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An Wilhelmine von Zenge

von Anfang 1800.

[Frankfurt a. d. Oder, Anfang 1800]

Inliegenden Brief bin ich entschlossen morgen abend Ihrem Vater zu übergeben. Ich fühle, seit gestern abend, daß ich meinem Versprechen, nichts für meine Liebe zu tun, das ein Betrug Ihrer würdigen Eltern wäre, nicht treu bleiben kann. Vor Ihnen zu stehen, und nicht sprechen zu dürfen, weil andere diese Sprache nicht hören sollen, Ihre Hand in der meinigen zu halten und nicht sprechen zu dürfen, weil ich mich diese Sprache gegen Sie nicht erlauben will, ist eine Qual, die ich aufheben will und muß. Ich will es daher erfahren, ob ich Sie mit Recht lieben darf, oder gar nicht. Ist das letzte, so bin ich entschlossen, das Versprechen, welches ich Ihrem Vater in den letzten Zeilen meines Briefes gebe, auszuführen. Ist es nicht, so bin ich glücklich - Wilhelmine! Bestes Mädchen! Habe ich in dem Briefe an Ihren Vater zu kühn in Ihre Seele gesprochen? Wenn Ihnen etwas darin mißfällt, so sagen Sie es mir morgen, und ich ändere es ab.

Ich sehe, daß das neue Morgenlicht meines Herzens zu hell leuchtet, und schon zu sehr bemerkt wird. Ohne diesen Brief könnte ich Ihrem Rufe schaden, der mir doch teurer ist als alles in der Welt. Es komme nun auch, was der Himmel über mich verhängt, ich bin ruhig bei der Überzeugung, daß ich recht so tue.

Heinrich Kleist.

 

N. S. Wenn Sie morgen einen Spaziergang nicht abschlagen, so könnte ich von Ihnen erfahren, was Sie von diesem Schritte urteilen und denken. - Von meiner Reise habe ich, aus Gründen, die Sie selbst entschuldigen werden, nichts erwähnt. Schweigen Sie daher auch davon. Wir verstehn uns ja.

Quelle:
Müller-Salget, Klaus / Ormanns, Stefan (Hg.): Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Band 4 - Briefe von und an Heinrich von Kleist 1793–1811. 1997