Skip to main contentSkip to page footer

Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands

Die Poesie der modernen Religionsphilosophie Teil 5

Aber die halb zaghaften Versuche des Pietismus, wo es das Höchste im menschlichen Leben galt, dieses unsichere Umhertasten des bloßen Gefühls nach dem Lichte, konnte zwei mächtigeren Geistern nicht genügen, die schon damals das Saatkorn einer neuen Zeit für die Nachwelt ausgeworfen; wir meinen: Lessing und Hamann.

Lessing ist, auch schon seiner Lebenszeit nach (1729–1781), hier zuerst zu nennen. Er hatte das zweischneidige Schwert der Kritik, das der Protestantismus in die Welt gelegt, mutig aufgenommen, aber nicht um des Protestantismus willen, sondern um neue Bahnen zu brechen. Denn so lose, falb und ungewiß, das fühlte er tief, durfte das deutsche Wesen nicht länger hängenbleiben; alles Halbe war ihm in den Tod verhaßt. Der Hochwächter seiner Zeit, wie ihn Gervinus nennt, klopfte er an Hütten und Paläste, rüttelte unbarmherzig Unglauben wie Aberglauben, den eigensinnigen Hochmut und die weichlichen Träumer auf und zwang die Welt, in den Dingen sich so oder so zu entscheiden. Und den gemeinen Schwindel kannte er nicht; auf den unwirtbarsten Höhen, wo anderen die Sinne vergehen, atmete er nur um so frischer auf.

Vor allem begann er damit, in der totalen Verwirrung die ungehörig verschwommenen Elemente der Bildung zu scheiden und zu ordnen. So löste er auch die Poesie aus ihren damaligen Banden französischer Altklugheit, sie sollte fernerhin weder der Moral noch dem Verstande dienen, ihre eigene Schönheit sollte ihre einzige Berechtigung sein. Schon damals, der herrschenden Modebegeisterung entgegen, ignorierte er den Ossian und rühmte Shakespeare, den noch niemand kannte.

Es konnte nicht fehlen, ein solcher Mann mußte die tiefste Bewegung der Zeit, die religiöse, auch am mächtigsten erfassen. In dieser Beziehung sind seine »Wolfenbüttler Fragmente« und »die Erziehung des Menschengeschlechts« besonders berühmt geworden. In den Fragmenten wird Christi Leben und Lehre als ein Versuch dargestellt, den Römern zum Trotz ein irdisches Messiasreich zu gründen, welcher Versuch, als er mißglückte, von den Jüngern dann in den Evangelien schlauerweise bloß geistig gedeutet worden sei. – Die andere Schrift dagegen nimmt die Offenbarung nicht für alle Zeiten geschlossen an, sondern als einen stufenweisen Akt der Erziehung Gottes, einstweilen an dem einzelnen Volke der Juden durchgeführt, weiterhin aber unausgesetzt über Christus hinausgehend.

Wir wollen hier kein Gewicht darauf legen, daß Lessing selbst nur Herausgeber der Fragmente und der Erziehung des Menschengeschlechts ist; die ersteren werden nämlich dem Hamburger Reimarus, die anderen sogar von manchen dem bekannten Landwirt Albrecht Thaer zugeschrieben. Aber wenn man den ganzen Mann ins Auge faßt, fühlt man jedenfalls, indem er jene Schriften in die Welt sandte, konnte es seine Absicht nicht sein, der Richtung seiner Zeit zu schmeicheln, vielmehr dieser gradezu den Fehdehandschuh hinzuwerfen, um sie, seiner scharfen unverblendeten Natur gemäß, aus aller Schöntuerei und Halbheit kühn bis zu dem Kulminationspunkte zu treiben, wo es Christ oder Nichtchrist gilt; er wollte keine Scheinheiligkeit, er wollte keinen Scheinfrieden zwischen Vernunft und Religion. Er tat es – und das unterscheidet ihn himmelweit von seiner Zeit –, er tat es nicht aus eitler, frivoler Lust am Verneinen, sondern mit dem furchtbaren Ernst, der den Zweifel als eine blanke Waffe ergreift, um sich zu positiver Überzeugung durchzubauen. »Ich hungere«, sagte er von sich selbst, »nach Überzeugung so sehr, daß ich wie Erysichthon alles verschlinge, was einem Nahrungsmittel nur ähnlich sieht. – Die Inspiration der Evangelien ist der breite Graben, über den ich nicht kommen kann, so oft und ernstlich ich auch den Sprung versucht habe. Kann mir jemand herüber helfen, der tue es; ich bitte ihn, ich beschwöre ihn, er verdient einen Gotteslohn an mir.« Hiernach war er auch – wiederum ganz verschieden von seiner Zeit – weit davon entfernt, seine Zweifel für maßgebend oder für mehr als redliche Bestrebung auszugeben. »Ich besorge nicht erst seit gestern«, gesteht er schon im Jahre 1771, »daß, indem ich gewisse Vorurteile weggeworfen, ich ein wenig zuviel weggeworfen habe. Es ist unendlich schwer zu wissen, wenn und wo man bleiben soll.«

Unsäglich aber haßte er insbesondere den flachen Rationalismus der »neumodischen Theologen«. »Man macht uns«, schreibt er an seinen Bruder, »unter dem Vorwande, uns zu vernünftigen Christen zu machen, zu höchst unvernünftigen Philosophen. Ich weiß kein Ding in der Welt, an welchem sich der menschliche Scharfsinn mehr gezeigt und geübt hätte als an ihm (dem alten Religionssystem). Flickwerk von Stümpern und Halbphilosophen ist das Religionssystem, das man jetzt an die Stelle des alten setzen will, und mit weit mehr Einfluß auf Vernunft und Philosophie, als sich das alte anmaßte. Und  doch verdenkst Du es mir, daß ich das alte verteidige? – Ich bin von solchen schalen Köpfen auch sehr überzeugt, daß, wenn man sie aufkommen läßt, sie mit der Zeit mehr tyrannisieren werden, als die Orthodoxen jemals getan haben.« Das sind Worte, die heute noch ebenso schneidend treffen wie dazumal, und wie viele, die sich jetzt auf Lessing stützen, weil sie ihn nicht kennen, würden wieder das: kreuzigt ihn! über ihn ausrufen. Denn er dringt unerschrocken noch unmittelbarer vor, indem er ferner sagt: »Eine gewisse Gefangennehmung der Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens beruht auf dem wesentlichen Begriff einer Offenbarung. Oder vielmehr die Vernunft gibt sich gefangen; ihre Ergebung ist nichts als das Bekenntnis ihrer Grenzen, sobald sie von der Wirklichkeit der Offenbarung versichert ist. Dies also, dies ist der Posten, in welchem man sich schlechterdings behaupten muß; und es verrät entweder armselige Eitelkeit, wenn man sich durch hämische Spötter hinauslachen läßt, oder Verzweiflung an den Beweisen der Offenbarung, wenn man sich in der Meinung hinauszieht, daß man es alsdann mit den Beweisen nicht mehr so streng nehmen werde.«

So ist es durchaus eine ernste tiefe Sehnsucht, die durch sein unruhiges Leben wie durch seine Schriften geht. Er ist ohne Zweifel der tragischeste Charakter unserer Literatur: wie er überall treu, offen und gewaltig nach der Wahrheit ringt und dennoch vom Dämon des Scharfsinns (wie Hamann es nennt) endlich überwältiget wird und an der Schwelle des Allerheiligsten unbefriedigt untergeht; aber sein großartiger Untergang ist für alle Zeiten eine belehrende Mahnung an alle, die da ehrlich suchen wollen.

Eine gleich hohe Erscheinung der deutschen Literatur war Hamann (1730–1788), wenngleich auf sehr verschiedenem Standpunkt. Wenn Lessing das religiöse Bewußtsein durch Kritik zu erobern suchte und von Zweifel zu Zweifel langsam, aber sicher vordrang, so war bei Hamann die Erleuchtung wie ein Wetterstrahl, der den Verirrten mitten in der Nacht eines fast verlorenen Lebens getroffen. Daher bei ihm, anstatt der Demonstration, das abgerissen Divinatorische, die überraschend tiefen Geisterblicke, die oft ganze nächtliche Landschaften plötzlich aufdecken und dann wieder versinken lassen, das Rhapsodische endlich und Dunkle, das ihm den Namen des nordischen Magus erwarb, das sich aber für den wohl aufhellt, der seine Lebensaufgabe in ihrem vollen Umfange gefaßt hat. Diese Aufgabe aber war keine geringere als die Versöhnung von Glauben und Wissen durch ein höheres Erkennen, um von diesem Boden aus das geschmähte und verkannte Christentum mit Gedanken, Witz, Gelehrsamkeit und allen Waffen des Geistes zu verteidigen. Denn Vernunft und Schrift waren ihm in ihrem Grunde einerlei: Sprache Gottes. »Ich habe es«, sagt er, »bis zum Ekel und Überdruß wiederholt, daß es den Philosophen wie den Juden geht und beide nicht wissen, weder was Vernunft noch was Gesetz ist, wozu sie gegeben: zur Erkenntnis der Sünde und Unwissenheit – nicht der Gnade und Wahrheit, die geschichtlich offenbart werden muß und sich nicht ergrübeln noch ererben noch erwerben läßt. – Ohne Glauben sind Diät und Moral nichts als Quacksalbereien. – Der Glaube aber ist kein Werk der Vernunft und kann daher auch keinem Angriffe derselben unterliegen, weil Glauben so wenig durch Gründe geschieht als Schmecken und Sehen. – Das höchste Wesen ist im eigentlichsten Verstande ein Individuum, das nach keinem anderen Maßstabe, als den es selbst gibt, und nicht nach willkürlichen Voraussetzungen unseres Vorwitzes und unserer naseweisen Unwissenheit gedacht oder eingebildet werden kann. – Der Grund der Religion liegt in unserer ganzen Existenz und außer der Sphäre unserer Erkenntniskräfte. Daher jene mythische und poetische Ader aller Religionen. – Die Angst in der Welt ist der einzige Beweis unserer Heterogenität. Denn fehlte uns nichts, so würden wir uns in die Natur vergaffen, kein Heimweh würde uns anwandeln.«

Diese wenigen leuchtenden Züge dürften eben hinreichen, um klarzumachen, was er wollte. Um so mehr aber überrascht uns nach diesem unumwundenen Glaubensbekenntnis die Bemerkung, wie er dennoch zwischen natürlicher und geoffenbarter Religion keinen anderen Unterschied findet als zwischen dem natürlichen Gehör und dem musikalischen Ohr und also ebenfalls der bloßen subjektiven Auffassung verfällt. Aber Glauben und Wissen, Verstand und Gefühl waren bei ihm gleich stark und zu übermächtig, um ineinander aufgehen zu können; es war ein riesenhafter Kampf, aber keine Versöhnung. Und so kehrt er in dem schmerzlichen Gefühl, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein, häufig die Waffen gegen sich selbst und spielt mit oft herzzerreißenden Witzen über dem großen Rätsel der Welt und seinen eigenen Seelenabgründen. Hamann ist ein philosophischer Humorist, und Claudius sagt treffend von ihm: »Er hat sich in ein mitternächtliches Gewand gewickelt; aber die goldenen Sternlein hin und her im Gewande verraten ihn und reizen, daß man sich keine Mühe verdrießen läßt.«

So hatte also Klopstock das Gefühl aus dem Schutt der Zeit wieder emporgehoben, die Sentimentalität aber sofort dem Gefühle eine krankhafte Empfindlichkeit angeheftet. Hamann hatte einen poetisch religiösen Urzustand mehr angedeutet als umschrieben und der Welt ein großes Rätsel aufgegeben, das jeder nach dem Maß seines Verstandes oder Unverstandes lösen zu können meinte. Endlich hatte Lessing, alle moderne Bildung zusammenfassend, ihren eigentlichen Elementargeist: den Protestantismus, gar wohl erkannt, und mit unbarmherzigem Scharfsinn aus allen seinen Verstecken bis zu seinen extremsten Konsequenzen getrieben, um, wie er selbst sagt, widerlegt zu werden. Allein die blödsinnige Zeit nahm die verwegene Herausforderung nicht an; sie nahm vielmehr mit jener vermeintlich unbedingten Berechtigung des Zweifels die Reformation für abgeschlossen an. Die Reformation aber hat, wie wir schon oft bemerkt haben und immer wieder bemerken müssen, einen durch alle ihre Verwandlungen hindurchgehenden Faden: sie hat die revolutionäre Emanzipation der Subjektivität zu ihrem Prinzip erhoben, indem sie die Forschung über die kirchliche Autorität, das Individuum über das Dogma gesetzt. Lessing hat demnach wider Willen dieses Prinzip, das er eben in dem Kreuzfeuer der Zweifel erst erproben wollte, in der Tat nur verstärkt und verschärft; und seitdem sind alle literarischen Bewegungen des nördlichen Deutschlands mehr oder minder kühne Demonstrationen nach dieser Richtung hin gewesen.

So sehen wir gleich in den siebenziger Jahren des vorigen Jahrhunderts plötzlich eine übermütige Prometheusjugend über die fein abgezirkelten Felder der Literatur hervorbrechen, alle Schranken der Kultur und Konvenienz tumultuarisch vor sich niederwerfend. Gleich wie man im Christentum das Positive abgetan, um eine natürliche sogenannte Vernunftreligion aus sich selbst herauszuspinnen, so sollte nun auch in der Poesie die unbedingte Freiheit des Subjekts selbständig walten; seine ursprünglichsten, unmittelbarsten Kräfte: Ahnungsvermögen, Divination, Instinkt, kurz, das Dämonische in ihm, das, was man damals Genie nannte, sollte, im Gegensatze aller Tradition, eine ganz neue Schöpfung erzeugen, die ihr Gesetz in sich selbst trüge und originell sei, wie die Natur; der Mensch wurde nicht an einem Höheren über ihm gemessen, sondern die Welt an dem genialen Individuum, das sein eigenes Ideal war. Und so erhob sich denn, um dieses souveräne Subjekt von jeglichem Hemmnis zu befreien, sofort ein Kampf auf Tod und Leben gegen alle historischen Formen in Kirche, Staat, Gesellschaft, Wissenschaft und Kunst; Ossian und Shakespeare wurden als vermeintliche Naturalisten zu Hülfe gerufen, in Göttingen entstand unter talentvollen Jünglingen ein Bund für Urtugend und selbst ein Voß tanzte bei Mondschein um die Bundeseiche!

Darin hatte diese burschikose Jugend ohne Zweifel recht und ihre Mission erfüllt, daß sie in dem französischen Garten der Poesie die bunten Scherbenbeete, die so lange Blumen gelogen, zertrümmerte, daß sie die verschnörkelten Buchsbäume entwurzelte und die steinernen Götzenbilder mit den Gottschedschen Allongeperücken umwarf. Als es aber dann darauf ankam, das Neue zu schaffen, versagte der subjektive Gott, die Schönheit wurde nackte Sinnlichkeit, die Kraft Roheit, die Natur gemein; das geniale Unkraut wuchs ihnen unversehens und unaufhaltsam über die Köpfe, und der Garten verwilderte.

Wir erinnern hier nur an den Livländer Reinhold Lenz (1750–92), der im »neuen Menoza« die Geschwisterehe zweideutig verschönert, in seinem »England« Freigeisterei und Wollust, »die den Himmel preisgibt für Armiden«, unverhüllt zur Schau trägt, in seinem »Hofmeister« die unnatürlichsten Verhältnisse auf das widerlichste verzerrt. Alle diese verworrenen Dramen sind in Stoff, Komposition, Gesinnung und Sprache durchaus anarchisch, und der unglückliche Dichter mußte zuletzt von sich selber sagen: seine Gemälde seien alle ohne Stil, wild und nachlässig aufeinander gekleckt; ihm fehle zum Dichter Muße und warme Luft und Glückseligkeit des Herrens, das tief auf den kalten Nesseln seines Schicksals und halb im Schlamm versunken liege und sich nur mit Verzweiflung emporarbeiten könne; er murre darüber nicht, weil er sich das alles selbst zugezogen. – Noch zügelloser gestaltet sich bei Wilhelm Heinse jenes Prinzip zum unbedingten, genußsüchtigen Egoismus, der jeden moralischen Maßstab verwirft, nur daß hier alles in ein förmliches System gebracht und philosophisch gerechtfertiget werden soll. In seinem Romane »Ardinghello« wird, unter Umstürzung aller bisherigen barbarischen Gesetzgebung, eine sogenannte platonische Republik improvisiert mit Gemeinschaft der Güter und der Weiber, damit wenigstens Mann und Weib mit ihrer Liebe »heilig« und frei würden. Da jedoch eine solche Republik nicht immer zur Hand ist, so lenkt Heinse in einem anderen Romane:

»Hildegard von Hohenthal«, etwas praktischer ein und debütiert die Lehre, man müsse sich doch lieber der Welt einigermaßen akkommodieren, um desto sicherer den Lebenszweck: »Seligkeit auf dem Erdboden«, zu erreichen, welche in dem Sinn der Liebe oder, wie er es letztlich definiert, in dem Drange, ein Kind zu zeugen, bestehe. Und so wird hier überall die materiellste Sinnlichkeit in lyrischem Taumel zu einem in sich gerechtfertigten und notwendigen Naturdienst; Wollust und Andacht sind Schwesterkinder, Schönheit allein ist das Dasein der Vollkommenheit, die Ehe gilt als lebendiger Tod und vieltausendjährige Sklaverei.

Bei weitem der entschiedenste aber unter diesen Revolutionärs war Klinger, der selbst mit seinem Drama: »Sturm und Drang« dieser Periode den Namen gegeben. Stolz fragt er, was denn die ganze Geschichte anderes sei als eine Satire auf die Vorsehung, und warum man sie denn im Sinne der orthodoxen Theologie lesen solle? Der Mann von Kraft handle aus selbstgeschaffenen Grundsätzen nur aus sich selbst und wisse, daß er das Schicksal in sich beherrsche. Und dieser autokratische Mann von Kraft, d.i. im Grunde Klinger selbst, ist denn auch der eigentliche Held seiner Dichtungen. Er will in seinem »Giafar« als leibhaftiger kategorischer Imperativ die Übel und Gebrechen der Gesellschaft durch die Stärke der Vernunft heilen; im »Raphael de Aquillas« durch übermenschliche Resignation, im »Falkenburg« durch beständige ideale Wolkenflüge; während er in der »Neuen Arria« unmögliche Mannweiber gegen Hofkabale, im »Stilpo« den blutdürstigen Haß gegen fürstliche Mörder und Tyrannen aufruft. So ging er unverzagt an die Weltverbesserung in seinen zahlreichen Dramen und Romanen: lauter moralische Konflikte und Dissonanzen, wo riesenhaft aufgeblasene, unwahre Tugenden gegen ebenso unwahre Laster, Einbildungen gegen Einbildungen wie Drachen mit Lindwürmern ringen; eine Ungeheuerlichkeit, die unfehlbar sich selbst parodieren würde, wenn er nicht durch den bitteren sittlichen Ernst, womit er die Lanze einlegt, oft tragisch an Don Quichotte gemahnte.

In diesem Sturme ist Schiller aufgewachsen und hat sein von ihm zerwühltes Jugendfeuer ebenso heftig und verheerend wie jene Starkgeister gegen alles Bestehende gewendet. Seine »Räuber« rebellieren gegen Familienleben und gesellige Kultur, »Kabale und Liebe« gegen Rang und Stand, »Fiesco« gegen den konventionellen Staat. In den »Räubern« ringt der flammenhauchende Drache Karl Moor mit dem giftigen Lindwurme Franz; in »Kabale und Liebe« eine fabelhafte Tugend des Spießbürgertums mit einer ebenso fabelhaften Niedertracht der Aristokratie, im »Fiesco« idealer Stoizismus mit idealem Egoismus; bis endlich Schiller im »Don Carlos« die ganze eigentliche Intention und Bedeutung jener Stürmer und Dränger in dem modernen Liberalismus seines republikanischen Marquis Posa zusammenfaßte und abschließend in eine andere Bildungsphase überging. So ist Schiller in seinen Anfängen überall namentlich dem Geiste Klingers so nahe verwandt, daß »die Spieler« des letzteren als Vorbild der »Räuber« dienen und umgekehrt wieder der »Fiesco« auf Klingers »Günstling« influieren konnte.

Zu dieser wilden Freischar zählt auch Schubart, der in seiner »Fürstengruft« jenen glühenden Zorn der Weltverbesserung populärer und praktischer unmittelbar gegen die Fürsten kehrt, in seiner »schwäbischen Chronik« gegen die erste Teilung Polens entbrannte und dann seinen verwegenen Patriotismus durch eine zehnjährige Gefangenschaft auf dem Hohen-Asperg büßen mußte. Aber Not lehrt beten, und er endete mit geistlichen Liedern, in deren Überschwenglichkeit freilich das wüste Feuerwerk seiner Jugend noch mannigfach nachprasselt. – Hierher gehört ferner der Maler Müller mit seinem »Faust«, der »als ein ganzer ausgebackener Kerl, aus welchem ein Löwe von Unersättlichkeit brüllt, gegen das lahme vermatschte Menschengeschlecht steht«; sowie durch die derbe Wahrheit, mit der er in seinen vortrefflichen Idyllen (die Schafschur, das Nußkernen etc.) die einfache Natur des Volkslebens der Überbildung und der unwahren Geßnerschen Schäferwelt entgegenstellt. Andrerseits aber führt dieses durchaus eigentümliche und eigensinnige Talent in seiner »Genoveva«, lange vor Tieck, vorahnend schon in die neue Romantik über. – Auch Heinrich von Gerstenberg hängt mit diesem Kreise durch die ungestüme Maßlosigkeit zusammen, womit er in seinem »Ugolino« den Hungertod einer ganzen Familie mit allen Graden, Zuckungen und Qualen der Agonie auf der Bühne zur Schau stellt. – Andere Mitkombattanten des wütenden Heeres sind kaum erwähnenswert, wie Philipp Hahn, der im »Aufruhr von Pisa«, »Karl von Adelsberg« etc. mit konvulsivischer Anspannung dem Shakespeare nachkräht; oder Leopold Wagner, welcher zur Strafe dafür, daß er Goethen den Plan zu seiner bluttriefenden »Kindermörderin« gestohlen, gleich dem ewigen Juden, als Fausts Famulus durch die Literatur aller Zeiten umgehen muß. – Nur ein Genius, mitten in dem Getümmel, hat alle diese gärenden Elemente als Stoff künstlerisch zu bewältigen gewußt und, was sie ahnten, irrten und strebten, für die Nachwelt poetisch registriert: Goethe in seinem Götz, im Faust und im Werther.

Eine Nachfeier der Sturm- und Drangperiode war der Göttinger Hainbund, zu welchem im Jahre 1772 mehrere gleichgestimmte Studenten: Voß, die beiden Stolberg, Friedrich Hahn, Hölty und Miller, sich vereinigten, und denen sich später auch Bürger anschloß. Der etwas ältere Boie übernahm das kritische Protektorat und eröffnete den jungen Bündlern den Kampfplatz durch Herausgabe seines »Göttinger Musenalmanachs«, der daher als der erste jugendfrische Ausdruck so mannigfaltiger Talente von nicht geringem literarischen Interesse ist. Der Ursprung und eine Festfeier des Bundes, wie sie von Voß in seinen Briefen beschrieben worden, geben das unmittelbarste Bild von dem Wesen desselben. »Ach, den 12. September« – schreibt Voß an Brückner – »da hätten Sie hier sein sollen! Die beiden Millers, Hahn, Hölty und ich gingen noch des Abends nach einem nahgelegenen Dorfe. Der Abend war heiter und der Mond voll. Wir überließen uns ganz den Empfindungen der schönen Natur. Wir aßen in einer Bauerhütte eine Milch und begaben uns darauf ins freie Feld. Hier fanden wir einen kleinen Eichengrund, und sogleich fiel uns allen ein, den Bund der Freundschaft unter diesen heiligen Bäumen zu schwören. Wir umkränzten die Hüte mit Eichenlaub, legten sie unter den Baum, faßten uns bei den Händen, tanzten so um den eingeschlossenen Stamm herum, riefen den Mond und die Sterne zu Zeugen unseres Bundes an und versprachen uns eine ewige Freundschaft. Dann verbündeten wir uns, die schon gewöhnliche Versammlung noch genauer und feierlicher zu halten.« – Und später schreibt er: »Klopstocks Geburtstag feierten wir herrlich. Eine lange Tafel war gedeckt und mit Blumen geschmückt. Oben stand ein Lehnstuhl ledig für Klopstock, und auf ihm seine sämtlichen Werke. Unter dem Stuhl lag Wielands Idris zerrissen. Die Fidibus waren aus Wielands Schriften gemacht. Boie, der nicht raucht, mußte doch auch einen anzünden und auf den Idris stampfen. Hernach tranken wir in Rheinwein Klopstocks Gesundheit, Luthers, Hermanns Andenken etc. Wir sprachen von Freiheit, die Hüte auf dem Kopf, von Deutschland, von Tugendgesang; und Du kannst denken, wie. Zuletzt verbrannten wir Wielands Idris und Bildnis.« – »Religion, Tugend, Empfindung und reinen unschuldigen Witz zu verbreiten, um den Strom des Lasters und der Sklaverei aufzuhalten«, war ihr Schwur, Freiheit und Tugend ihre Losung.

Man sieht, es ist dasselbe ungeduldige und zornige Mißbehagen am Bestehenden, dieselbe Wut zu reformieren, und dieselbe Unklarheit darüber, wie die Weltverbesserung anzufangen sei, wie bei den Starkgeistern, nur daß bei diesen die rohe juvenile Begeisterung weit über das Schwabenalter hinausreichte. In Göttingen dagegen war es eben nur der schöne Sommernachtstraum einer edlen, ethisch erhobenen Jugend; und man braucht nur die oben genannten ganz disparaten Glieder des Bundes in Gedanken durchzumustern, um zu begreifen, daß er auseinanderfallen mußte. Graf Friedrich Stolberg nahm die Sache am ernstesten und tiefsten und zeigte später wohl, wie und wo es anzufangen wäre, indem er die in solcher Allgemeinheit ganz hohlen Phrasen von Freiheit und Tugend auf ihre eigentliche Bedeutung: auf die Religion zurückführte und nach mancherlei Irrfahrten selbst zur Kirche zurückkehrte. Höltys Instrument war zu weich und zart gestimmt für solche Griffe und sprang auch bald entzwei. Miller aber, wie wir oben gesehen, ging unter die Sentimentalen und verschlimmbesserte die Welt mit seinen Siegwartiaden, während Voß stolz von den Jugendalpen niederstieg und nach dem dankbarern Marschlande des flachen Rationalismus übersiedelte, wo wir ihn weiterhin wiederfinden werden. Nur Bürger blieb sein Leben lang ein Student: unordentlich in Leben, Lieben und Dichten, bald hinter dem Schreibtisch fleißig den Homer übersetzend, bald als stattlicher Ritter mit seinem »Karl von Eichenhorst« hoch auf dem Dänenroß, bald wieder sein Bündel schnürend und auf lustiger Wanderschaft in den Kneipen seines »Dörfchens« oder bei »Frau Schnips« einkehrend. Bürger war ein echter Sangesmund, der melodischste Klang war ihm eingeboren und hat z.B. in seiner unsterblichen »Lenore« Wunder getan. Das machte ihn so populär vor allen seinen Zeitgenossen, daß er Lust und Schmerz, den Dämon und den Engel in der eigenen Brust, überall sich selber ganz und unverhohlen gab. Aber seine Popularität hat eben deshalb häufig etwas Renommistisches, Forciertes, ja widrig Gemeines. Denn ihm fehlte zum Volksdichter, wonach er strebte, nichts als die sittliche Haltung und Würde, deren Mangel sich aber unter dem leichten durchsichtigen Gewande des Volksliedes nicht wie in der vornehmen Gelehrtenpoesie mit verschnörkelter Rhetorik verhüllen oder gar verschönern läßt.

Während dieser Episode hatten indes die Nachzügler und Marodeurs der Starkgeister noch immer eine Zeitlang in ihrer Weise fortrumort. Des Grafen Törring Agnes Bernauerin und Kaspar der Thoringer, Babos großer Bandit Abellino und Otto von Wittelsbach, Hahns Robert von Hohenecken, Möllers Graf von Walltron, und Maiers Fust von Stromberg schritten martialisch über die Bühne, daß die Bretter sich bogen und bebten. Auch die Romane wollten an biderber Mannlichkeit nicht nachstehen. Vulpius entsandte den Räuberhauptmann Rinaldini, Cramer seinen Hasper a Spada, Spieß ganze Schwärme von geharnischten Rittern und heimlichen Femrichtern in die schauerselige Lesewelt: lauter Waffengeklirr und Humpenklang, schreckliche Burgverliese, Schwerterwetzen, Fluchen und Zechen und Mordspektakel. Aber gestrenge Herren regieren nicht lange. Mit diesem tollen Lärm war das Reich der Starkgeister am Parnasse wieder vertost und jenes Titanengeschlecht an seiner eigenen Überschwenglichkeit geborsten. Sie taumelten und endeten wie Trunkenbolde, einige im Wahnsinn, wie Lenz, einige mit Ekel und absoluter Weltverachtung, wie Klinger. Der nüchterne Verstand aber, der schon lange schadenfroh zugesehen, überlebte sie alle.

Da kamen die sieben mageren Jahre, wo Nicolai in seiner Allgemeinen Deutschen Bibliothek die kritische Schere über  den üppigen Garten legte, alles verschneidend und bestutzend, was sich über das Niveau der Gewöhnlichkeit hinauszulangen unterfing. Es wurde sofort Toleranz und Gewissensfreiheit proklamiert für Juden, Türken und Heiden, jeder aber, der noch des Christentums und dergleichen Aberglaubens verdächtig, fanatisch als Narr oder heimlicher Jesuit verketzert. Nebenher lief auch noch, von Sulzer her, eine Nützlichkeitstheorie durchs Land, ja sogar über die Kanzeln; nicht etwa von dem, was zum ewigen Leben, sondern was für des Leibes Notdurft nütz ist, von Sparsamkeit, Runkelrüben und Kartoffelbau. Mit Fleiß im täglichen Haushalt und etwas negativer Moral, die eben niemanden totschlägt oder bestiehlt, meinte man mit dem Jenseits, wenn es überhaupt eines gäbe, schon fertig zu werden; den Spruch: »Trachtet nach dem Himmelreich, so wird euch das andere zugegeben« gradezu umkehrend. Mit einem Wort: das fragliche Subjekt, von der liederlichen Überspannung stark mitgenommen, hatte sich wie ein alter Roué die Schlafmütze über die Glatze gestülpt und wollte sich's als ein ruhiger, guter, fetter Bürger endlich einmal kommode machen in der Welt. Solcher Philister aber wußte dann freilich mit der Poesie ebensowenig anzufangen als die Poesie mit ihm, und in dieser Verlegenheit verfiel er darauf, mit dem bloßen Verstande zu dichten.

Schon Hermes hatte diesen praktischen Weg eingeschlagen und Poesie und Religion nützlich zu machen gesucht; die Poesie, indem er lehrhafte Tendenzromane für Frauen, für Töchter edler Herkunft, für Eltern und Ehelustige schrieb; die Religion, indem er sie lediglich auf die handgreiflichste Moral beschränkte. Selbst in seinem berühmtesten Romane »Sophien's Reise von Memel nach Sachsen« sind die Personen eigentlich nur hölzerne Wegweiser nach der oder jener häuslichen Tugend hin, denen man aber nicht ohne inneres Widerstreben folgen kann, da sie fast alle das Unglück haben, höchst langweilig und unliebenswürdig zu sein. Die Verstandespoesie ist überhaupt sehr arm. Sie kommt, da sie bloß von Erfahrung lebt, niemals über die Wirklichkeit hinaus und hat eigentlich nur zweierlei Organe: die Charakterschilderung, d.i. ein nach gewissen äußeren Kennzeichen systematisch geordnetes Herbarium der menschlichen Natur, und die Negation aller Erscheinungen, die über das Gebiet der gewöhnlichen Erfahrung hinausragen. In der ersteren Richtung hat Schummel in seinem »Spitzbart« die Basedowschen Schulmänner, im »kleinen Voltaire« die freigeisterischen Deutschfranzosen, in der »Revolution in Scheppenstädt« die deutsche Karikatur der französischen Revolution; Müller von Itzehoe in seinem vielgelesenen »Siegfried von Lindenberg« das grobe pommersche Krautjunkertum; Engel im »Lorenz Stark« die Berliner Salonweisheit und von Knigge in seinem berühmten »Umgang mit Menschen« die höflichen Bücklinge und diplomatischen Kunstgriffe des geselligen Egoismus ganz wacker porträtiert. Alle diese Autoren tummelten noch ziemlich unbeholfen den englischen Pegasus, den ihnen Richardson und Smollett zugeritten. Sie sind, obgleich poetisch null, doch von bedeutendem historischen Wert, indem sie uns ein zum Erschrecken getreues und bis auf das kleinste Wärzchen ausgeführtes Daguerreotypbild des deutschen Michels jener wunderlichen Zeit hinterlassen haben.

Ihr dickköpfiger Meister Nicolai aber übertraf sie doch alle, da er die beiden vorhin bezeichneten Organe der Verstandespoesie gleichzeitig in sich zu vereinigen und insbesondere das Element der Negation tapfer zu handhaben wußte. Es ist für uns, die wir glücklicherweise längst außerhalb des Bereichs seiner groben Diktatur stehen, wahrhaft ergötzlich, ihm zuzusehen, wie entrüstet und unermüdlich er gegen alle Poesie, wo und wie sie irgend aufzuducken wagte, sogleich Front macht, protestiert und losschlägt, damit sie nur dem souveränen »gesunden Menschenverstande« nicht etwa was zuleid täte. Kaum war Goethes Werther erschienen, so bewarf er ihn in seinen »Freuden des jungen Werther's« mit dem Schmutz der widerwärtigsten Gemeinheit; Herders Völkerstimmen suchte er sofort in seinem »Kleynen feynen Almanach« durch Hohngelächter wieder zum Schweigen zu bringen und im »Sebaldus Nothanker« die Religion auf den Altenteil des prosaischsten Rationalismus zu setzen; während er auf seiner »Reise durch Deutsch land« sich verwundert und es sehr übel nimmt, daß der Katholizismus nicht protestantisch und ganz Deutschland überhaupt nicht berlinisch sein will. Wir sind weit entfernt, dem Romane: »Leben und Meinungen des Herrn Magisters Sebaldus Nothanker« eine zum Teil scharfsinnige Charakterisierung des Zeitgeistes absprechen oder gar behaupten zu wollen, daß die damaligen religiösen Zustände, der Orthodoxen wie der Pietisten, nicht einer derben Züchtigung bedurft hätten. Aber das war nur ein willkommener Vorwand, hier ist es nicht auf eine Reform, sondern auf totale Ausrottung des Christentums abgesehen, und der freidenkerische Magister Sebaldus wird eben als Märtyrer dieser neuen Lehre dargestellt. Denn »so einfältig werde doch hoffentlich niemand mehr sein, sich einzubilden, Gott habe die heiligen Bücher unmittelbar und übernatürlich eingehaucht. Sie sind nur insofern eine Quelle der Wahrheit, als sie das Nachdenken über die Wahrheit befördern. Wer aber andere Quellen der Wahrheit zu finden glaubt, besonders wenn er mit mir auf gleiche gemeinsame Wahrheit zurückkommt, den verdamme wer will, ich nicht.« Nun sollte man hiernach doch wahrhaftig meinen, Nicolai sei lauter Toleranz gewesen. Allerdings für Heiden, Juden und Mohammedaner, nur nicht für die Kirche! Man verabscheut mit Recht die Mißbräuche der alten Inquisition, und die Autodafés waren ohnedem schon lange abgekommen. Aber die fanatische zornmütige Jesuitenriecherei, wie sie Nicolai nebst Gedike und Biester ein Menschenalter hindurch in ihrer blauen Monatsschrift getrieben; dieses heimtückische Verächtlichmachen, Verleumden, Verdrehen und Ehrabschneiden ist die moderne Inquisition.

Lessing, sagt man, war ein Freund von Nicolai. Eine gewisse Kriegskameradschaft hat allerdings zwischen ihnen bestanden, wie überall bei Kampfgenossen, die unter einer Fahne streiten. Aber nicht alle Kameraden sind Helden; es kommt eben nur darauf an, wie sie kämpfen; und beide haben sehr verschieden gefochten. Lessing, der, nie sich selber genügend, immer weiter und weiter bis ins Unendliche sich seine Ziele steckte, suchte erst, was Nicolai, in seinem bornierten Gesichtskreise, bereits gefunden und erobert zu haben und daher hartnäckig behaupten zu müssen glaubte. Wir haben oben gesehen, mit welchem tiefen Ernste Lessing auf dem religiösen Gebiete alle schneidenden Waffen des Zweifels gegen das Christentum wandte, damit die Welt ihn widerlege und belehre und sich und ihn endlich aus dem schwankenden Halbwesen zur vollen Klarheit hindurchschlage. Ebenso gab er seine dramatischen Versuche keinesweges etwa als endgültige Muster (denn er hielt sich selbst nicht für einen Dichter), sondern um andere anzuregen und auf die Bahn zu weisen, auf der sie aus der allgemeinen französischen Lüge auch hier vielleicht zur Wahrheit gelangen könnten. Auch Lessing gehört daher, schon durch diese tendenziöse Richtung, mit seinen dichterischen Produktionen wesentlich der Verstandespoesie an. Wir statuieren freilich keinen Dichter ohne, wo möglich, recht großen Verstand, aber wir müssen ihm durchaus etwas vindizieren, das über dem Verstande liegt oder vielmehr diesen in einem weiteren Umkreise mit umfaßt; und eben dieses fehlte Lessing. Seine »Miß Sara Sampson«, sowie »Emilie Galotti« sind eben nur ein tief durchdachtes Schachspiel scharfumrissener Charaktere gegeneinander: Exposition, Szenenfolge, Handlung, alles notwendig Zug um Zug, kein Auftritt kann herausgenommen oder verschoben werden, ohne den ganzen Organismus zu zerstören; die geistvollsten und lehrreichsten Skizzen zu künftigen Tragödien. Aber man vermißt die schöpferische Wärme des Gefühls, jene wunderbare Zauberei der Phantasie, welche die Figuren erst lebendig macht; der Dialog ist epigrammatisch oder »lakonisch«, wie ihn Goethe nennt, und beiden Tragödien fehlt der versöhnende Schluß einer durchblickenden höheren Leitung, den auch die geistreichst kombinierte Wirklichkeit niemals zu geben vermag. Und auf dieser Bahn ist Leisewitz mit seinem »Julius von Tarent« sein bis zum Verwechseln getreuer Nachfolger geworden. Mit »Minna von Barnhelm« dagegen trat Lessing unmittelbar seinem Ziele näher, ja gewissermaßen schon über dasselbe hinaus. Was er vorhatte, war nämlich nichts Geringeres, als das Schauspiel aus der ganz konventionellen Unnatur des französischen Hoftheaters zur Naturwahrheit einer nationalen Bühne zurückzuführen. Zu diesem Zwecke wollte er Stoff und Form zugleich reformieren, er wollte einerseits den Heroismus von dem Kothurn eines angeblich klassischen Altertums möglichst auf den realen Boden der Gegenwart stellen, andrerseits das aufgeblasene Pathos wieder dem natürlichen Konversationstone zu nähern suchen. Beides gelang ihm vollkommen in dem genannten Lustspiel, das eine außerordentliche Wirkung machte und bei vornehm und gering populär wurde, weil hier dem modernen Heldenleben in der bewegten Zeit des Siebenjährigen Krieges ein großer nationaler Hintergrund gegeben war. Anders verhält es sich, wo dieser Boden künstlich erst geschaffen werden mußte, wie in Miß Sara Sampson, oder, wie in Emilie Galotti, die alte rauhe Römertugend willkürlich mitten in die neuen Verhältnisse verpflanzt werden sollte. Jedenfalls aber war der Weg, den Lessing zur Lösung seiner kühnen Aufgabe eingeschlagen, keineswegs der richtige und wenigstens für die Tragödie ein sehr bedenklicher Umweg. Denn die Tragödie bedarf, wie das Epos, eines weiten Horizonts, einer poetischen Ferne, wo die Phantasie ihre blauen Berge und großen Konturen fein und ungehindert ziehen kann, während das Heldenbild von dem Rahmen der unmittelbaren Gegenwart fast jederzeit erdrückt wird, gleich wie es keinen Helden für seinen Kammerdiener gibt, weil ihn dieser nur in dem kleinlichen Kreise der gewöhnlichen Alltäglichkeit erblickt. Ja, auf diesem Gebiet üben in so unmittelbarer Nähe selbst die zudringlichen Kapricen der geselligen Konvention und des Kostüms eine störende und doch nicht zu beseitigende Gewalt aus. Es ist hier wie in der Plastik: wie die Standbilder der ritterlichen Feldherren des Siebenjährigen Krieges in Frack und Kamaschen, oder Friedrichs des Großen mit dem Haarzopf und dem windschiefen dreieckigen Hütlein über den gepuderten Seitenlocken. Auch die von Lessing versuchte, im Nathan jedoch wieder aufgegebene Herabstimmung der Tragödie vom Verse zu Prosa können wir ebensowenig als Klopstocks Scheu vor dem Reime als einen Fortschritt anerkennen. Die Rede wurde freilich dadurch natürlicher, aber das Natürliche darum nicht poetischer. Wir wissen recht wohl und haben es in neuerer Zeit sattsam erfahren, wie leicht sich aus Jamben hohle Phrasen drechseln lassen; allein der bloße Mißbrauch kann doch nirgend das an sich Rechte unrecht machen. Ohne Zweifel hätte der Vers z.B. die rohe Überschwenglichkeit Schillers in seinen Jugendarbeiten gezügelt und ihn zu größerer künstlerischer Besonnenheit genötigt. Und so hat denn Lessing, überall verkannt, mißverstanden und kläglich nachgeahmt, in der Tat durch seinen reformatorischen Vorgang allmählich auf ein Heldentum im häuslichen Schlafrock, zu der bürgerlichen Tragödie geführt, die im Grunde doch nur ein lederner Schleifstein ist.