubt, und da sie nun die Täuschung gewahrt, dem Geliebten, der selber liebentbrannt zu ihren Füßen sinken will, den Pfeil durch den Hals jagt, die Zähne, mit den Hunden um die Wette, in seine weiße Brust schlägt und dann, grauenvoll, lautlos die Leiche anstarrend, ihm in den Tod nachfolgt.

Das merkwürdigste Denkmal dieses ungestümen Geistes ist aber ohne Zweifel sein Drama: »Die Hermannsschlacht«, weil es nicht nur das bedeutende Talent des Dichters am tüchtigsten bewährt, sondern auch alle Phasen seines innern Lebensganges in das hellste Licht setzt. Bewundern müssen wir dabei zunächst die gewaltige Produktionskraft, die hier die ganze, volle Gegenwart in einer mehr als tausendjährigen Vergangenheit lebendig abzuspiegeln vermochte. Denn das Drama handelt ohne allen modernen Beischmack von der Vertreibung der Römer durch den Cheruskerfürsten Hermann und gibt doch eigentlich den getreuesten Umriß der Zustände, der Ehre und der Schmach, wie sie um das Jahr 1809 in Deutschland gewesen. So unvergänglich ist das wahrhaft Historische, der reinmenschliche Grundton, der durch alle Zeiten geht, daß ja in ähnlicher Weise z.B. auch Shakespeares Cäsar und Coriolan ebenso wahre Römer als Engländer an Elisabeths Hofe sind. – Die Hermannsschlacht veranschaulicht uns aber außerdem auch noch, wie kein anderes Werk, das eigentliche innere Tagewerk des Dichters: eine heroische Hingebung an den Zweck, den er einmal als den rechten und würdigsten erkannt, alles Edle und Große seiner Seele mit fast fieberhafter Glut auf einen einzigen Punkt, auf die Not des Vaterlandes, gerichtet; wie mit seinem innersten Herzblut ist das alles dort verzeichnet: sein Gram, seine Hoffnungen, seine Liebe und sein Zorn. Aber eben hier lauert auch schon der Dämon; es ist, als hörte man ihn überall mit kaum verhaltenem Ingrimm in die Kette beißen, und das Ganze ist, bei aller Trefflichkeit, dennoch eigentlich eine großartige Poesie des Hasses, der endlich auf einmal in blutroten Flammen aufschlägt, wo Thusnelda den ihr in Liebe arglos vertrauenden jungen Römer Ventidius betrüglich in einen grünen Zwinger verlockt, um ihn dort, anstatt der gehofften Umarmung, vor ihren Augen von einer Bärin zerreißen zu lassen.

Hüte jeder das wilde Tier in seiner Brust, daß es nicht plötzlich ausbricht und ihn selbst zerreißt! Denn das war Kleists Unglück und schwergebüßte Schuld, daß er diese, keinem Dichter fremde, dämonische Gewalt nicht bändigen konnte oder wollte, die bald unverhohlen, bald heimlichleise, und dann nur um so grauenvoller, fast durch alle seine Dichtungen geht. So steigert sich in seiner besten Erzählung »Michael Kohlhaas« mit melancholischer Virtuosität, ja mit einer eigensinnigen Konsequenz, die fast an Shylocks bekannten Prozeß erinnert, das gekränkte, tiefe Rechtsgefühl eines einfachen Roßkamms bis zum wahnsinnigen Fanatismus, der rachelustig sich und das Land in Mord und Brand stürzt. Oder wo gibt es in unserer ganzen poetischen Literatur etwas Verzweiflungsvolleres als die kleine, fast epigrammatisch-grausenhafte Erzählung vom »Bettlerweibe von Locarno«? Auch in der meisterhaften Novelle »Die Verlobung in St. Domingo« – wo die herrliche Toni von ihrem Geliebten, den sie soeben gerettet, aus eifersüchtigem Mißverständnis erschossen wird – spielt, möchten wir sagen, eine grausame Wollust des menschlichen Jammers. Und in seiner einzigen Novelle religiösen Inhalts, »Die heilige Cäcilie«, schlägt die Gewalt des religiösen Gefühls trostlos nur in spukhaften Wahnsinn aus. Selbst in dem großartigen Fragment »Robert Guiscard« ist es die Pest, die uns wie ein verhülltes Gespenst anstarrt und insgeheim schon in Guiscards Gebeinen wühlt:

»Mit weit ausgreifenden Entsetzensschritten
Geht sie durch die erschrocknen Scharen hin,
Und haucht von den geschwollnen Lippen ihnen
Des Busens Giftqualm in das Angesicht!
Zu Asche gleich, wohin ihr Fuß sich wendet,
Zerfallen Roß und Reiter hinter ihr,
Vom Freund den Freund hinweg, die Braut vom Bräut'gam,
Vom eignen Kind hinweg die Mutter schreckend!
Auf eines Hügels Rücken hingeworfen,
Aus ferner Öde jammern hört man sie,
Wo schauerliches Raubgeflügel flattert,
Und den Gewölken gleich, den Tag verfinsternd,
Auf die Hülflosen kämpfend niederrauscht!
Auch ihn ereilt, den furchtlos Trotzenden,
Zuletzt das Scheusal noch, und er erobert,
Wenn er nicht weicht, an jener Kaiserstadt
Sich nichts als einen prächt'gen Leichenstein!
Und statt des Segens unsrer Kinder setzt
Einst ihres Fluches Mißgestalt sich drauf,
Und heulend aus eherner Brust Verwünschungen
Auf den Verderber ihrer Väter hin,
Wühlt sie das silberne Gebein ihm frech
Mit hörnern Klauen aus der Erd hervor!«

Diese ethische Maßlosigkeit aber mußte hier, wie überall, auch die ästhetische Willkür, der gänzliche Mangel an religiösem Glauben sein karikiertes Widerspiel, einen poetischen Wahnglauben, zur unabweislichen Folge haben. Daher bei Kleist das immer wiederkehrende, unruhige Übergreifen von der ihm doch sonst durchaus verständlichen Naturwahrheit ins wüste phantastische Leere, die Vorliebe für das bloß Seltsame und Unerhörte, die unbezwingbare Lust, anstatt der natürlichen Grundlage religiöser Motive einen oft trivialen und widerwärtigen Aberglauben zum Angelpunkt seiner dramatischen und novellistischen Katastrophen zu machen. So wird in der »Familie Schroffenstein« der ganze, wahrhaft tragische Racheprozeß an dem kleinen Finger des strittigen Knaben auf- und abgewickelt, den ein albernes Mädchen ihm abgeschnitten und gekocht hat, um ihre Mutter vom Krebs zu heilen. Im »Käthchen von Heilbronn« ruht die Entwickelung und die rührende Zuversicht dieser wunderschönen Liebestreue auf dem Aberglauben vom Bleigießen und einem visionären Fiebertraume, und im »Prinzen von Homburg« ist wiederum ein wilder Traum des Prinzen die bewegende Seele des Ganzen. Von dem Ausgange des »Kohlhaas« aber sagt Tieck, der den Dichter und namentlich diese Erzählung, wie billig, sehr hochhält, ganz richtig: »Diese wunderbare Zigeunerin, die nachher die verstorbene Gattin des Kohlhaas ist, dieser geheimnisvolle Zettel, diese gespenstischen Gestalten, der kranke, halb wahnsinnige, am Ende in Verkleidung auftretende Kurfürst, alle diese schwachen, zum Teil charakterlosen Schilderungen, die dennoch mit der Anmaßung auftreten, daß sie höher als die vorher gezeichnete wirkliche Welt wollen gehalten werden, daß sie uns ihr geheimnisreiches Wesen, das sich in wenig genug auflöst, so teuer wie möglich verkaufen wollen, diese grauenvolle Achtung, die der Verfasser plötzlich selber vor den Geschöpfen seiner Phantasie empfindet, alles dieses erinnert an so manches schwache Produkt unserer Tage und an die gewohnten Bedürfnisse der Lesewelt, daß wir uns nicht ohne eine gewisse Wehmut davon überzeugen, daß selbst so hervorragende Autoren wie Kleist (der sonst nichts mit diesen Krankheiten des Tages gemein hat) dennoch der Zeit, die sie hervorgerufen hat, ihren Tribut abtragen müssen.«

Und so sehen wir denn bei Kleist in der Tat schon alle unheilvollen Elemente der neuesten Literatur fast spukhaft auftauchen und auf diesem dunklen Grunde die Lineamente zur modernen Poesie der Zerrissenheit, der Phantasterei und des Hasses sich leise formieren. Aber seine Zerrissenheit ist nichts Gemachtes, sondern sein eigenstes Erlebnis und Unglück, und hat daher noch die Frische der primitiven Unmittelbarkeit. Sein Schmerz und sein Groll sind wahr und wohlbegründet, er trauert nicht »um Hekuba«, sondern um die höchsten Güter des irdischen Lebens: um Vaterland, Recht und Ehre. Ein strenger Ernst macht seine Dichtungen zu wirklichen Taten, ein Ernst, von dem wir selbst noch lernen sollten in dieser Zeit, wo zwar keine Schwerter klirren wie dazumal, aber ein innerer Krieg geschäftig, wie ein heimlich fressender Erdbrand, in tausend labyrinthischen Gängen den heiligen Boden Deutschlands unterwühlt. Und wenn jener Ernst bei Kleist häufig so trostlos und grauenhaft in das Entsetzliche umschlägt, ja oft zu einer antiken, heidnischen Tugend erstarrt, so ist es nur, wir sagen es nochmals, weil ihm die höchste Kraft fehlt, das unsichtbare Banner der Poesie kühngläubig über die irdischen Dinge auf jene stille Höhe zu pflanzen, wo alles versöhnt wird. Wer aber möchte dem edlen unglücklichen Dichter sein tiefstes Mitgefühl versagen, wenn aus den nachstehenden Klängen seines »Letzten Liedes« all sein Kummer und alle Schauer seines freiwilligen Todes uns anwehen:

»Fernab am Horizont, auf Felsenriffen,Liegt der gewitterschwarze Krieg getürmt.Die Blitze zucken schon, die ungewissen,Der Wandrer sucht das Laubdach, das ihn schirmt.Und wie ein Strom, geschwellt von Regengüssen,Aus seines Ufers Bette heulend stürmt,Kommt das Verderben, mit entbundnen Wogen,Auf alles, was besteht, herangezogen.

Der alten Staaten graues PrachtgerüsteSinkt donnernd ein, von ihm hinweggespült,Wie auf der Heide Grund ein Wurmgeniste,Von einem Knaben scharrend weggewühlt;Und wo das Leben um der Menschen BrüsteIn tausend Lichtern jauchzend hat gespielt,Ist es so lautlos jetzt, wie in den Reichen,Durch die die Wellen des Kozytus schleichen.

Und ein Geschlecht, von düsterm Haar umflogen,
Tritt aus der Nacht, das keinen Namen führt,
Das, wie ein Hirngespinst der Mythologen,
Hervor aus der Erschlagnen Knochen stiert;
Das ist geboren nicht und nicht erzogen
Vom Alten, das im deutschen Land regiert,
Das läßt in Tönen, wie der Nord an Strömen,
Wenn er im Schilfrohr seufzet, sich vernehmen.

Und du, o Lied voll unnennbarer Wonnen,Das das Gefühl so wunderbar erhebt,Das, einer Himmelsurne wie entronnen,Zu den entzückten Ohren niederschwebt,Bei dessen Klang, empor ins Reich der Sonnen,Von allen Banden frei, die Seele strebt:Dich trifft der Todespfeil; die Parzen winken,Und stumm ins Grab mußt du darniedersinken.

Ein Götterkind, bekränzt, im Jugendreigen
Wirst du nicht mehr von Land zu Lande ziehn
Nicht mehr in unsre Tänze niedersteigen,
Nicht hochrot mehr bei unserm Mahl erglühn.
Und nur wo einsam unter Tannenzweigen,
Zu Leichensteinen stille Pfade fliehn,
Wird Wanderern, die bei den Toten leben,
Ein Schatten deiner Schön' entgegenschweben.

Und stärker rauscht der Sänger in die Saiten,Der Töne ganze Macht lockt er hervor,Er singt die Lust, fürs Vaterland zu streiten,Und machtlos schlägt sein Ruf an jedes Ohr,Und wie er flatternd das Panier der ZeitenSich näher pflanzen sieht, von Tor zu Tor,Schließt er sein Lied; er wünscht mit ihm zu enden,Und legt die Leier tränend aus den Händen.«