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Abschied von der mütterlichen Freundin

von Luise Hensel

 

Scheiden – o bitterer Kelch, bald wird meine Lippe dich kosten!
Scheiden – o schmerzendes Wort, das durch die Seele mir dringt!
Sichel, so schneidend und scharf, du kommst meine Blumen zu fällen.
Köcher voll tötender Pfeil', o wie erbeb' ich vor dir!

     Heute noch kann meine Hand die trautesten Hände erfassen,
Heute noch findet mein Blick, Mutter! dein freundliches Aug.
Zweimal noch seh' ich mit dir im Spätrot erglühen die Hügel,
Zweimal noch schallt uns vereint frühe der Vögelein Sang.

     Aber dann führt dich dein Pfad dahin in die neblichte Ferne,
Ach, und es führt mich mein Weg einsam und trübe daher. –
Aber ich denke an dich – du kannst mir entrissen nicht werden,
Und der Gedanke an dich wird mir zum trösten den Freund.

     Trübt dann die Sehnsucht mein Aug', so trinkt wohl der Sand meine Zähre,
Aber die Hoffnung, sie hebt mutig zum Himmel mein Herz.
Amen, o Amen, mein Gott! Hier bin ich – ich bin dir ergeben.
Gib mir den bitteren Kelch – Vater! Du gibst ihn mir ja.

Sondermühlen, 1823.