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Anton Reiser. Ein psychologischer Roman.

von Karl Philipp Moritz

Erster Teil

Da er nun so schon mit lauter Todesgedanken umging, fügte es sich, daß er das erstemal nach seiner Krankheit wieder zu dem Pastor Paulmann in die Kirche kam. Dieser stand schon auf der Kanzel und predigte über – den Tod.

Das war für Anton ein Donnerschlag; denn da er nun einmal gelernet hatte, nach dem, was ihm von einer besondern göttlichen Führung in den Kopf gesetzt war, alles auf sich zu beziehen – wem anders als ihm sollte nun wohl die Predigt vom Tode gehalten werden? – Mit nicht mehr Herzensangst kann ein Missetäter sein Todesurteil anhören als Anton diese Predigt. – Der Pastor Paulmann fügte zwar Trostgründe gnug gegen die Schrecken des Todes hinzu, aber was verschlug das alles gegen die natürliche Liebe zum Leben, die trotz aller Schwärmereien, wovon Anton den Kopf vollgepropft hatte, dennoch bei ihm die Oberhand behielt.

Niedergeschlagnes und betrübtes Herzens ging er zu Hause, und vierzehn Tage lang machte ihn diese Predigt melancholisch, die der Pastor Paulmann, wenn er gewußt hätte, daß sie noch auf zwei Menschen solche Würkung wie auf Anton tun würde, wahrscheinlich nicht würde gehalten haben.

So war Anton nun in seinem dreizehnten Jahre durch die besondre Führung, die ihm die göttliche Gnade durch ihre auserwählten Werkzeuge hatte angedeihen lassen, ein völliger Hypochondrist geworden, von dem man im eigentlichen Verstande sagen konnte, daß er in jedem Augenblick lebend starb. – Der um den Genuß seiner Jugend schändlich betrogen wurde – dem die zuvorkommende Gnade den Kopf verrückte. –

Aber der Frühling kam wieder heran, und die Natur, die alles heilet, fing auch hier allmählich an, wieder gutzumachen, was die Gnade verdorben hatte.

Anton fühlte neue Lebenskraft in sich; er wusch sich, und seine Hände rauchten wieder – es heulten keine Hunde mehr – das Huhn hörte auf zu krähen – und der Pastor Paulmann hielt keine Todespredigten mehr. –

Anton fing wieder an, des Sonntags für sich allein spazieren zu gehen, und einmal fügte es sich, daß er, ohne es erst selbst zu wissen, gerade an das Tor kam, wo er vor ohngefähr anderthalb Jahren mit seinem Vater zuerst von Hannover eingewandert war. Er konnte sich nicht enthalten, hinauszugehn und die mit Weiden bepflanzte breite Heerstraße zu verfolgen, die er damals gekommen war. Sonderbare Empfindungen entwickelten sich dabei in seiner Seele. – Sein ganzes Leben von jener Zeit an – da er zuerst die Schildwache auf dem hohen Walle hin und her gehend erblickte und sich allerlei Vorstellungen machte, wie nun wohl die Stadt inwendig aussehen und wie das Lobensteinsche Haus beschaffen sein würde – stand jetzt auf einmal in seiner Erinnerung da. – Es war ihm, als ob er aus einem Traume erwachte – und nun wieder auf dem Flecke wäre, wo der Traum anhub; – alle die abwechselnden Szenen seines Lebens, die er diese anderthalb Jahre hindurch in Braunschweig gehabt hatte, drängten sich dicht ineinander, und die einzelnen Bilder schienen sich nach einem größern Maßstabe, den seine Seele auf einmal erhielt, zu verkleinern. –

So mächtig wirkt die Vorstellung des Orts, woran wir alle unsre übrige Vorstellungen knüpfen. – Die einzelnen Straßen und Häuser, die Anton täglich wieder sahe, waren das Bleibende in seinen Vorstellungen, woran sich das immer Abwechselnde in seinem Leben anschloß, wodurch es Zusammenhang und Wahrheit erhielt, wodurch er das Wachen vom Träumen unterschied. –

In der Kindheit ist es insbesondre nötig, daß alle übrigen Ideen sich an die Ideen des Orts anschließen, weil sie gleichsam in sich noch zu wenig Konsistenz haben und sich an sich selber noch nicht festhalten können.

Es fällt daher auch würklich in der Kindheit oft schwer, das Wachen vom Traume zu unterscheiden; und ich erinnere mich, daß einer unserer größten jetztlebenden Philosophen mir in dieser Rücksicht eine sehr merkwürdige Beobachtung aus den Jahren seiner Kindheit erzählet hat.

Er war wegen einer gewissen bösen Angewohnheit, die bei Kindern sehr gewöhnlich ist, oft mit der Rute gezüchtigt worden. Es hatte ihn aber, wie es auch gewöhnlich ist, immer sehr lebhaft geträumet, er habe sich an die Wand gestellt und ... Wenn er sich nun manchmal bei Tage zu dem Ende wirklich an die Wand gestellt hatte, so fiel ihm die harte Züchtigung ein, die er so oft erlitten hatte, – und er stand oft lange an, ehe er es wagte, einem dringenden Bedürfnis der Natur ein Gnüge zu tun, weil er befürchtete, es möchte wieder ein Traum sein, für den er wieder eine scharfe Züchtigung erwarten müßte – bis er sich erst allenthalben umgesehen und dann auch in Ansehung der Zeit zurückgerechnet hatte, ehe er sich völlig überzeugen konnte, daß er nicht träume.

Auch pflegt man des Morgens beim Erwachen oft noch halb zu träumen, und der Übergang zum Wachen wird allmählich dadurch gemacht, daß man erst anfängt, sich zu orientieren, und wenn man denn nur erst einmal den hellen Schein des Fensters gefaßt hat, so ordnet sich nach und nach alles übrige von selber.

Daher war es sehr natürlich, daß Anton, nachdem er schon einige Wochen in Braunschweig im Lobensteinschen Hause war, des Morgens noch immer glaubte, er träume, wenn er schon wirklich wachte, weil der Stift, woran er sonst immer des Morgens beim Erwachen die Ideen vom vorigen Tage sowohl als von seinem vorigen Leben anknüpfte, und wodurch sie erst Zusammenhang und Wahrheit erhielten, nun gleichsam verrückt war; weil die Idee des Orts nicht mehr dieselbe war.

Ist es also wohl zu verwundern, wenn die Veränderung des Orts oft so vieles beiträgt, uns dasjenige, was wir uns nicht gern als wirklich denken, wie einen Traum vergessen zu machen?

In spätern Jahren und insbesondre, wenn man viel gereist ist, verliert sich dies Anschließen der Ideen an den Ort in etwas. Wo man hinkömmt, sieht man entweder Dächer, Fenster, Türen, Steinpflaster, Kirchen und Türme, oder man sieht Wiese, Wald, Acker oder Heide. – Die auffallenden Unterschiede verschwinden; die Erde wird sich überall gleich. –

Wenn Anton in Braunschweig auf der Straße ging, so war es ihm besonders des Abends im Anfange der Dämmerung manchmal plötzlich wie im Traume. – Auch pflegte sich dies bei ihm zu ereignen, wenn er in irgendeine Straße ging, die ihm eine entfernte Ähnlichkeit mit einer Straße in Hannover zu haben schien. – Dann deuchte ihm einige Augenblicke sein Zustand in Hannover wieder gegenwärtig; die Szenen seines Lebens verwirreten sich untereinander.

Bei seinen Spaziergängen fand er nun immer einen besondern Reiz darin, Gegenden in der Stadt aufzusuchen, wo er noch gar nicht gewesen war. Seine Seele erweiterte sich dann immer, es war ihm, als ob er aus dem engen Kreise seines Daseins einen Sprung gewagt hätte; die alltäglichen Ideen verloren sich, und große angenehme Aussichten, Labyrinthe der Zukunft eröffneten sich vor ihm.

Allein es war ihm noch nie gelungen, sein ganzes Leben in Braunschweig mit allen seinen mannigfaltigen Veränderungen in einen einzigen vollen Blick zusammenzufassen. Der Ort, wo er sich jedesmal befand, erinnerte ihn immer zu stark an irgendeinen einzelnen Teil desselben, als daß noch für das Ganze in seiner Denkkraft Platz gewesen wäre; er drehete sich mit seinen Vorstellungen immer in einem engen Zirkel seines Daseins herum.

Um von dem Ganzen seines hiesigen Lebens ein anschauliches Bild zu haben, war es nötig, daß gleichsam alle die Fäden abgeschnitten wurden, die seine Aufmerksamkeit immer an das Momentane, Alltägliche und Zerstückte desselben hefteten; und daß er zugleich in den Standpunkt wieder versetzt wurde, aus welchem er sein Leben in Braunschweig betrachtete, ehe er es anfing, da es noch wie eine dämmernde Zukunft vor ihm lag.

In diesen Standpunkt wurde er nun gerade versetzt, da er zufälligerweise aus dem Tore ging, durch welches er vor ohngefähr anderthalb Jahren auf der breiten, mit Weiden bepflanzten Heerstraße hereingekommen war und die Schildwache auf dem hohen Walle hatte hin und her gehen sehen.

Dieser Ort mußte es gerade sein, der ihn durch die plötzliche Erinnerung an tausend Kleinigkeiten gerade in den Zustand wieder zu versetzen schien, worin er sich unmittelbar vor dem Anfange seines hiesigen Lebens befand. – Alles, was dazwischen lag, mußte sich nun in seiner Einbildungskraft zusammendrängen, wie Schatten ineinandergehen, einem Traum ähnlich werden. Denn sein jetziges Dastehen auf der Brücke und den Hohen-Wall-hinaufsehen, wo die Schildwache stand, schloß sich dicht an sein Dastehen und den Hohen-Wall-hinaufsehen vor anderthalb Jahren an. Die Vergangenheit, alle die Szenen des Lebens, das Anton in Braunschweig geführet hatte, stellte er sich jetzt wieder vor, wie er sie sich damals vor anderthalb Jahren noch als zukünftig gedacht hatte, und die zu lebhafte Vorstellung und Wiedererinnerung des Orts machte, daß die Erinnerung an den Zwischenraum der Zeit, welche unterdes verflossen war, verlosch oder schwächer wurde – anders wenigstens läßt sich wohl schwerlich das Phänomen jener sonderbaren Empfindung erklären, die Anton damals hatte, und die ein jeder wenigstens einige Male in seinem Leben gehabt zu haben sich erinnern wird.

Mehr als zehnmal stand Anton auf dem Punkte, nicht wieder in die Stadt zurückzukehren, sondern gerade den Weg vor sich hin wieder nach Hannover zu gehen, wenn ihn nicht der Gedanke an Hunger und Kälte wieder zurückgeschreckt hätte.

Aber von dem Tage an blieb der Vorsatz fest bei ihm, im Lobensteinschen Hause nicht länger mehr zu bleiben, es koste auch, was es wolle. Er wurde daher auch gegen alles gleichgültiger, weil er sich vorstellte, daß es nun nicht lange mehr so dauren würde. Lobenstein selbst fing nun an, seiner so überdrüssig zu werden, daß er endlich nach Hannover an Antons Vater schrieb, dieser möchte seinen Sohn, mit dem nichts anzufangen wäre, nur immer wieder abholen.

Nichts hätte für Anton erwünschter sein können als die Nachricht, daß sein Vater ihn nun mit nächsten wieder zu Hause holen würde. – In eine Schule, schloß er, müsse er doch in Hannover auf alle Fälle geschickt werden, ehe er zum Abendmahl zugelassen würde, und dann wollte er sich schon so auszeichnen, daß man aufmerksam auf ihn werden solle. – So sehr er vorher nach Braunschweig zu kommen gestrebt hatte, so sehr verlangte ihn jetzt nach Hannover wieder zurück, und er wiegte sich nun aufs neue in angenehmen Träumen von der Zukunft ein.

Ohngeachtet seiner harten Lage aber waren ihm dennoch viele Dinge in Braunschweig sehr lieb geworden, so daß sich in seine angenehmen Hoffnungen oft eine Wehmut mischte, die ihn in eine sanfte Melancholie versetzte. – Oft stand er einsam an der Oker und sahe irgendeinem vorbeifahrenden kleinen Kahne nach, soweit er ihn mit den Augen verfolgen konnte – dann war es ihm oft plötzlich, als habe er einen Blick in die dunkle Zukunft getan, aber wenn er eben das angenehme Blendwerk festzuhalten glaubte, so war es auf einmal verschwunden.

Er suchte sich nun an allen Gegenden der Stadt, die er bisher auf seinen Spaziergängen des Sonntags besucht hatte, gleichsam noch einmal zu letzen und nahm von einer nach der andern wehmütig Abschied, so wie er sie nie wieder zu sehen hoffte.

Er hörte von dem Pastor Paulmann noch verschiedne Predigten, worin manche einzelne Stellen nie aus seinem Gedächtnis gekommen sind. –

Ganz außerordentlich rührte ihn in einer Predigt vom Leiden Jesu der immersteigende Affekt, womit der Pastor Paulmann die Worte sagte: mitleidsvoll sieht er auf seine Mörder herab, und betet, und betet, und betet – Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!

Und in einer Predigt über die Beichte, welche über das Evangelium vom Aussätzigen gehalten wurde, der sich dem Priester zeigen sollte, die Anrede an die Heuchler, die alle äußere Gebräuche der Religion gewissenhaft beobachten und doch ein feindseliges Herz im Busen tragen, und wo sich jeder Periode anfing mit: ihr kommt in den Beichtstuhl, ihr zeiget euch dem Priester, aber er kann in euer Herz nicht schauen usw. – Dann wurde in dieser Predigt auch oft ein Ausdruck wiederholt, der für Anton außerordentlich rührend war, dieser klang ihm als: »ihr kommt in den Heben«. – Das letzte Wort nämlich, was immer verschlungen wurde, so daß er es nicht recht verstehen konnte, klang ihm wie Heben, und dies Wort oder dieser Laut rührte ihn bis zu Tränen, so oft er wieder daran dachte.

Ebenso reizend klang ihm der Ausdruck, der sehr oft in den Predigten des Pastor Paulmann vorkam. ›Die Höhen der Vernunft‹ – dies hatte aber seine besondern Ursachen, deren Entwickelung nicht unnütz sein wird. Das Chor in der Kirche, wo die Orgel war und die Schüler sangen, schien ihm immer etwas für ihn Unerreichbares zu sein; sehnsuchtsvoll blickte er oft dahin auf und wünschte sich keine größere Glückseligkeit, als nur einmal den wunderbaren Bau der Orgel und was sonst da war, in der Nähe betrachten zu können, da er dies alles jetzt nur in der Ferne anstaunen durfte. – Diese Phantasie war mit einer andern verwandt, die er noch aus Hannover mitgebracht hatte – schon dort war ein gewisser Turm für ihn immer ein äußerst reizender Gegenstand gewesen; er betrachtete ihn mit Entzücken und beneidete oft die Stadtmusikanten, die oben auf der Galerie standen, um des Morgens und Abends hinunter zu blasen.

Stundenlang konnte er diese Galerie betrachten, die ihm von unten so klein schien, daß sie ihm nicht bis an die Knie reichen würde, und über welche doch kaum die Köpfe der blasenden Stadtmusikanten hervorragten; und vollends das Zifferblatt, welches nach der Versicherung verschiedner Leute, die oben gewesen waren, so groß sein sollte wie ein Wagenrad, und ihm doch unten nicht größer als irgendein Rad in einem Schiebkarren vorkam. – Dies alles erregte seine Neugierde im höchsten Grade, so daß er oft ganze Tage lang mit nichts als dem Gedanken und dem Wunsch umging, diese Galerie und dies Zifferblatt einmal in der Nähe betrachten zu können.

Nun konnte man auf dem Turme in Hannover durch die Schallöcher, welche über der Galerie offen standen, auch die Glocken treten sehen; und Anton verschlang beinahe mit seinen Augen dieses ihm ganz neue Schauspiel, da er die große metallne Maschine, die den alles erschütternden Klang verursachte, unter den Füßen der ganz klein scheinenden Leute, die in dieser Höhe standen und auf die Balken traten, wechselsweise in die Höhe steigen sahe.

Es war ihm, als habe er in das innerste Eingeweide des Turms geblickt, und als habe sich ihm das geheimnisvolle Triebwerk des wunderbaren Schalles, den er so oft mit Rührung vernommen hatte, nun in der Ferne enthüllt. – Allein seine Neugierde wurde hierdurch nur noch mehr erregt, statt befriedigt zu werden – er hatte nur die eine Hälfte der Glocke, die sich mit ihrer ungeheuren Wölbung emporhub, und nicht ihren ganzen Umfang gesehen – von der Größe dieser Glocke hatte er von Kindheit an gehört, und seine Einbildungskraft vergrößerte das Bild in seiner Seele noch zu unzähligen Malen, so daß er sich davon die romanhaftesten und ausschweifendsten Ideen machte.

Bei seinen Schmerzen nun, die er am Fuße erduldete; bei aller Bedrückung von seinen Eltern, worunter er seufzte; was war sein Trost? was war der angenehmste Traum seiner Kindheit? was sein sehnlichster Wunsch, über den er oft alles vergaß? – – Was anders, als die nahe Beschauung des Zifferblatts und der Galerie am neustädtischen Turme in Hannover und der Glocken, die darin hingen.

Länger als ein Jahr hindurch versüßte ihm dies Spiel seiner Phantasie die trübsten Stunden seines Lebens – aber ach, er mußte Hannover verlassen, ohne seines sehnlichsten Wunsches gewährt zu werden. – – Doch das Bild vom neustädtischen Turme wich nie aus seinen Gedanken, es verfolgte ihn nach Braunschweig und schwebte ihm dort oft in nächtlichen Träumen auf hohen Treppen in tausend labyrinthischen Krümmungen vor, wo er den Turm hinaufstieg, auf der Galerie stand, und mit unaussprechlichem Vergnügen das Zifferblatt am Turme betastete und dann inwendig nicht nur die große Glocke, sondern noch unzählige andre kleinere nebst mehr wunderbaren Dingen dicht vor Augen sahe, bis er etwa mit dem Kopfe an den unübersehbaren Rand der großen Glocke stieß und erwachte.

So oft nun der Pastor Paulmann von den ›Höhen der Vernunft‹ sprach, so dachte Anton mit Entzücken an die Höhen seines geliebten Turms, an die Glocke darin und an das Zifferblatt – und dann auch an das hohe Chor, worauf die Orgel in der Brüdernkirche stand – dann erwachte auf einmal alle seine Sehnsucht wieder, und der Ausdruck ›die Höhen der Vernunft‹ preßte ihm Tränen der Wehmut aus den Augen.

Der eigentliche abhandelnde Teil von den Predigten des Pastor Paulmann, wo derselbe mit erstaunlicher Geschwindigkeit sprach, war für Anton freilich verloren, weil er ihm mit seinen Gedanken unmöglich folgen konnte. In der Hoffnung aber auf den ermahnenden Teil hörte er ihn dennoch mit Vergnügen an – es war ihm dann, als wenn sich nun erst die Wolken zusammenzögen, die bald in ein wohltätiges Gewitter oder einen sanften Regen ausbrechen würden.

Nun ging er aber einmal mit dem Gedanken in die Kirche, die Predigt des Pastor Paulmann zu Hause aufzuschreiben, und auf einmal war es, als ob es, indem er zuhörte, in seiner Seele licht wurde, seine Aufmerksamkeit hatte eine neue Richtung erhalten – vorher hatte er mit dem Herzen zugehört, jetzt hörte er zum ersten Male mit dem Verstande zu – er wollte nicht nur durch einzelne Stellen erschüttert werden, sondern das Ganze der Predigt fassen, und nun fing er an, den abhandelnden Teil ebenso interessant als den ermahnenden Teil zu finden. – Die Predigt handelte von der Nächstenliebe, wie glücklich die Menschen sein würden, wenn jeder das Wohl aller übrigen und alle übrige das Wohl jedes einzelnen zu befördern suchten. – Nie ist ihm diese Predigt mit allen ihren Abteilungen und Unterabteilungen aus dem Gedächtnis gekommen, die er mit dem Vorsatz hörte, um sie aufzuschreiben, welches er tat, sobald er zu Hause kam und den August, dem er es nun vorlas, sehr dadurch in Verwunderung setzte.

Das Aufschreiben dieser Predigt hatte gleichsam eine neue Entwickelung seiner Verstandeskräfte bewirkt. – Denn von der Zeit fingen seine Ideen an sich allmählich untereinander zu ordnen – er lernte selbst für sich über einen Gegenstand nachdenken – er suchte die Reihe seiner Gedanken wieder außer sich darzustellen, und weil er sie niemanden sagen konnte, so machte er schriftliche Aufsätze, die denn freilich oft sonderbar genug waren. – Denn hatte er vorher mit Gott mündlich gesprochen, so fing er nun an, mit ihm zu korrespondieren, und schrieb lange Gebete an ihn, worin er ihm seinen Zustand schilderte.

Er fühlte sich jetzt um so mehr zu schriftlichen Aufsätzen gedrungen, weil es ihm gänzlich an aller Lektüre fehlte – denn Lobenstein hatte ihm schon lange kein Buch mehr in die Hände gegeben, ausgenommen Engelbrechts, eines Tuchmachergesellen zu Winsen an der Aller Beschreibung von dem Himmel und der Hölle, welches er ihm geschenkt hatte. –

Einen ärgern Aufschneider kann es nun wohl in der Welt nicht mehr geben, als dieser Engelbrecht gewesen sein muß, von dem man geglaubt hatte, daß er wirklich tot wäre, und der nun, nachdem er sich wieder erholt hatte, seiner alten Großmutter weismachte, er sei wirklich im Himmel und in der Hölle gewesen; diese hatte es dann weiter erzählt, und so war dies köstliche Buch entstanden.

Der Kerl entblödete sich nicht zu behaupten, er sei mit Christo und den Engeln Gottes bis dicht unter dem Himmel geschwebt und habe da die Sonne in die eine und den Mond in die andre Hand genommen und am Himmel die Sterne gezählt.

Demohngeachtet waren seine Vergleichungen zuweilen ziemlich naiv – so verglich er z. B. den Himmel mit einer köstlichen Weinsuppe, wovon man auf Erden nur wenige Tropfen gekostet hat und die man alsdenn mit Löffeln essen könne – und die himmlische Musik war ebenso weit über die irdische Musik erhaben als ein schönes Konzert über das Geleier eines Dudelsacks oder über das Tüten eines Nachtwächterhorns.

Und was ihm für Ehre im Himmel widerfahren war, davon konnte er nicht genug rühmen.

In Ermangelung besserer Nahrung mußte sich nun Antons Seele mit dieser losen Speise begnügen, und wenigstens wurde doch seine Einbildungskraft dadurch beschäftigt, – sein Verstand blieb gleichsam neutral dabei – er glaubte es weder, noch zweifelte er daran; er stellte sich das alles bloß lebhaft vor.

Indes ging jetzt Lobensteins Unwillen und Haß gegen ihn häufig bis zu Scheltworten und Schlägen; er verbitterte ihm sein Leben auf die grausamste Weise; er ließ ihn die niedrigensten und demütigendsten Arbeiten tun. – Nichts aber war für Anton kränkender, als wie er zum ersten Male in seinem Leben eine Last auf dem Rücken, und zwar einen Tragkorb mit Hüten bepackt, über die öffentliche Straße tragen mußte, indem Lobenstein vor ihm herging – es war ihm, als ob alle Menschen auf der Straße ihn ansähen.

Jede Last, die er vor sich oder unter dem Arme oder an den Händen tragen konnte, schien ihm vielmehr ehrenvoll zu sein, als daß er glaubte, sie mache ihm Schande. – Nur daß er itzt gebückt gehen, seinen Nacken unter das Joch beugen mußte wie ein Lasttier, indes sein stolzer Gebieter vor ihm herging, das beugte zugleich seinen ganzen Mut darnieder und erschwerte ihm die Last tausendmal. Er glaubte sowohl vor Müdigkeit als vor Scham in die Erde sinken zu müssen, ehe er mit seiner Bürde an den bestimmten Ort kam.

Dieser bestimmte Ort war das Zeughaus, wo die Hüte, welche Kommißarbeit waren, abgeliefert wurden. – Nicht sehnlicher hatte sich Anton gewünscht, die Glocken und das Zifferblatt auf dem neustädtischen Turm in Hannover als dies Zeughaus inwendig zu sehen, vor welchem er so oft, ohne seinen Wunsch befriedigen zu können, vorbeigegangen war. Aber wie sehr wurde ihm itzt dies Vergnügen versalzen, da er es in solchem Zustande zu sehen bekam.

Dies Tragen auf dem Rücken schwächte seinen Mut mehr als irgendeine Demütigung, die er noch erlitten hatte, und mehr als Lobensteins Scheltworte und Schläge. Es war ihm, als ob er nun nicht tiefer sinken könne; er betrachtete sich beinahe selbst als ein verächtliches, weggeworfenes Geschöpf. Es war dies eine der grausamsten Situationen in seinem ganzen Leben, an die er sich nachher, so oft er ein Zeughaus sahe, lebhaft wieder erinnerte, und deren Bild wieder in ihm aufstieg, sooft er das Wort Unterjochung hörte.

Wenn ihm so etwas begegnet war, so suchte er sich vor allen Menschen zu verbergen; jeder Laut der Freude war ihm zuwider; er eilte auf das Plätzchen hinter dem Hause an die Oker hin und blickte oft stundenlang sehnsuchtsvoll in die Flut hinab. – Verfolgte ihn dann selbst da irgendeine menschliche Stimme aus einem der benachbarten Häuser, oder hörte er singen, lachen oder sprechen, so deuchte es ihm, als treibe die Welt ihr Hohngelächter über ihn, so verachtet, so vernichtet glaubte er sich, seitdem er seinen Nacken unter das Joch eines Tragkorbes gebeugt hatte.

Es war ihm denn eine Art von Wonne, selbst in das Hohngelächter mit einzustimmen, das er seiner schwarzen Phantasie nach über sich erschallen hörte – in einer dieser fürchterlichen Stunden, wo er über sich selbst in ein verzweiflungsvolles Hohngelächter ausbrach, war der Lebensüberdruß bei ihm zu mächtig, er fing auf dem schwachen Brette, worauf er stand, an zu zittern und zu wanken. – Seine Knie hielten ihn nicht mehr empor; er stürzte in die Flut – August war sein Schutzengel; er hatte schon eine Weile unbemerkt hinter ihm gestanden und zog ihn beim Arm wieder heraus – es waren demohngeachtet mehr Leute dazu gekommen – das ganze Haus lief zusammen, und Anton wurde von dem Augenblick an als ein gefährlicher Mensch betrachtet, den man so bald wie möglich aus dem Hause fortschaffen müsse. – Lobenstein schrieb den Vorfall sogleich an Antons Vater, und dieser kam vierzehn Tage darauf mit unmutsvoller Seele nach Braunschweig, um seinen mißratenen Sohn, in dessen Herzen sich nach dem Urteil des Herrn von Fleischbein der Satan einen unzerstörbaren Tempel aufgebauet hatte, nach Hannover wieder abzuholen.

Er hielt sich noch ein paar Tage bei dem Hutmacher Lobenstein auf, während welcher Zeit Anton noch mit verdoppeltem Eifer in Gegenwart seines Vaters alle seine Geschäfte verrichtete und eine Beruhigung darin suchte, noch zuletzt alles zu tun, was in seinen Kräften stand. Von der Werkstatt, von der Trockenstube, vom Holzboden und von der Brüdernkirche nahm er nun in Gedanken Abschied – und seine allerangenehmste Vorstellung, wenn er wieder nach Hannover kommen würde, war, daß er dann seiner Mutter von dem Pastor Paulmann würde erzählen können.

Je näher die Abschiedsstunde herannahte, desto leichter wurde ihm ums Herz. – Er sollte nun bald aus seiner engen drückenden Lage herauskommen. – – Die weite Welt eröffnete sich wieder vor ihm.

Von August war der Abschied zärtlich, von Lobenstein kalt wie Eis – es war an einem Sonntagnachmittage bei trübem Himmel, da Anton mit seinem Vater wieder aus dem Lobensteinschen Hause ging – er blickte die schwarze Türe mit den großen eingeschlagenen Nägeln noch einmal an und wandte ihr getrost den Rücken, um wieder aus dem Tore zu wandern, vor welchem er vor kurzem noch einen so interessanten Spaziergang gemacht hatte. – Die hohen Wälle der Stadt und der Andreasturm waren bald aus seinem Gesicht verschwunden, und er sahe nur noch den Brocken in der Ferne mit Schnee bedeckt in trüber Dämmerung sich in den dicht aufliegenden Wolken verlieren.

Das Herz seines Vaters war gegen ihn kalt und verschlossen; denn dieser betrachtete ihn völlig mit den Augen des Hutmacher Lobenstein und des Herrn von Fleischbein, als einen, in dessen Herzen der Satan einmal seinen Tempel errichtet habe – es wurde unterwegs wenig gesprochen, sondern sie wanderten immer stillschweigend fort, und Anton bemerkte kaum die Länge des Weges, auf eine so angenehme Art unterhielt er sich mit seinen Gedanken, – wenn er nun seine Mutter und seine Brüder wiedersehen und ihnen seine Schicksale würde erzählen können.

Die vier schönen Türme von Hannover ragten endlich wieder hervor – und wie einen Freund, den man nach langer Trennung wieder sieht, betrachtete Anton den neustädtischen Turm, und seine Glockenliebe erwachte auf einmal wieder. –

Er sahe sich nun wieder in den Mauern von Hannover, und alles war ihm neu – seine Eltern hatten eine andre kleinere und dunklere Wohnung auf einer abgelegenen Straße bezogen – das war ihm alles so fremd, indem er die Treppen hinaufstieg, als ob er da unmöglich zu Hause gehören könne. – Allein so kalt und abschreckend das Betragen seines Vaters gegen ihn gewesen war, so laut und ausbrechend war itzt die Freude, womit ihm seine Mutter und Brüder entgegen eilten, die seine von Frost aufgesprungenen Hände besahen, und von denen er nun zum erstenmal wieder bedauert wurde.

Als er am andern Tage ausging, besuchte er alle die bekannten Plätze, wo er sonst gespielt hatte – es war ihm, als sei er während der Zeit alt geworden, und als wollte er sich nun an die Jahre seiner Jugend zurück erinnern – ihm begegnete ein Trupp seiner ehemaligen Mitschüler und Spielkameraden, die ihm alle die Hände drückten und sich über seine Wiederkunft freueten.

Und sobald er nur mit seiner Mutter allein war, was konnte er wohl anders tun, als ihr von dem Pastor Paulmann erzählen? – Sie hatte ohnedem eine unbegrenzte Ehrfurcht gegen alles Priesterliche und konnte mit Anton recht gut in seinen Gefühlen für den Pastor Paulmann sympathisieren. – O welche selige Stunden waren das, da Anton so sein Herz ausschütten und stundenlang von dem Manne sprechen konnte, gegen den er unter allen Menschen auf Erden die meiste Liebe und Achtung hatte.

Er hörte nun die hannoverschen Prediger, aber welch ein Abstand! Unter allen fand er keinen Paulmann, einen ausgenommen namens N..., der, wenn er im heftigen Affekt sprach, einige Ähnlichkeit mit ihm hatte. –

Kein Prediger konnte bei Anton Beifall finden, wenn er nicht wenigstens so geschwind wie der Pastor Paulmann sprach, – und ich weiß nicht, wenn der Prediger als Redner betrachtet wird, ob er denn so ganz unrecht hatte? – Der Lehrer muß langsam, der Redner muß geschwind sprechen. – Der Lehrer soll allmählich den Verstand erleuchten, der Redner unwiderstehlich in das Herz eindringen – mit dem Verstande muß man langsam, mit dem Herzen schnell zu Werke gehen, wenn man seines Zweckes nicht verfehlen will – freilich wird der immer ein schlechter Lehrer sein, der nicht zuweilen Redner wird, und der ein schlechter Redner, der nicht zuweilen Lehrer wird – aber wenn Fox im englischen Parlamente spricht, so geschieht es mit einer Geschwindigkeit, die ihresgleichen nicht hat, und in diesem brausenden Strome reißt er alles mit sich fort und erschüttert die Seelen seiner Zuhörer, wie es der Pastor Paulmann durch seine Meineidspredigt tat.

Einen Prediger namens Marquard an der Garnisonkirche in Hannover hörte Anton eines Sonntags mit dem größten Widerwillen predigen, weil derselbe auch nicht die mindeste Ähnlichkeit mit dem Pastor Paulmann hatte, sondern in Ansehung seiner etwas langsamen und bequemen Sprache fast gerade das Gegenteil von ihm war. Anton konnte sich nicht enthalten, da er zu Hause kam, gegen seine Mutter eine Art von Haß zu äußern, den er auf diesen Prediger geworfen hatte – aber wie erstaunte er, als diese ihm sagte, daß er bei eben diesen Prediger würde zum Religionsunterricht und Beichte und Abendmahl gehen müssen, weil er ihr Beichtvater wäre, und sie zu seiner Gemeine gehörte.

Wem hätte es Anton geglaubt, daß er diesen Mann, gegen den er damals eine unwiderstehliche Abneigung empfand, einmal würde lieben können, daß dieser einmal sein Freund, sein Wohltäter werden würde?

Indes ereignete sich ein Vorfall, der Antons Seele, die schon zur Schwermut geneigt war, in eine noch traurigere Stimmung versetzte: seine Mutter wurde tödlich krank und schwebte vierzehn Tage lang in Lebensgefahr. – Was Anton dabei empfand, läßt sich nicht beschreiben. – Es war ihm, als ob er in seiner Mutter sich selbst absterben würde, so innig war sein Dasein mit dem ihrigen verwebt. – Ganze Nächte durch weinte er oft, wenn er gehört hatte, daß der Arzt die Hoffnung zur Genesung aufgab. – Es war ihm, als sei es schlechterdings nicht möglich, daß er den Verlust seiner Mutter würde ertragen können. – Was war natürlicher, da er von aller Welt verlassen war und sich nur noch in ihrer Liebe und in ihrem Zutrauen wieder fand.