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Ob Sappho für den Ruhm schreibt?

An die Frau von Reichmann den 10. März 1762

Frau, schreib ich für den Ruhm, und für die Ewigkeit?
Nein, zum Vergnügen meiner Freunde!
O das Gerüchte trägt nur kurze Zeit
Mit unserm Ruhme sich; sobald wir von dem Feinde
Der Menschheit überwunden sind,
Verflattert er so leicht wie Blätter, die der Wind
In irgend einen Fluß gewaltig fortgetrieben,
Homer, Virgil, Horaz und Pindar sind geblieben;
Die Griechin aber nicht, die meine Leyer trug,
So zärtlich war wie ich, nach ihrem Phaon frug
Und nach dem Leben nicht; sie flog zum Tode wieder.
Nichts blieb uns als ein Brief und zwey beflammte Lieder.
Die andern schrieb der Neid sich diebisch heimlich ab,
Und endlich fanden sie in einem Brand ihr Grab!
O Sapho war berühmt! ihr Volk, ein Volk von Prinzen,
Trug seine Dichterin auf viel Gedächtniß-Münzen,
Und mancher Künstler hieb ihr Bild in Marmor aus,
Und Kenner redeten ihr Lob bey jedem Schmauß.
Halb Göttin war das Weib; neun Bücher schrieb sie voll
So schön, als wären sie geschrieben vom Apoll.
Und ach, von alle dem, was sie so schön geschrieben,
Ist nur ein kleiner Rest für unsre Zeit geblieben!
Frau, solch ein Schicksal trifft auch meine Lieder einst!
Wenn Du voll Zärtlichkeit bey meiner Asche weinst.
Noch ehe sich an mir die Würmer satt gefressen,
Dann, Frau, hat schon die Welt mich und mein Buch vergessen.