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Das System der Rechtslehre

von Johann Gottfried Fichte.

Zweiter Teil

Drittes Kapitel

Erster Abschnitt

Von der Selbstverteidigung.

Nur dadurch bekommt ein Individuum ein Recht, dass es sich aller eignen Gerechtigkeit begibt, und sie der Staatsgewalt überlässt. Bei der Selbstverteidigung aber werfe ich mich selbst zum Richter auf, was ich durch meinen Eintritt in den Staat aufgegeben habe. Sie ist darum durchaus verboten, und der Rechtswille kann sie nur da zulassen, wo der Staat nicht schützen kann; denn da ist kein Staat, und wir treten auf das Gebiet des Naturzustandes. Daher sind folgende zwei Fälle möglich:

1) Niemand hat das Recht, durch den Staat bezeichnetes Eigentum mit seinem Leibe auf Leben und Tod zu verteidigen; denn Jeder kann seinen Besitz nachher erweisen, in den vorigen Stand wieder eingesetzt, und der Täter bestraft werden, (z.B. wenn Jemand den Acker abpflügt). Doch darf er dafür Sorge tragen, und es liegt ihm ob, sich Zeugen und Beweise für die Person des Täters zu verschaffen.

2) Dagegen unbezeichnetes Eigentum, d.h. solches, dessen Besitz nur dadurch bezeichnet wird, dass es Jemand an sich und bei sich trägt, oder in seinem Hause hat, hat Jeder das Recht, selbst mit Lebensgefahr des Angreifers zu verteidigen. Hier tritt das Recht der Selbstverteidigung ein. Man könnte hier einwenden: was ist menschliches Leben gegen Geld? so antwortete ich darauf: das ist Gewissenssache, von der reden wir hier nicht. Was hätte denn der Staat an meiner Stelle tun müssen? Er hätte kämpfen müssen auf Leben und Tod, wie er es im Kriege tut, damit mir mein Geld nicht gestohlen werde, wenn es auf keine andre Weise möglich gewesen wäre; und das ändert sich niemals; es ist seine Pflicht, und dazu ist er als Staat da. Recht, bloßes Recht ist seine Sittlichkeit. Da ich nun hier an seine Stelle trete, wie kann er mich tadeln, dass ich, wie er, mein Recht geschützt habe? Bei ihm bin ich also sicher, und gerechtfertigt. Freilich ist mein Recht nicht Eins mit meiner Sittlichkeit. Das mag ich aber mit mir ausmachen. (Ich sage also nicht, man soll, um einen Groschen nicht zu lassen, den Andern lieber totschlagen, d.i. den Kampf beginnen, denn da liegt’s. Die moralische Beurteilung ist inzwischen schwer). Also Jeder hat das absolute Recht, sich Nichts mit Gewalt nehmen zu lassen, und durch jedes Mittel zu verhindern, dass dieses geschehe. Gewaltsamer Angriff meines Eigentums wird, wenn ich dasselbe durch meine Person schütze, selbst Angriff auf meine Person. Geht der Angriff gleich von Anfang auf meine Person, so habe ich natürlich dasselbe Recht der Selbstverteidigung. Der Grund dieses Rechts liegt darin, dass die Hülfe des Staates nicht sogleich bei der Hand ist, die Verteidigung aber, da der Angriff auf unbezeichnetes Eigentum geht, auf der Stelle geschehen muss.

Dieses bezeichnet zugleich die Grenze des Rechts zur Selbstverteidigung. Ich habe dieses Recht nur, inwiefern der Staat mich nicht verteidigen kann; es muss sonach nicht an mir liegen, dass er es nicht kann, und ich bin rechtlich verbunden, so viel an mir liegt, es möglich zu machen, dass er es kann. Ich bin verbunden, die Hülfe desselben unmittelbar in der Gefahr anzurufen; dieses geschieht durch Schreien um Hülfe. Das ist absolut notwendig, und die ausschließende Bedingung eines Rechts zur Selbstverteidigung. Dieser Umstand muss in die Gesetzgebung gebracht, und von Jugend auf den Bürgern eingeprägt werden, damit sie sich daran gewöhnen. Denn wenn Jemand durch mich ermordet ist, und ich sage: er hat mich angegriffen, und ich konnte mein eigenes Leben nur durch seinen Tod retten, der Gemordete kann mich nicht der Lüge strafen, und es lässt sich sonach nicht einsehen, warum ich dasselbe nicht vorgeben sollte, wenn ich selbst der Angreifer war. Habe ich aber um Hülfe geschrieen, und kann ich dieses beweisen, oder kann mir wenigstens das Gegenteil nicht bewiesen werden, so habe ich die Präsumtion der Unschuld für mich. Der Angriff geschieht entweder auf öffentlichem Gebiete (in der erklärten Bedeutung des Wortes), oder in meinem Hause. Im ersten Falle hat die Anwendung der aufgestellten Grundsätze keine Schwierigkeit. Im zweiten hat ja keine Privatperson, und selbst der Staat nicht das Recht, mein Haus zu betreten. Aber durch das Geschrei um Hülfe berechtige ich den Staat und Jedermann, dasselbe zu betreten, ich unterwerfe dann dem Staate unmittelbar, was er zunächst nur mittelbar zu schützen hat. Mein Geschrei ist Klage, sonach Verzichtleistung auf mein Hausrecht.

Jeder, der um Hülfe rufen hört, ist durch den Staatsvertrag rechtlich verbunden, herbei zu kommen, nach obigen Grundsätzen. Denn alle Einzelnen haben allen Einzelnen versprochen, sie zu schützen. Nun ist der Hülferuf die Ankündigung, dass eine Gefahr vorhanden ist, welcher der Stellvertreter der schützenden Macht, der Staat, nicht sogleich abhelfen kann. Jedem Einzelnen wird sonach durch einen Aufruf zur Hülfe nicht nur das Recht, sondern auch die Bürgerpflicht, unmittelbar zu schützen, wieder übertragen. Wem nachgewiesen werden kann, dass er den Ruf gehört und nicht herbeigeeilt, ist strafbar; denn er hat gegen den Bürgervertrag gehandelt; und die Gesetzgebung hat darauf Rücksicht zu nehmen.

Strenger Beweis der Verbindlichkeit zum Recht herbeizueilen: die Schutzpflicht ist ursprünglich Pflicht des Einzelnen, und sie ist nur dem Staate übertragen. So wie nun aber Jemand in sein natürliches Recht der Selbstverteidigung wieder eingesetzt wird, so werden auch Alle in die natürliche Pflicht der Schutzes wieder eingesetzt. Dieser Schutz in der Not ist also nicht etwa nur Gewissens- und Christenpflicht, sondern sie ist absolute Bürgerpflicht.

Die zur Hülfe Herbeigekommenen haben Nichts weiter zu tun, und dürfen Nichts tun, als dass sie die Kämpfenden trennen, und dem Fortgange der Gewalttätigkeit zwischen ihnen Stillstand auflegen. Wenn der Grund wegfällt, fällt auch das Begründete weg. Aber das unmittelbare Schutzrecht gründet sich auf die gegenwärtige Gefahr. Diese ist nun durch ihre Gegenwart gehoben, und die Hülfe des Staates, der der einzige rechtmäßige Richter ist, kann erwartet werden, und muss es darum; wieder nach dem Prinzipe: der Staat soll können. Dass z.B. der ergriffene Dieb durch den Pöbel geprügelt werde, ist eine rechtswidrige und strafbare Barbarei. Sobald die Gefahr des Leibes oder Gutes vorüber ist, wird die Obrigkeit wieder alleiniger Beschützer und Richter.

Geschieht der Angriff auf das Leben gleich unmittelbar, und entwickelt er sich nicht erst aus dem Eigentumsangriffe, so verstehen sich die angeführten Gesetze von selbst.

Und so möchte denn diese, durch eine große Weichlichkeit der Gesetzgebung und Vermengung des moralischen Standpunktes, Einfluss der Religion u. dergl. oft übel geordnete Materie klar sein für die Gesetzgebung. Wozu soll man da noch lange Beweise führen, und sich auf den status causae einlassen? Dem Staate ist durch die Notwendigkeit einer solchen Untersuchung schon der faktische Beweis geführt, dass seine Aufsicht und Schutzgewalt nicht bei der Hand war. Er darf darum auch die Selbstverteidigung nicht erschweren durch Verbot der Waffen und ihres Gebrauchs, da, wo er offenbar doch nicht schützen kann. Das Mitleiden gegen Verbrecher ist oft größer, als gegen rechtliche Männer, aus zu großem Gleichheitssinne der Juristen.