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Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands

Die Poseie der Reformation Teil 3

Text

Wir verließen oben das Drama in seinem eben begonnenen Übergange vom Geistlichen zum Weltlichen. Es ist schon bemerkt worden, daß das Drama, da es unmittelbar das Leben darzustellen sucht, auch überall am genauesten den jedesmaligen Phasen der wechselnden Bildung sich anschließt. Und so mußte das selbe denn wohl auch von dem allgemeinen Umschwunge der Reformation unter allen Dichtungsarten grade am empfindlichsten getroffen werden. Die nächste Folge war, daß das schon früher immer mehr verweltlichte sogenannte Zwischenspiel der geistlichen Darstellungen sich jetzt, als selbständige Komödie, gänzlich von dem Mysterium lossagte. So aus seinem ursprünglichen Zusammenhange und Bedeutung herausgerissen, suchte es nun eine Zeitlang ungewiß und schwankend einen neuen zeitgemäßen Inhalt. Es lag nahe, auf die reiche nationale Volks- und Heldensage zurückzugreifen. Allein diese, wie sie vom Mittelalter aufgefaßt und überliefert worden, stand damals noch in zu lebendigem Bezug zu der alten Kirche und dem Wunderglauben, um der veränderten Gesinnung zuzusagen. Die Vergangenheit war ihr verleidet, die Zukunft aber mit ihren Idealen, Wünschen und Hoffnungen noch ein völlig gestaltloses Chaos; so warf sich denn die emanzipierte Komödie ausschließlich auf die Gegenwart und wurde zum bloßen Schwank-und Fastnachtsspiele.

Das Fastnachtsspiel aber folgte rasch und ungestüm allen verworrenen Affekten dieser Gegenwart, teils brutal verwildernd, wie jene Zeit überhaupt, teils in wütendem Haß gegen die alte Kirche gerichtet. Zwei Nürnberger Hänse: der Wappenmaler Hans Rosenplüt und der Barbier Hans Folz, taten sich besonders als Ritter dieser Brettermuse hervor, und es ist fast unglaublich, welcher Wust von Roheit und Unfläterei da plötzlich von siegestrunkenen Magistern, Rektoren und Kantoren in plumpen Knittelversen zusammengereimt wurde. Neubauer in seinem »Pammachius« läßt den Papst sich gegen die dreifache Krone dem Teufel verschreiben, während Christus die Wahrheit und den Apostel Paulus an die Elbe zu Luther in die Lehre schickt, um gegen Rom und die Jesuwider zu kämpfen. In Nikolaus Manuels »sterbender Beicht« ist die Beichte, aus Ärger darüber, daß die Messe in Deutschland verklagt worden, an der schweinenden Sucht und Etica erkrankt, und da der Doktor nach dem heiligen Öl schreit, hat der Küster seine Schuhe damit gesalbt usw.

Aus diesem Pöbelgetümmel ragt der Nürnberger Schuster Hans Sachs (1494–1576) hoch und einsam hervor, mehr durch seinen vornehmen Charakter im besten Sinne als durch seine poetischen Leistungen. In seinen zahllosen Werken und Werkchen (er hinterließ, fast wie der Spanier Lope de Vega, weit über tausend Stück) spiegelt, echt dramatisch, sich der ganze geistige Inhalt seiner verhängnisvollen Zeit: die neue Opposition gegen die alte Kirche, der allmähliche Übergang der religiösen Bewegung ins Politische und endlich die Richtung auf die Wirklichkeit und das alltägliche Privatleben.

Er debütierte 1523 mit seiner berühmten »Wittenberger Nachtigall« und 1527 mit einer Schrift gegen das Papsttum (Eine wunderliche Weissagung von dem Babstumb usw.), welche ihm wegen der darin enthaltenen Beleidigungen gegen Kaiser und Papst eine ernstliche Rüge des Rates von Nürnberg zuzog, mit dem Befehl, »daß er seines Handwerks und Schuhmachens warte und sich enthalte, einig Büchlein oder Reimen hinfüro ausgehen zu lassen«. Hans Sachs wußte jedoch besser als der Rat, was seines Amtes sei; er fuhr unbeirrt fort, zu schreiben und gegen die Kirche zu polemisieren. Aber das grobe und lügenhafte Parteigezänk widerte seine edlere Natur an; seine religiöse Polemik ist überall würdig, gemäßigt und gerecht, soweit das letztere damals überhaupt irgend möglich war. Ja, es erging ihm in dieser ungeheuren Verwirrung fast wie dem ehrlichen Simplicissimus; er fühlt sich, wie er selbst sagt, »beständig von dreierlei Partei umtrieben: erstlich von den Maulchristen, darnach von den Romanisten und von den Religiosen, sind eines Tuchs drei Hosen, die er nicht ziehen kann.«

Späterhin aber sehen wir ihn ebenso rüstig dem allgemeinen Zuge des Zeitgeistes von der Religion zur Politik folgen. Und hier vor allem, namentlich in seinen Kampfgesprächen, zeigt sich sein geistig vornehmes Wesen über den wüsten Lärm der Parteien erhaben und als ein wahres Gegenbild des unruhigen, fanatisch revolutionierenden Hutten, indem er es wagt, die ethische Seite der Politik herauszugreifen und die Rettung Deutschlands einzig auf Bürgertugend und ehrlichen Gemeinsinn zu stellen.

Zuletzt endlich zieht er in seinen eigentlichen Fastnachtsspielen sich gänzlich in das Privatleben, auf Kirchweihen, Jahrmärkte, Bierstuben, unter Bauern und Handwerker zurück. Aber das Gemeine, weit entfernt, ihn zu sich hinabzuziehen, wird vielmehr von ihm an sein sittliches und künstlerisches Richtmaß heraufgehoben. Ein ironischer Duft und unschuldiger Mutwille schwebt über dem derbplastischen Treiben: man fühlt, hier ist er bequem zu Hause und durchaus liebenswürdig. – Außerdem zwar führte ihn sein gesunder poetischer Instinkt auch im Drama noch häufig zu edleren und höheren Stoffen. Er hat viele Schauspiele nicht nur aus dem Alten und Neuen Testament, sondern auch aus der Geschichte, aus gleichzeitigen Novellen und aus den Romanen und Volksbüchern von Siegfried, Magelone, Artus, Tristan usw. Allein diesen »ernsten Historien« war, wie wir schon oben bemerkt, die ganze Anschauungsweise dieser Zeit und folglich auch ihr getreuester Sohn Hans Sachs nicht mehr gewachsen. In seinen biblischen Dramen ist die Religion in bloße Moral und Allegorie, in seinen historischen Stücken das Heldentum ins Spießbürgerliche umgeschlagen; und überall begegnet uns mehr oder minder das hölzern Eintönige und Handwerksmäßige einer sauber und praktisch wohleingerichteten Fabrik. Überhaupt aber war das Talent und Verdienst dieses Dichters mehr negativ als wirklich produktiv. Er ist nämlich, was alles freilich für die damalige Zeit nicht hoch genug angeschlagen werden kann, nirgend gemein; er hat niemals die breite Bahn zum stolzen Gelehrtenparnaß versucht, sondern stets herzlich zum Volke gehalten; er hat endlich die schon halbvergessenen dramatischen Elemente zwar nicht erfunden, aber wiedergefunden und treulich gesammelt und gerettet; seine ganze dramatische Arbeit ist nur eine Studie und Vorbereitungsschule für das wirkliche Schauspiel. Und in dieser Beziehung hat er die größte Ähnlichkeit mit der dramatischen Dichterschule in England vor Shakespeare, nur daß diese ein junges Weltreich, Hans Sachs eine eng ummauerte Reichsstadt vor Augen hatte. Auch diesem Übelstande sollte indes bald und ganz unerwartet abgeholfen werden. Die sogenannten englischen Komödianten – von denen man nicht einmal mit Gewißheit weiß, ob sie Deutsche oder Engländer waren und ob sie deutsch oder englisch spielten – durchzogen unter ungeheuerem Beifallsjubel wie ein funkensprühendes Meteor ganz Deutschland vom Rhein bis zur Weichsel, mit neuen Stoffen, Formen und Kunstgestalten den dramatischen Horizont plötzlich nach allen Seiten hin ins Unermeßliche erweiternd. Der Eindruck mußte um so gewaltiger sein, da es die erste Bande Schauspieler von Profession und also dem bisherigen blöden und ungeschickten Dilettantismus der Handwerker bei weitem überlegen war. Die alte reichsbürgerliche Ehrbarkeit ist eben nicht ihr Metier, Mord und Brand das Hauptthema ihres wilden, bluttriefenden Schauspieles. Jedenfalls aber brachten sie aus England, wo die volkstümliche Komödie schon früher sich zu gestalten angefangen, mächtig anregend das ganze rohe Material des Wunderbaues mit herüber, den bald darauf Shakespeare hervorgezaubert hat.

In Deutschland fehlte leider der kühne Baumeister; es blieb alles bloßes Material. Vorzüglich zwei Dichter traten hier die wüste Erbschaft an, um sie unordentlich zu verwirtschaften. Der Prokurator und Notar Jakob Ayrer, abermals in Nürnberg, hatte sich aus dem englischen Nachlaß ganz besonders die Grausamkeit erwählt und ging, fast wie ein Trunkner, mit lauter Schauder, Blut und Schrecken dem schaugierigen Publikum verzweifelt zu Leibe. In dreißig Zeilen schneidet in seinem Servius Tullius zuerst Lucius Tarquin seiner Gattin den Hals ab und läßt sie verzappeln und vergiftet Tullia ihren Gatten. Im Kaiser Otto werden dem Conscentius Nase und Ohren abgeschnitten, dem Papst Johann die Augen ausgestochen, einer, der um die Kaiserin buhlt, wird verbrannt, einer, der sie verschmäht, hingerichtet, und der Kaiser mit ein Paar Handschuhen vergiftet; und im Mohamet schlägt der Sultan gleich anfangs seinem Bruder den Kopf ab und wundert sich,  daß seine Mutter um eine Handvoll Bluts dabei weinen mag usw. Diese kleine Probe, womit Gervinus den Vorhang lüpft, mag hinreichen, von dem unerhörten Grobianismus einen ungefähren Begriff zu geben.

Nicht so blutdürstig erweist sich der im Jahre 1613 verstorbene Herzog Heinrich Julius von Braunschweig, welchem wir schon oben beim Romane begegneten, in seinen zahlreichen Tragödien und Komödien, die er meist unter der Chiffre hibaldeha (d.i. Henricus Jul. Brunsvicensis a Luneburg. dux edidit hunc actum) hinterlassen hat. Seine dramatischen Schwänke vom Gastgeber, vom verlorenen Sohn u.a., sowie vor allem seine Komödie vom Vincentius Ladislaus Sacrapa von Mantua, bekunden ihn als einen begabteren Dichter, der wohl imstande gewesen, den aus dieser Verwirrung sich hervorarbeitenden höheren Geist zu erkennen. Überhaupt war noch keinesweges alle Hoffnung verloren. Die Anregung, die von den englischen Komödianten ausgegangen, hatte die bereits schwankende Richtung des Dramas zum Volkstümlichen, wie es schien für immer, entschieden und befestiget; ja der verständige Herzog Heinrich suchte durch die Einrichtung eines Hoftheaters in Braunschweig die Volkskomödie mit der höheren Bildung zu vermitteln und somit zum wahrhaften Nationalschauspiele zu machen, was sie in Spanien schon war. Aber zu spät! Die furchtbare Katastrophe, nach welcher alle politisch religiösen Leidenschaften schon lange hinarbeiteten, brach herein: Der Dreißigjährige Krieg vernichtete das deutsche Theater von Grund aus.

Dies wäre indes am Ende noch der geringste Schade gewesen; denn an der bisherigen Bühne war, wie wir gesehen, eben nicht sonderlich viel verloren, und ein ehrlicher Krieg stählt und kräftiget überall das Volk, das sich sonach sehr bald ein besseres Theater wieder aufgebaut hätte. Allein dieser Krieg war kein ehrlicher und hatte für Deutschland, ganz abgesehen von der materiellen Zerstörung und Verarmung, zwei eigentümlich verderbliche Folgen. Einmal nämlich war das ganze vorgeschobene Motiv des Krieges im Grunde nur eine große Lüge; die Fürsten, mit wenigen ehrenhaften Ausnahmen, kämpften nicht mehr für den Glauben, sondern um Klostergüter, Abteien und fette Bistümer, und oktroyierten leichtfertig, je nach dem wechselnden Bedürfnis, ihren Untertanen bald diese, bald jene Religion, fast wie jener Weltnarr im Simplizissimus mit Schwefel und Pech martyrisierend, wer dawider glaubte. Das alles aber hatten ihnen die armen Untertanen sehr bald abgesehen; das ganze deutsche Volk ging unter die Landsknechte, die nun, gleichviel ob unter katholischen oder protestantischen Fahnen, ebenfalls nicht für die bessere Lehre, sondern um den besseren Sold einander die Hälse brachen und martyrisierten. So entstand nach und nach eine allgemeine religiöse Gleichgültigkeit und Indifferenz. – Sodann aber wurde dieser Krieg von Fremden auf deutschem Boden geführt, und Deutschland, von dieser nachhaltigen, schwedischfranzösischen Invasion innerlich zersetzt und aufgelöst, gewöhnte sich, in schmählichem Selbstvergessen lediglich nach der Fremde auszusehen. Und so entstand die Sprachmengerei und plumpe Nachäffung, die uns so lange lächerlich gemacht.

Beide Nationalkalamitäten konnten natürlicherweise auch auf die deutsche Poesie nicht ohne Einfluß bleiben. In unserer Poesie ist fortan das religiöse Element so gut wie ausgestrichen; an die Stelle des Glaubens tritt der Aberglaube an das Ausländische. Am meisten aber mußte das Theater darunter leiden. Das Theater braucht jederzeit einen gewissen Wohlstand, behäbige Geselligkeit und äußeren Apparat; das Drama ist der Luxus der Poesie, und an Luxus konnte das bankerotte Deutschland jetzt am wenigsten denken. Als daher nun die Deutschen ihre plötzlich von den Brettern auf das wirkliche Schlachtfeld verpflanzte grausame Tragödie verblutend zu Ende gespielt hatten, war alle dramatische Tradition fast bis auf die Erinnerung erloschen, und was davon noch übriggeblieben, war wüst und verwildert, wie das Volk und seine Sprache. Das Schauspiel mußte, gleichsam stammelnd, ganz von vorn wieder anfangen und knüpfte instinktartig noch einmal an die Kirche an. Der Nürnberger Johann Klaj trug nach beendigtem Gottesdienst rezitativisch, ohne Dialog und nur zuweilen von Chören unterbrochen, Szenen aus Christi Leben vor. Aber damit war diesem Geschlechte wenig gedient, die Kirche war vernichtet und das Volk noch vom Blutdampf berauscht. Aus der halbverschütteten Wurzel schoß wüstes Gestrüppe üppig hervor; alles Unkraut der ehemaligen Komödie: schamlose Zoten, handgreifliche Späße, Prügeleien und Burzelbäume mit gelegentlichem Feuerwerk und anderem Schaugepränge; das alles filzte sich überwuchernd zu dem sogenannten »Mordspektakel« zusammen, eine neue Ausgeburt des Krieges. Der grobianische Gesell und Gumpelmann betrat die Bühne, daß die Bretter krachten; der Hanswurst hatte alle Helden überlebt.

Da erbosten sich, wie billig, die Gelehrten über diese Pöbelwirtschaft und spitzten voll Verachtung die Federn, um die Sache aus ihren griechischen und lateinischen Kompendien gründlich zurechtzumachen. Wir übergehen hier, als gar nicht zur Poesie gehörig, die Flut von Schulkomödien biblischen, historischen und antiquarischen Inhalts, welche von protestantischen Pastoren, Rektoren und Kantoren abgefaßt und von Studenten, meist in lateinischer Sprache, pflichtschuldigst gespielt wurden. Das wesentlich noch immer geistliche Schauspiel war also aus der Kirche in die akademischen Hörsäle, Rathäuser und Schützenhöfe verlegt, und an die Stelle der leitenden Geistlichen traten die Professoren. Ihre Stücke sind indes eben nur dramatische Schulexerzitien und von der er wachsenen Nachkommenschaft längst in den großen Makulaturkorb der Literatur geworfen. In Frankreich dagegen war zu dieser Zeit die weltberühmte Aristotelische Tragödienfabrik bereits im schönsten Flor und Gange, und von dorther holte man sich daher fortan die richtige Schablone.

Schon Opitz, der überhaupt mehr Ausländisches als Eigentümliches hat, mehr reproduzierte als erfand, lenkte auf diese Bahn hin, durch seine Übersetzungen von Sophokles' Antigone, von Senecas Trojanerinnen sowie des italienischen Schäferspieles Daphne. Durch das letztere vorzüglich verschuldete er den nachfolgenden Schwarm von Schäfereien, wo Hirten mit Haarbeutel und Hirtinnen im Reifrock, mit den Schäferromanen an Unnatur wetteifernd, galante Diskurse miteinander führen und in der Tat etwas frappant Schafmäßiges haben. Mit diesem vornehmen Idyll nahe verwandt sind die sogenannten Wirtschaften, dialogisierte Bonmots und allegorische Witze, eine Art halbimprovisierte Maskeraden, die an den Höfen von fürstlichen Personen und Kavalieren aufgeführt wurden und in denen selbst Leibniz einmal bei einer Hoffestivität zu Charlottenburg die Rolle eines marktschreierischen Quacksalbers gespielt haben soll.

Das alles waren indes nur dilettantische Versuche. Den eigentlichen Übergang vom Volke zu den Gelehrten eröffnet erst der Schlesier Andreas Gryphius (1616–1664). Er selbst steht noch ungewiß und zweifelhaft in der Mitte zwischen beiden.  Seine Lustspiele haben durchaus noch den alten volkstümlichen Klang, ja, sein Scherzspiel im schlesischen Volksdialekte, »die geliebte Dornrose«, ist eine Fastnachtsposse im allerbesten Sinn; und doch zieht er in seinem »Peter Squenz« gegen die bettelhafte Volkskomödie der Handwerker und im »Horribilicribrifax« gegen ihre grobianischen Gumpelmänner und Prahlhänse schlagend zu Felde. Umgekehrt wendet er sich in demselben Lustspiele mit ebenso scharfem Hohne in seinem karikierten Sempronius gegen die anmaßende Schulweisheit der Gelehrten, während er selbst doch in seinen Tragödien sich den Seneca zum Muster gewählt und sogar den antiken Chor eingeführt hat. In diesen Trauerspielen aber ist eigentlich der Dichter selbst die tragischste Person, wie er unablässig in finsterem Groll und Schmerz mit dem ungeheuren Unglück des Vaterlands, mit der verwilderten Sprache und den Mißgeschicken seines eigenen Lebens männlich ringt, überall das Hohe ahnend, wofür er doch nirgend den rechten Ausdruck finden kann und daher häufig auf die ausschweifendste Ungeheuerlichkeit der Rede verfällt und in steter unruhiger Hast nach den entgegengesetztesten, antiken, romantischen und modern politischen Stoffen um sich greift. Er hat einen Leo Armenius und einen Karl Stuart, einen Papinianus und eine christliche Märtyrerin Catharina von Georgien; und spricht von »rosenweißen Wangen« und von »schwefelichter Brunst der donnerharten Flamme«.

Seine zahlreichen Nachahmer hatten seinen Ernst und Schmerz vergessen und nur seine Extravaganzen sich gemerkt. Unter ihnen aber hat der Breslauer Lohenstein (1635–1683), ein guter Jurist und schlechter Dichter, wie in seinem Romane Arminius, so auch in seinen Trauerspielen wiederum den Kernschuß getan, indem er den hinterbliebenen Redeschwulst sich zum speziellen Ziele ausersehen und die vom Lebenssturm wirr durchwühlten Locken des Gryphius, als ein meisterhafter Sprachverkünstler, in eine förmliche Staats-und Allongeperücke aufkräuselte und auftürmte. Zugleich zeigt Lohenstein am deutlichsten, wie diese Gelehrten von der Geschmacklosigkeit, brutalen Roheit und Sittenlosigkeit der Pöbelkomödie, die sie zu bekämpfen meinten, nur formellunterschieden waren, ja dieselbe wo möglich noch überboten. So z.B. jubelt in seiner »Agrippina« die Buhlerin Poppäa auf der Leiche der auf des Sohnes Geheiß ermordeten Agrippina. In der »Epicharis« trinken zwar in den ersten Akten nur die Verschworenen unter greulichen Flüchen einander Blut zu, und mehrere Personen werden bloß gefoltert; dagegen geht es im vierten Akte um so wütender, und zwar auf der Bühne, ans Köpfen, Zungenausreißen und Aderzerschneiden, während die Atilla nackt bis zur Ohnmacht gepeitscht wird. Überall bilden Mord, Wollust, Notzucht und Blutschande das Hauptthema des Dichters; sehr begreiflich daher, daß die römische Kaiserzeit und die Barbarei des türkischen Hofes der eigentliche Schauplatz seiner Tragödie, Nero sein Lieblingsheld ist. Dazu kommt noch, wie in den damaligen Romanen der schwerwuchtende Ballast Von »Realien«, antiquarischer, geographischer und historischer Kuriositäten, um sich über das gemeine Volk erhaben zu zeigen. Wahrlich, der wenigstens doch natürliche Büffellaut der Pöbelkomödie ist noch unschuldiger und erträglicher, als dieser prätentiöse Kannibalismus. Der Abgott seiner gelehrten Zeitgenossen aber, ja unsterblich, wurde Lohenstein vorzüglich durch seinen abenteuerlich forcierten Wortschwall. Und in diesem Fache hat er in der Tat so Unerhörtes geleistet, daß man es selber nachlesen muß, um es zu glauben. So heißt es z.B. in seiner Tragödie Agrippina:

»Megära: Erzmörder! Wie die blut'gen Striemen, Die meine Schlangenrute schlägt, Orestens schwarzen Nacken blümen, Weil er die Mutter hat erlegt, So soll auch dich (Nero) mit zehnmal ärgern Schmerzen Die Peitsche röten, Glut und Schwefel schwärzen. Tisiphone: Kommt Schwestern, helft mir Ruten binden, Kommt, leiht mir euer nattricht Haar, Helft Harz vom Phlegeton anzünden, Reicht Schwefel, Pech und Zunder dar. Entblößet ihn, braucht Fackel, Flamm und Rute, Bis sich der Brand lösch in des Mörders Blute.«

Und sein Drama Ibrahim Bassa wird durch folgenden Monolog der Asia eröffnet:

»Wehe! weh! mir Asien! ach! weh!
Weh mir! ach! wo ich mich vermaledeien,
Wo ich bei dieser Schwermutssee,
Bei so viel Ach selbst mein betränt Gesicht verspeien,
Wo ich mich selbst mit Heulen und Zeter-Rufen
Durch strengen Urteilsspruch verdammen kann!
So nimm dies lechzend Ach, bestürzter Abgrund an!
Bestürzter Abgrund! O die Glieder triefen
Voll Angstschweiß! Ach des Achs! Der laue Brunn
Der dürren Adern schwellt den Jäscht der Purpur-Flut!
Mein Blutschaum schreibt mein Elend in den Sand!«

 

Dieser pomphafte Parademarsch aber war denn doch zu lächerlich steif und pedantisch, um nicht endlich einen Gegenstoß hervorzurufen. Der Führer der Revolte ist derselbe Christian Weise (1642–1708), den wir schon oben beim Roman in gleichem Kampfe angetroffen, ein wackerer Mann von gesunder Einsicht und den besten Intentionen. Auch hier wollte er, wie Lope de Vega in seiner berühmten arte nuevo de hacer comedias, nach Aristoteles, antiker Form und allem Regelzwang nicht fragen, sondern »bei seiner Freiheit bleiben, an der Einfalt seine Lust behalten, die der Natur am nächsten komme, und jede Person nach ihrem Naturell reden lassen«. Und mit dieser einfachen Beschwörungsformel trat er aller Karikatur der Gelehrten, der komischen wie der tragischen, ihren bebänderten Schäfern und breitmäuligen Helden, herzhaft entgegen und florierte hiernach natürlicherweise zumeist im Lustspiel und in der Posse, machte aber auch im Trauerspiel wie Shakespeare, das Komische geltend. Er hatte gewiß überall vollkommen recht, nur leider nicht die erforderliche Kraft, sein gutes Recht gebührlich durchzusetzen. Denn das bloß »Naturelle«, worauf er zurückging, hat noch nirgend die Unnatur bezwungen; und zudem war dieses Naturelle grade damals in Deutschland unglücklicherweise nicht mehr poetisch, was es zu Lopes Zeiten in Spanien allerdings noch gewesen. Weise geriet daher in seinen Komödien, die durchaus nur »eine akkurate Vorstellung einer Begebenheit« sein sollten, unwillkürlich immer mehr in das andere Extrem, von den sublimen Helden unter gemeine Wäscherinnen, Bauern und Handwerksburschen, aus dem Tempel in die Schenke, und verbannte unnützerweise den Vers, wovor sich Lope wohl gehütet hatte.

Inzwischen hatte, wie wir gesehen, Klaj durch seine Deklamation die modernen Kantaten und Oratorien eingeleitet, die Schäfereien mit ihren eingestreuten Arien und Rezitativen waren, seitdem Peri Opitzens Daphne komponiert, fast schon wirkliche Singspiele geworden, die Tragödien in lauter Schall und Knall, die Volkskomödien in wüstem Schaugepränge aufgegangen; als endlich Weise allen Regelnzwang aufhob und somit dem Dilettantismus die willkommne Freiheit gab, alle diese Elemente, deren jedes für sich bereits zu langweilen anfing, lustig durcheinander zu mischen. So kam es, daß nun Christliches und Heidnisches, Pathos und Pickelhäring, Oratorium und Zote, Prozession und Ballett in ein neues dramatisches Monstrum: in die Oper, diesen auf Noten gesetzten Gesamtunsinn des Zeitalters, unaufhaltsam zusammenschoß. Christian Dedekind, den seine Freunde Christi Dudelkind nennen, schrieb für den Kapellmeister Bernhard in Dresden Opern geistlichen Inhalts, wo Apoll und Pythia an der Krippe des Christkindes vorkommen. In seinem sterbenden Jesus erhängt sich Judas auf der Bühne, während der Satan dazu als Echo singt; und als sodann Judas am Stricke zerplatzt, rafft Satan seine Eingeweide in einen Korb zusammen und singt abermals eine Arie dazu, während eine andere Arie des über die Verkündigung der Morgenländer zornigen Herodes beginnt:

»Donner und Hagel, Hammer und Nagel,schmiedendes Eisen, stechende Spitzen, Mäßer zum Schlitzen will ich dir weisen« usw.

In Bostels »Mustapha« marschieren deutsche, tatarische, polnische und türkische Armeen in Kostüm auf; in der Oper »Semiramis« werden alte Damen in feuerspeiende Lanzen verwandelt, und im »Jason« steigt das Schiff Argo singend zum Himmel, wo es in einen Stern verwandelt wird. Aber auch die Wucht der Gelehrsamkeit durfte nicht fehlen; neben grunzenden Bären und anderen Ungeheuern wurden Staatsmaximen, Mandate und Schulmoral in Arien abgesungen, ja es gab Opern über Bierbrauen und Schlächterei.

Kein Wunder daher, daß endlich die Theologen donnernd dazwischenfuhren und namentlich in Hamburg ein wütender Pamphletenkampf für und wider die Oper entbrannte. Allein die geistlichen Bannstrahlen wollten nirgend mehr zünden, das damalige Opernfieber scheint ebenso epidemisch gewesen zu sein als das heutige. Denn selbst die Universitäts-Fakultäten zu Wittenberg und Rostock entschieden jenen Streit zugunsten der Oper. Ihr zuliebe wurde in Dresden das erste stehende Theater gegründet; Leipzig, Nürnberg und Hamburg, wo die Seitenszenen neununddreißigmal, die Mittelszenen einige hundertmal verändert werden konnten, folgten dem Beispiele, in Wien kostete jede einzelne Oper an 60000 Gulden, und um 1700 zählte man bereits zehn Opern auf ein Schauspiel. Doch zogen sich sehr bald die besten, Postel und Hunold, aus moralischen Rücksichten von den Operntexten auf Epos und geistliche Dichtung, Sebastian Bach und Händel, nachdem sie eine ganze Reihe längst vergessener Opern komponiert, auf die Kirchenmusik zurück, und Feind, selbst einer der rüstigsten Operndichter, mußte zuletzt eingestehen, daß nach dem Geschmack der Welt Opern aufzuführen, ebenso pläsierlich als schwer, ebenso rühmlich als tadelhaft, ebenso schön als ärgerlich und in den meisten hamburgischen Opern etwas wider Anstand und christliche Sitte sei.

Mit diesem Gange des Dramas mußte natürlich auch die Schauspielkunst gleichen Schritt halten, deren Aufgabe ja nicht die Komposition, sondern eben nur die Virtuosität ist, das von den Poeten Erfundene treu und geistreich abzuspielen. Als daher die Gelehrten feierlich in Reih und Glied traten, machten auch sofort die Schauspieler eine gelehrte Miene und avancierten von Handwerkern zu Studenten. Veltheim, selbst ein gebildeter und sprachenkundiger Magister aus Halle, warb nämlich um 1670 ein Freikorps von Studenten, welches unter der stolzen Firma: »Berühmte Bande und kursächsische Hofkomödianten« in allen größeren Städten Deutschlands umherzog. Um vor allem ein würdigeres Repertoire zu schaffen, gab er eine prosaische Übersetzung des Moliére heraus, griff in seinen Stoffen häufig auf Corneille und den durch die Jesuitenspiele bekanntgewordenen Calderon zurück und suchte den Hanswurst, als »Kurtisan«, zum spanischen Gracioso zu veredeln. Aber der wohlgesinnte Mann wurde sehr bald von dem unaufhaltsamen »Mordspektakel« übergerannt und erfand in die ser Not das Improvisieren, um den hergebrachten Staatsaktionen, zu denen er sich nun wieder bequemen mußte, wenigstens durch gelegentliche Impromptus ein besseres Ansehn zu geben. Er bedachte hierbei nicht, daß zu dieser Art verwegenen Mitdichtens ein eigentümlicher Geist und Witz vonnöten, der den wenigsten allabendlich zu Gebot steht, und daß bei weitem die meisten Schauspieler nicht die ewige Kunst, sondern die momentane Gunst der Menge suchen. Und so ward denn grade dieses Improvisieren ein willkommener Kanal, auf dem von neuem die alte Unfläterei einzog und alle besseren Intentionen wieder durchlöcherte. Vergebens wurden dagegen die sogenannten »Dirigierbücher« eingeführt und darin Plan und Gang des Stückes sowie die Stelle und der ungefähre Inhalt der Improvisation vorgeschrieben. Jos. Stranitzky und Franz Schuch nahmen die volle unbedingte Freiheit des Stegreifspiels für ihren Hanswurst in Anspruch, der überdies in den wandernden Komödiantenbanden des Eckenberg u.a. in die schlechteste Gesellschaft, unter mitziehende Luftspringer, Seiltänzer, Taschenspieler und Zahnbrecher geraten war.

Man sieht, eine Reform war hier ebenso notwendig als schwierig, und diese Athletenarbeit nahm Gottsched (1700–66) auf seine breiten Schultern. Wir haben schon einmal bemerkt und müssen es immer wiederholen: um das Verkehrte zu bewältigen, muß man es entweder vor den Augen der Welt zu Tode lachen oder das Bessere und Rechte dagegen aufstellen. Das letztere tat Shakespeare der wilden englischen Volkskomödie gegenüber; Gottsched wollte beides und machte nur sich selber lächerlich. Es ist wahr, Gottsched hat den Lohenstein überwunden; allein das war eben nur ein Kampf der nüchternen Prosa mit der toll gewordenen Prosa. Ebenso hat er ohne Zweifel die unleidliche Theateranarchie gebrochen; aber nicht wie Shakespeare, durch selbstschöpferische Entwickelung der mit der Anarchie ringenden nationalen Freiheiten, sondern nach Tyrannenart durch Unterjochung aller Freiheit. Das Schauspiel sollte, nach ihm, eine deutsche Volksschule sein; und doch wandte er sich vornehm vom Volke ab nach Frankreich, zu den Hofdichtern Ludwigs XIV. und ihrem Zeremonienmeister Boileau, und gründete in Leipzig eine Kommandite der Pariser Tragödienfabrik, in welcher seine Frau und sämtliche Professoren, Rektoren und Schulmeister an Übersetzungen oder sogenannten Originalstücken nach Pariser Mustern im Schweiße ihres Angesichts arbeiten mußten. Was sollte denn also die beständige Grandiloquenz von Deutschheit und deutschen Originalwerken unter solchem Proletariat von Deutschfranzosen?

Mitten im schönsten Flor dieser hölzernen Poetenfabrik aber geriet der stolze Fabrikherr unverhofft in einen heftigen Streit mit den über den anmaßenden Lärm entrüsteten Schweizern, deren Führer Bodmer war; eine durchaus poetische Natur, nur leider selbst kein Dichter, der freilich hier vor allem anderen not tat. Die Reformation hatte, wie wir gesehen, der ganzen modernen Bildung zwei Hauptrichtungen gegeben: einerseits vom Übernatürlichen zur Natur, andrerseits von der Phantasie zum Verstande. Beide Richtungen aber mußten in ihren Konsequenzen sehr bald miteinander kollidieren, da die Natur immerhin etwas Mystisches und Wunderbares sich nun einmal nicht abdisputieren läßt, zu dessen Wahrnehmung der Verstand kein Organ hat. Und dieser echt protestantische Konflikt war es, der damals auf dem Felde der Literatur sich in Bodmer und Gottsched verkörpert hatte. Bodmer, der selbst ein Buch von dem Wunderbaren geschrieben, behauptet, das Wunderbare, in Verbindung mit dem Wahren, sei die Urquelle der poetischen Schönheit, indem der Dichter durch die Kraft seiner Phantasie ganz neue Wesen schafft oder wirkliche Wesen zur Würde einer höheren Natur erhebt. Er erkannte daher die Schönheit von Tasso, Ariost und Milton und war der erste, welcher die längst vergessenen Minnesänger, den Parzival und die Nibelungen wieder bekannt machte. Er wirft den deutschen Dichtern Mattherzigkeit und Trockenheit vor, »die sie durch ihre Philosophie und ihre Liebhaberei am Verstandeswesen sich erwarben, die die Lustbarkeiten der Einbildungskraft unterdrücke«.

Gottsched aber entgegnet: das sei ja eben das Preiswürdige bei der Sache! die Vernunft sei gottlob geläutert bei uns und die ausschweifende Einbildungskraft in ihre Schranken gewiesen; das habe den Fall Lohensteins bewirkt und dauerhafte Schönheiten dafür zuwege gebracht. Er spricht von den »Teufeleien des Tasso«, von den »abgeschmackten Hexereien des Shakespeare«, verwirft Oper und Kantate, »weil der Verstand dabei nichts zu denken habe«, er will, daß die tragische Schreibart stets »auf Stelzen, die komische barfuß gehe«, und weiß, in völliger Impotenz der Phantasie, die Fabel nur durch den lahmen Gelehrtenwitz zu retten, daß man voraussetzen müsse, die Bäume und Tiere, die da reden, hätten vielleicht in einer anderen Welt Verstand und Sprache. – Mit einem Wort: Bodmer verfocht volkstümlich die aufstrebende Gelehrtenrepublik; Gottsched den literarischen Absolutismus. Jener erkannte und förderte überall das strebsame Neue, eiferte für Addison, Milton, Klopstock und für »das allgemeine Recht der Menschen« im Literaturstaate, während Gottsched den französierten Aristoteles zum alleinigen Diktator ausrief und das Vermeintlich goldene Zeitalter der Poesie mit seinen Winkeldichtern Pietsch, Schönaich, Schwabe, Derschau etc. für alle Zeiten abschließen wollte. Beide aber haben eigentlich nur indirekt gewirkt; das Resultat des ganzen Kampfes war nicht eine bessere Poesie, sondern nur der erste Anstoß zu einer Kritik, die allerdings hinterher der Poesie zustatten kam; und der scharfsichtige Liscow sagte daher damals, mit verdeckter Beziehung auf Gottsched, sehr treffend: »obgleich die Esel zur Musik ungeschickt seien, so mache man doch aus ihren Knochen die schönsten Flöten, und so gäben die elenden Schriften Anlaß zu sinnreichen Widerlegungen und Spottgeschichten.«

Überhaupt aber hat Gottscheds ganzer Lebenslauf etwas durchaus Tragikomisches: wie er erst das Aufgebot seiner Schulmeister in den Krieg führt, dann – da diese sich teils invalid erwiesen, teils rebellisch zu den Bremer Beiträglern übergehen – den Kürassierlieutnant Freiherrn v. Schönaich zum Oberfeldherrn ernennt, schlauerweise Voltaire zum Sukkurs ruft und endlich durch ein Vorspiel, in welchem ihn die Neuber auf das Theater brachte, sowie durch Rosts und Pyras Spottgeschichten schmählich Krone und Zepter einbüßt. So hatte ihn die Nemesis erreicht; der Hanswurst, den er in Leipzig feierlich in den Bann getan, hatte ihm zum Valet über die stattliche Professorperücke, die so lange wie eine furchtbare Donnerwolke nach allen Seiten Blitze geschleudert, unversehens seine Schellenkappe gestülpt, welche er, ohne sie selbst zu gewahren, bis an sein Lebensende zu großem Ergötzen des Publikums mit gravitätischem Anstande trug.

Wir sagten, das Resultat des Gottsched-Bodmerschen Kampfes war nicht die bessere Poesie, sondern die Kritik. Denn Bodmer hatte nur erst eine Poesie überhaupt wieder möglich gemacht, indem er die Dichter von dem unsinnigen Regelnzwange der Gelehrten befreite und dadurch allerdings einen unberechenbaren Impuls gab, der jedoch erst bei den folgenden Generationen sich wahrhaft produktiv erweisen sollte. Gottscheds bedeutendster Schüler aber, Johann Elias Schlegel, der gewiß alles geleistet, was sich unter dem Gottschedschen Banner irgend leisten ließ, zeigt eben nur die gänzliche Unmöglichkeit dieser Schule. Seine Tragödien gehen, dem Kommando des Meisters gemäß, sämtlich »auf Stelzen, und die Lustspiele barfuß«, so daß von den letzteren Lessing sagen mußte, es herrsche darin das kälteste, langweiligste Alltagsgewäsche, das nur in dem Hause eines meißnischen Pelzhändlers vorfallen könne. Ein anderer Dichter, Christian Felix Weiße in Leipzig, trat in seiner Jugend gleichfalls getreulich in die breitspurigen Fußtapfen Gottscheds, den er jedoch später, von Lessing scharf in die Schule genommen, in seinen Lustspielen, besonders in den »verwandelten Weibern oder der Teufel ist los« und in den »Poeten nach der Mode«, verhöhnte und auf das höchste erzürnte. Dennoch kehrte er bald darauf in seinen Trauerspielen: Eduard und Richard III., Romeo und Julie, Jean Calas etc., von neuem zu Gottscheds Stelzen zurück, bis endlich sein leichtes Liedertalent im Singspiele – wovon noch manches, wie »Lottchen am Hofe«, »die Liebe auf dem Lande«, »die Jagd« etc. den ältesten Theaterfreunden erinnerlich ist – seinen eigentlichen bequemen Ausdruck gefunden und also das mächtige Bollwerk, das Gottsched mit ungeheuerem Fleiß und Haß gegen die Oper aufgetürmt hatte, wieder niederwarf.

Dagegen hatte jener Kampf unleugbar die natürliche Folge jedes rechtschaffenen Krieges: er hatte den alten Schlendrian in seiner verjährten Philisterwirtschaft gründlich gestört und ein neues Geschlecht jugendlicher Streiter erzogen, welches nun dem groben Geschütze Gottscheds gegenüber ein tüchtiges Freikorps bildete. Der besonnene Karl Christian Gärtner, Cramer und Adolf Schlegel, der Vater von A. W. und Friedrich von Schlegel, setzten im Jahre 1742 den Gottschedschen »Belustigungen des Verstandes und Witzes« ihre »Neuen Beiträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes« (von dem Verlagsorte die Bremer Beiträge genannt) entgegen, eine Zeitschrift, die bei dem Gelehrtenprozeß in Sachen der Poesie auch dem unbefangenen Urteil und Interesse der Damen Sitz und Stimme zuerkannt und in der Literatur gewissermaßen Revolution gemacht hat. Denn viele junge Sachsen, die anfangs noch zu Gottsched gehalten, seinen langweiligen Kamaschendienst aber endlich unerträglich gefunden hatten, wie Rabener, Ebert, Zachariae, Gellert und Giseke, traten jetzt zu den Bremern über; zu ihnen gesellten sich später auch: Lessing, Hagedorn, Gleim und Klopstock, und eroberten, immer weiter vordringend, mit wesentlich Bodmerschen Waffen ganz neue Provinzen, an die Bodmer selbst noch nicht zu denken gewagt. Es war in Deutschland der erste kritische Feldzug. Ohne Kritik aber konnte die Poesie, nachdem sie sich einmal mit dem Verstande so eng verbunden, nicht mehr bestehen. Und so wollen wir denn dem Federkriege Gottscheds und Bodmers, so unerheblich er an sich erscheint, seiner Nachwirkung wegen gern die wohlverdiente Ehre lassen