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Anton Reiser. Ein psychologischer Roman.

von Karl Philipp Moritz

Zweiter Teil

Der Direktor Ballhorn war wirklich ein Mann, welcher einem jeden, der ihn sahe, Ehrfurcht und Liebe einzuflößen imstande war. Er kleidete sich zierlich und doch anständig, trug sich edel, war wohlgebildet, hatte die heiterste Miene, worin ihm sooft er wollte der strengste Ernst zu Gebote stand. Er war ein Schulmann, gerade wie er sein sollte, um von diesem Stande die Verachtung der feinen Welt, womit die gewöhnliche Pedanterie desselben belegt ist, abzuwälzen.

Wie es nun kam, daß er Reisern Reiserus nannte, mag der Himmel wissen, gnug, er nannte ihn so, und es schmeichelte Reisern nicht wenig, auf die Weise seinen Namen zum erstenmal in us umgetauft zu sehen. – Da er mit dieser Endigung der Namen immer die Idee von Würde und einer erstaunenswürdigen Gelehrsamkeit verknüpft hatte und sich nun schon im Geiste den gelehrten und berühmten Reiserus nennen hörte.

Diese Benennung, womit er so zufälligerweise von dem Direktor Ballhorn beehrt wurde, ist ihm nachher auch oft wieder eingefallen und manchmal mit ein Sporn zum Fleiße gewesen; denn mit dem us an seinem Namen erwachte auf einmal die ganze Reihe von Vorstellungen, einmal ein berühmter Gelehrter zu werden, wie Erasmus Roterodamus und andere, deren Lebensbeschreibungen er zum Teil gelesen und ihre Bildnisse in Kupfer gestochen gesehen hatte.

Am Abend ging er nun zu dem armen Schuster und wurde wenigstens mit freundlichern Blicken als von der Frau des Garnisonküsters empfangen. Der Schuster Heidorn, so hieß sein Wohltäter, hatte die Schriften des Taulerus und andre dergleichen gelesen und redete daher eine Art von Büchersprache, wobei er manchmal einen gewissen predigenden Ton annahm. Gemeiniglich zitierte er einen gewissen Periander, wenn er etwas behauptete, als: Der Mensch muß sich nur Gott hingeben, sagt Periander – und so sagte alles, was der Schuster Heidorn sagte, auch dieser Periander, der im Grunde nichts als eine allegorische Person war, die in Bunians Christenreise oder sonst irgendwo vorkommt. Aber Reisern klang der Name Periander so süß in seinen Ohren. – Er dachte sich dabei etwas Erhabenes, Geheimnisvolles und hörte den Schuster Heidorn immer gern von Periander sprechen.

Der gute Heidorn hatte ihn aber etwas zu spät aufgehalten, und als er zu Hause kam, hatten sein Wirt und seine Wirtin schon ihren Abendsegen gelesen und nicht unmittelbar darauf zu Bette gehen können, welches seit Jahren nicht geschehen sein mochte. Dies war denn Ursach, daß Reiser ziemlich kalt und finster empfangen wurde und sich an diesem Tage, dem er so lange voll sehnlicher Erwartung entgegengesehen hatte, mit traurigem Herzen niederlegen mußte.

Diese Woche mußte er nun zum ersten Male herumessen und machte am Montage bei dem Garkoch den Anfang, wo er sein Essen unter den übrigen Leuten, die bezahlten, bekam, und man sich weiter nicht um ihn bekümmerte. – Dies war, was er wünschte, und er ging immer mit leichterem Herze hieher.

Den Dienstag Mittag ging er zu dem Schuster Schantz, wo seine Eltern im Hause gewohnt hatten, und wurde auf das liebreichste und freundlichste empfangen. Die guten Leute hatten ihn als ein kleines Kind gekannt, und die alte Mutter des Schusters Schantz hatte immer gesagt, aus dem Jungen wird noch einmal etwas – und nun freute sie sich, daß ihre Prophezeiung einzutreffen schien. Und wenn es Reiser je nicht fühlte, daß er fremdes Brot aß, so war es an diesem gastfreundlichen Tische, wo er oft nachher seines Kummers vergessen hat und mit heitrer Miene wieder wegging, wenn er traurig hingegangen war. Denn mit dem Schuster Schantz vertiefte er sich immer in philosophischen Gesprächen, bis die alte Mutter sagte: Nun Kinder, so hört doch einmal auf und laßt das liebe Essen nicht kalt werden. O, was war der Schuster Schantz für ein Mann! Von ihm konnte man mit Wahrheit sagen, daß er vom Lehrstuhle die Köpfe der Leute hätte bilden sollen, denen er Schuh machte. – Er und Reiser kamen oft in ihren Gesprächen ohne alle Anleitung auf Dinge, die Reiser nachher als die tiefste Weisheit in den Vorlesungen über die Metaphysik wiederhörte, und er hatte oft schon stundenlang mit dem Schuster Schantz darüber gesprochen. – Denn sie waren ganz von selbst auf die Entwickelung der Begriffe von Raum und Zeit, von subjektivischer und objektivischer Welt usw. gekommen, ohne die Schulterminologie zu wissen, sie halfen sich dann mit der Sprache des gemeinen Lebens, so gut sie konnten, welches oft sonderbar genug herauskam, – kurz, bei dem Schuster Schantz vergaß Reiser alles Unangenehme seines Zustandes, er fühlte sich hier gleichsam in die höhere Geisterwelt versetzt und sein Wesen wieder veredelt, weil er jemanden fand, mit dem er sich verstehn und Gedanken gegen Gedanken wechseln konnte. Die Stunden, welche er hier bei den Freunden seiner Kindheit und seiner Jugend zubrachte, waren gewiß damals die angenehmsten seines Lebens. Hier war es allein, wo er sich mit völligem Zutrauen gewissermaßen wie zu Hause fühlte.

Am Mittwoch aß er denn bei seinem Wirt, wo das wenige, was er genoß, so gut es auch diese Leute übrigens mit ihm meinen mochten, ihm doch fast jedesmal so verbittert wurde, daß er sich vor diesem Tage fast mehr wie vor allen andern fürchtete. Denn an diesem Mittage pflegte seine Wohltäterin, die Frau Filter, immer nicht geradezu, sondern nur in gewissen Anspielungen, indem sie zu ihrem Manne sprach, Reisers Betragen durchzugehen, ihm die Dankbarkeit gegen seine Wohltäter einzuschärfen und etwas von Leuten mit einfließen zu lassen, die sich angewöhnt hätten, sehr viel zu essen und am Ende gar nicht mehr zu sättigen gewesen wären. – Reiser hatte damals, da er in seinem vollen Wachstum war, wirklich sehr guten Appetit, allein mit Zittern steckte er jeden Bissen in den Mund, wenn er dergleichen Anspielungen hörte. Bei der Frau Filter geschahe es nun wirklich nicht sowohl aus Geiz oder Neid, daß sie dergleichen Anspielungen machte, sondern aus dem feinen Gefühl von Ordnung, welches dadurch beleidiget wurde, wenn jemand ihrer Meinung nach zu viel aß. – Sie pflegte denn auch wohl von Gnadenbrünnlein und Gnadenquellen zu reden, die sich verstopften, wenn man nicht mit Mäßigkeit daraus schöpfte.

Die Frau des Hofmusikus, welche ihm am Donnerstag zu essen gab, war zwar dabei etwas rauh in ihrem Betragen, quälte ihn aber doch dadurch lange nicht so als die Frau Filter mit aller ihrer Feinheit. – Am Freitage aber hatte er wieder einen sehr schlimmen Tag, indem er bei Leuten aß, die es ihn nicht durch Anspielungen, sondern auf eine ziemlich grobe Art fühlen ließen, daß sie seine Wohltäter waren. Sie hatten ihn auch noch als Kind gekannt und nannten ihn nicht auf eine zärtliche, sondern verächtliche Weise bei seinem Vornamen Anton, da er doch anfing, sich unter die erwachsenen Leute zu zählen. Kurz, diese Leute behandelten ihn so, daß er den ganzen Freitag über mißmütig und traurig zu sein pflegte und zu nichts recht Lust hatte, ohne oft zu wissen worüber. Es war aber darüber, daß er den Mittag der erniedrigenden Begegnung dieser Leute ausgesetzt war, deren Wohltat er sich doch notwendig wieder gefallen lassen mußte, wenn es ihm nicht als der unverzeihlichste Stolz sollte ausgelegt werden. – Am Sonnabend aß er denn bei seinem Vetter, dem Perückenmacher, wo er eine Kleinigkeit bezahlte und mit frohem Herzen aß, und den Sonntag wieder bei dem Garnisonküster.

Dies Verzeichnis von Reisers Freitischen und den Personen, die sie ihm gaben, ist gewiß nicht so unwichtig, wie es manchem vielleicht beim ersten Anblick scheinen mag – dergleichen kleinscheinende Umstände sind es eben, die das Leben ausmachen und auf die Gemütsbeschaffenheit eines Menschen den stärksten Einfluß haben. – Es kam bei Reisers Fleiß und seinen Fortschritten, die er an irgendeinem Tage tun sollte, sehr viel darauf an, was er für eine Aussicht auf den folgenden Tag hatte, ob er gerade bei dem Schuster Schantz oder bei der Frau Filter oder dem Garnisonküster essen mußte. Aus dieser seiner täglichen Situation nun wird sich größtenteils sein nachheriges Betragen erklären lassen, welches sonst sehr oft mit seinem Charakter widersprechend scheinen würde.

Ein großer Vorteil würde es für Reisern gewesen sein, wenn ihn der Pastor Marquard wöchentlich einmal hätte bei sich essen lassen. Aber dieser gab ihm statt dessen einen sogenannten Geldtisch, so wie auch der Seidensticker; von diesen wenigen Groschen nun mußte Reiser wöchentlich sein Frühstück und Abendbrot bestreiten. So hatte die Frau Filter es angeordnet. Denn was der Prinz hergab, sollte alles für ihn gespart werden. Sein Frühstück bestand also in ein wenig Tee und einem Stück Brot, und sein Abendessen in ein wenig Brot und Butter und Salz. Dann sagte die Frau Filter, er müsse sich ans Mittagessen halten, doch aber gab sie ihm zu verstehen, daß er sich ja hüten müsse, sich zu überessen.

So war nun Reisers Ökonomie eingerichtet, was seinen Unterhalt anbetraf. Aber auch zu seiner Kleidung wurde nicht einmal von dem Gelde, was der Prinz für ihn hergab, etwas genommen, sondern ein alter, grober, roter Soldatenrock für ihn gekauft, der ihm zurechtgemacht wurde und womit er nun die öffentliche Schule besuchen sollte, in welcher nun auch der Allerärmste besser als er gekleidet war; ein Umstand, der nicht wenig dazu beitrug, gleich anfänglich seinen Mut in etwas niederzuschlagen.

Dazu kam nun noch, daß er das Kommißbrot, welches der Hoboist Filter empfing, holen und unter den Armen durch die Stadt tragen mußte, welches er zwar, wenn es irgend möglich war, in der Dämmerung tat, aber es sich doch auf keine Weise durfte merken lassen, daß er sich dies zu tun schäme, wenn es ihm nicht ebenfalls als ein unverzeihlicher Stolz sollte ausgelegt werden; denn von diesem Brote wurde ihm selbst wöchentlich eins für ein geringes Geld überlassen, wovon er denn sein Frühstück und seinen Abendtisch bestreiten mußte.

Gegen dies alles durfte er sich nun nicht im mindesten auflehnen, weil der Pastor Marquard in die Einsichten der Frau Filter, was Reisers Erziehung und die Einrichtung seiner Lebensart anbetraf, ein unbegrenztes Zutrauen setzte. In derselben Woche machte er auch noch seinen Besuch bei diesen Leuten und dankte ihnen, daß sie die nähere Aufsicht über Reisern hätten übernehmen wollen, den er nun völlig ihrer Sorgfalt anvertraute. Reiser saß dabei halbtraurig am Ofen, ob er gleich nicht gerne undankbar für die Vorsorge des Pastor Marquard sein wollte. Aber er hing nun von diesem Augenblick an ganz und gar von Leuten ab, bei denen er die wenigen Tage schon in einem so peinlichen Zustande zugebracht hatte. Bei aller dieser anscheinenden Güte, die ihm erwiesen wurde, konnte er sich nie recht freuen, sondern war immer ängstlich und verlegen, weil ihm jede, auch die kleinste Unzufriedenheit, die man ihm merken ließ, doppelt kränkend war, sobald er bedachte, daß selbst der eigentliche Fleck seines Daseins, das Obdach, dessen er sich erfreute, bloß von der Güte so sehr empfindlicher und leicht zu beleidigender Personen abhing, als Filter und noch weit mehr seine Frau war.

Bei dem allen war ihm nun doch der Gedanke aufmunternd, daß er in der künftigen Woche die sogenannte hohe Schule zu besuchen anfangen sollte. Das war so lange sein sehnlichster Wunsch gewesen. Wie oft hatte er mit Ehrfurcht das große Schulgebäude mit der hohen steinernen Treppe vor demselben angestaunt, wenn er über den Marktkirchhof ging. – Stundenlang stand er oft, ob er etwa durch die Fenster etwas von dem, was inwendig vorging, erblicken könnte. Nun schimmerte von dem großen Katheder in Prima zufälligerweise ein Teil durch das Fenster – wie malte sich seine Phantasie das aus! Wie oft träumte ihm des Nachts von diesem Katheder und von langen Reihen von Bänken, wo die glücklichen Schüler der Weisheit saßen, in deren Gesellschaft er nun bald sollte aufgenommen werden.

So bestanden von seiner Kindheit auf seine eigentlichen Vergnügungen größtenteils in der Einbildungskraft, und er wurde dadurch einigermaßen für den Mangel der wirklichen Jugendfreuden, die andre in vollem Maße genießen, schadlos gehalten. – Dicht neben der Schule führten zwei lange Gänge nach den nebeneinander gebauten Priesterhäusern. Die machten ihm einen so ehrwürdigen Prospekt, daß das Bild davon nebst dem Schulgebäude Tag und Nacht das herrschende in seiner Seele war – und denn die Benennung ›hohe Schule‹, welche unter gemeinen Leuten im Gebrauch war, und der Ausdruck ›hohe Schüler‹, welchen er ebenfalls oft gehört hatte, machten, daß ihm seine Bestimmung, diese Schule zu besuchen, immer wichtiger und größer vorkam.

Der Zeitpunkt wo dies geschehen sollte, war nun da, und mit klopfendem Herzen erwartete er den Augenblick, wo ihn der Direktor Ballhorn in einen dieser Hörsäle der Weisheit führen würde. Er wurde von dem Direktor geprüft und tüchtig befunden, in die zweite Klasse gesetzt zu werden. Die mit einer natürlichen Würde verknüpfte Freundlichkeit, womit ihn dieser Mann zuerst mein lieber Reiser nannte, ging ihm durch die Seele und flößte ihm das innigste Zutrauen verbunden mit einer unbegrenzten Ehrfurcht gegen den Direktor ein. O, was vermag ein Schulmann über die Herzen junger Leute, wenn er gerade so wie der Direktor Ballhorn den rechten Ton einer durch Leutseligkeit gemilderten Würde in seinem Betragen zu treffen weiß!

Den Sonntag nach der Konfirmation ging nun Reiser zuerst zum Abendmahl und suchte nun aufs gewissenhafteste die Lehren in Ausübung zu bringen, welche er sich darüber aufgeschrieben und auswendig gelernt hatte, als die vorhergehende Prüfung nach dem Buß- und Sündenspiegel und dann das Hinzutreten zum Altar mit einem freudigen Zittern. – Er suchte sich auf alle Weise in eine solche Art von freudigen Zittern zu versetzen; es wollte ihm aber nicht gelingen, und er machte sich selbst die bittersten Vorwürfe darüber, daß sein Herz so verhärtet war. Endlich fing er vor Kälte an zu zittern, und dies beruhigte ihn einigermaßen.

Allein die himmlische Empfindung und das selige Gefühl, das ihm nun diese Seelenspeise gewähren sollte, alles das empfand er nicht – er schrieb aber die Schuld davon bloß seinem eigenen verstockten Herzen zu und quälte sich selbst über den Zustand der Gleichgültigkeit, worin er sich fühlte.

Am meisten schmerzte es ihn, daß er nicht recht zur Erkenntnis seines Sündenelendes kommen konnte, welches doch zur Heilsordnung nötig war. Auch hatte er den Tag vorher in einer auswendig gelernten Beichte im Beichtstuhl bekennen müssen, daß er leider viel und mannigfaltig gesündigt mit Gedanken, Worten und Werken, mit Unterlassung des Guten und Begehung des Bösen.

Die Sünden nun, deren er sich schuldig glaubte, waren vorzüglich Unterlassungssünden. Er betete nicht andächtig gnug, liebte Gott nicht eifrig gnug, fühlte nicht Dankbarkeit gnug gegen seine Wohltäter und empfand kein freudiges Zittern, da er zum Abendmahle ging. – Dies alles ging ihm nun nahe, aber er konnte es doch mit Zwang nicht abhelfen, darum war es ihm insofern recht lieb, daß ihm für diese Vergehungen von dem Pastor Marquard die Absolution erteilet wurde.

Dabei blieb er aber doch immer mit sich selber unzufrieden: denn zu der Gottseligkeit und Frömmigkeit rechnete er vorzüglich die Aufmerksamkeit auf jeden seiner Schritte und Tritte, auf jedes Lächeln und auf jede Miene, auf jedes Wort, das er sprach, und auf jeden Gedanken, den er dachte. – Diese Aufmerksamkeit mußte nun natürlicherweise sehr oft unterbrochen werden und konnte nicht wohl über eine Stunde in einem fortdauern – sobald nun Reiser seine Zerstreuung merkte, ward er unzufrieden mit sich selbst und hielt es am Ende beinahe für unmöglich, ein ordentlich gottseliges und frommes Leben zu führen.

Die Frau Filter hielt ihm an dem Tage, da er zum Abendmahl ging, eine lange Predigt über die bösen Lüste und Begierden, die in diesem Alter zu erwachen pflegten, und wogegen er nun kämpfen müsse. Zum Glück verstand Reiser nicht, was sie eigentlich damit meinte, und wagte es auch nicht, sich genauer darnach zu erkundigen, sondern nahm sich nur fest vor, wenn böse Lüste in ihm erwachen sollten, sie möchten auch sein von welcher Art sie wollten, ritterlich dagegen anzukämpfen.

Er hatte bei seinem Religionsunterricht auf dem Seminarium zwar schon von allerlei Sünden gehört, wovon er sich nie einen rechten Begriff machen konnte, als von Sodomiterei, stummen Sünden und dem Laster der Selbstbefleckung, welche alle bei der Erklärung des sechsten Gebots genannt wurden, und die er sich sogar aufgeschrieben hatte. Aber die Namen waren auch alles, was er davon wußte; denn zum Glück hatte der Inspektor diese Sünden mit so fürchterlichen Farben gemalt, daß sich Reiser schon vor der Vorstellung von diesen ungeheuren Sünden selbst fürchtete und mit seinen Gedanken in das Dunkel, welches sie umhüllte, nicht tiefer einzudringen wagte. – Überhaupt waren seine Begriffe von dem Ursprung des Menschen noch sehr dunkel und verworren, ob er gleich nicht mehr glaubte, daß der Storch die Kinder bringe. – Seine Gedanken waren gewiß damals rein; denn ein gewisses Gefühl von Scham, das ihm natürlich zu sein schien, war Ursach, daß er weder mit seinen Gedanken über dergleichen Gegenständen verweilte, noch sich mit seinen Mitschülern und Bekannten darüber zu unterreden wagte. Auch kamen ihm seine religiösen Begriffe von Sünde wohl hiebei zustatten. – Es war ihm fürchterlich genug, daß es wirklich dergleichen Laster, die er nur den Namen nach kannte, in der Welt gab, geschweige denn, daß er nur einen Gedanken hätte haben sollen, sie näher kennen zu lernen.

Am Montag morgen introduzierte ihn nun der Direktor Ballhorn in die zweite Klasse des Lyzeums, wo der Konrektor und der Kantor unterrichteten. – Der Konrektor war zugleich Prediger, und Reiser hatte ihn oft predigen hören. – Er war es eben, dessen Art, sich in seinem Priesterornat zu tragen, Reisern besonders gefiel, so daß er dieselbe mit einem gewissen Auf- und Niederbewegen des Kinns zuweilen nachzuahmen suchte. Auch war der Pastor Grupen, so hieß er, noch ein sehr junger, der Kantor hingegen war ein alter und etwas hypochondrischer Mann.

In der zweiten Klasse waren schon ziemlich erwachsene junge Leute, und Reiser bildete sich nicht wenig darauf ein, nun ein Sekundaner zu sein.

Die Lehrstunden nahmen ihren Anfang: der Konrektor lehrte die Theologie, die Geschichte, den lateinischen Stil und das griechische Neue Testament. – Der Kantor den Katechismus, die Geographie und die lateinische Grammatik. Des Morgens um sieben Uhr fingen die Stunden an und dauerten bis zehn, und des Nachmittags um ein Uhr fingen sie wieder an und dauerten bis um vier Uhr. – Hier mußte nun also Reiser nebst zwanzig bis dreißig andern jungen Leuten einen großen Teil seines damaligen Lebens zubringen. Es war also gewiß kein unwichtiger Umstand, wie diese Lehrstunden eingerichtet waren.

Alle Morgen früh wurde nach der vorgeschriebenen Ordnung zuerst ein Kapitel aus der Bibel gelesen, wie es jedesmal in der Reihe folgte, es mochte nun so lang oder kurz sein, wie es wollte. Darauf wurde denn nach einer gewissen Heilsordnung zweimal die Woche eine Art von Theologie doziert, worin z. B. die opera ad extra und die opera ad intra vorkamen, die vorzüglich eingeprägt wurden. Unter den erstern wurden nämlich die Werke verstanden, woran alle drei Personen in der Gottheit teilnahmen, als die Schöpfung, Erlösung usw., ob sie gleich einer Person vorzüglich zugeschrieben werden; und unter den letztern wurde das verstanden, wodurch sich eine Person von der andern unterschied, und was ihr nur ganz allein zukommt, als die Zeugung des Sohnes vom Vater, das Ausgehen des heiligen Geistes vom Vater und Sohn usw. Reiser hatte diese Unterschiede zwar schon auf dem Seminarium gelernet, aber es freute ihn doch sehr, daß er sie nun auch lateinisch zu benennen wußte. Die opera ad extra und die opera ad intra prägten sich ihm von dem theologischen Unterricht am tiefsten ein.

Zwei Stunden in der Woche trug der Konrektor eine Art von Universalgeschichte nach dem Holberg vor, und der Kantor lehrte die Geographie nach dem Hübner. Das war der ganze wissenschaftliche Unterricht. Alle übrige Zeit wurde auf die Erlernung der lateinischen Sprache verwandt. Diese war es denn auch allein, worin sich jemand Ruhm und Beifall erwerben konnte. Denn die Ordnung der Plätze richtete sich nur nach der Geschicklichkeit im Lateinischen.

Der Kantor hatte nun die Methode, daß er über eine Anzahl von Regeln aus der großen Märkischen Grammatik wöchentlich einen kleinen Aufsatz diktierte, der ins Lateinische übersetzt werden mußte, und wo die Ausdrücke so gewählt waren, daß immer gerade die jedesmaligen grammatikalischen Regeln darauf konnten angewandt werden. Wer nun auf die Erklärung derselben am besten achtgegeben hatte, der konnte auch sein sogenanntes Exerzitium am besten machen und sich dadurch zu einem höhern Platze hinaufarbeiten.

So sonderbar nun auch die um des Lateinischen willen zusammengelesenen deutschen Ausdrücke zuweilen klangen, so nützlich war doch im Grunde diese Übung, und solch einen Wetteifer erregte sie. – Denn binnen einem Jahre kam Reiser dadurch so weit, daß er ohne einen einzigen grammatikalischen Fehler Latein schrieb und sich also in dieser Sprache richtiger als in der deutschen ausdrückte. Denn im Lateinischen wußte er, wo er den Akkusativ und den Dativ setzen mußte. Im Deutschen aber hatte er nie daran gedacht, daß mich z. B. der Akkusativ und mir der Dativ sei, und daß man seine Muttersprache ebenso wie das Lateinische auch deklinieren und konjugieren müsse. – Indes faßte er doch unvermerkt einige allgemeine Begriffe, die er nachher auf seine Muttersprache anwenden konnte. – Er fing allmählich an, sich deutliche Begriffe von dem zu machen, was man Substantivum und Verbum nannte, welche er sonst noch oft verwechselte, wo sie aneinander grenzten, als z. B. gehn und das Gehen. Weil aber dergleichen Irrtümer in der lateinischen Ausarbeitung immer einen Fehler zu veranlassen pflegten, so wurde er beständig aufmerksamer darauf und lernte auch die feinern Unterschiede zwischen den Redeteilen und ihren Abänderungen unvermerkt einsehen, so daß er sich nach einiger Zeit zuweilen selbst verwunderte, wie er vor kurzem noch solche auffallende Fehler habe machen können.

Der Kantor pflegte unter jede lateinische Ausarbeitung, nachdem er an den Seiten mit roten Strichen die Anzahl der Fehler bemerkt hatte, sein vidi (ich habe es durchgesehen) zu setzen. Da nun Reiser dies vidi unter seinem ersten Exerzitium sahe, so glaubte er, es sei dies ein Wort, das er selbst immer ans Ende der Ausarbeitung schreiben müsse, und dessen Auslassung ihm der Kantor mit als einen Fehler angerechnet habe. Er schrieb also mit eigner Hand unter sein zweites Exerzitium vidi, worüber der Kantor und sein Sohn, der dabei war, laut auflachten und ihm erklärten, was es hieße. – Auf einmal sahe nun Reiser seinen Irrtum und konnte nicht begreifen, wie er nicht selbst auf die richtige Erklärung des vidi gefallen sei, da er doch sonst wohl wußte, was vidi hieß.

Es war ihm, als ob er mit Beschämung aus einer Art von Dummheit erwachte, die ihm angewandelt hatte. Und er wurde auf einige Augenblicke fast ebenso niedergeschlagen darüber, als da der Inspektor auf dem Seminarium einst zu ihm sagte: dummer Knabe, indem er glaubte, daß er nicht einmal buchstabieren könne. Eine solche Art von wirklicher oder anscheinender Dummheit bei gewissen Vorfällen rührte zum Teil aus einem Mangel an Gegenwart des Geistes, zum Teil aus einer gewissen Ängstlichkeit oder auch Trägheit her, wodurch die natürliche Kraft des Denkens auf eine Zeitlang an ihrer freien Wirksamkeit gehindert wurde.

Noch eine Hauptlektion waren die Lebensbeschreibungen der griechischen Feldherrn vom Kornelius Nepos, wovon wöchentlich ein Kapitel aus der Lebensbeschreibung irgendeines Feldherrn auswendig mußte hergesagt werden. Diese Gedächtnisübungen wurden Reisern sehr leicht, weil er nicht sowohl die Worte als die Sachen sich einzuprägen suchte, welches er allemal des Abends vor dem Schlafengehen tat und des Morgens, wenn er aufwachte, die Ideen weit heller und besser geordnet als den Abend vorher in seinem Gedächtnis wiederfand, gleichsam, als ob die Seele während dem Schlafen fortgearbeitet und das, was sie einmal angefangen, nun während der gänzlichen Ruhe des Körpers mit Muße vollendet hätte.

Alles, was Reiser dem Gedächtnis anvertraute, pflegte er auf die Weise auswendig zu lernen.

Er fing nun auch an, sich mit der Poesie zu beschäftigen, welches er schon in seiner Kindheit getan hatte, wo denn seine Verse immer die schöne Natur, das Landleben und dergleichen zum Gegenstand zu haben pflegten. Denn seine einsamen Spaziergänge und der Anblick der grünen Wiesen, wenn er etwa einmal vor das Tor kam, war wirklich das einzige, was ihn in seiner Lage in eine poetische Begeisterung versetzen konnte.

Als ein Knabe von zehn Jahren verfertigte er ein paar Strophen, die sich anfingen:

     In den schön beblümten Auen
     Kann man Gottes Güte schauen, usw.

welche sein Vater in Musik setzte. Und das Gedicht, das er jetzt hervorbrachte, war eine ›Einladung auf das Land‹, worin wenigstens die Worte nicht übel gewählt waren. – Dies kleine Gedicht gab er dem jungen Marquard, durch welchen es in die Hände des Pastor Marquard und des Direktors kam, die ihren Beifall darüber bezeigten, so daß Reiser beinahe angefangen hätte, sich für einen Dichter zu halten. Aber der Kantor benahm ihm fürs erste diesen Irrtum, indem er sein Gedicht Zeile vor Zeile mit ihm durchging und ihn sowohl auf die Fehler gegen das Metrum als auf den fehlerhaften Ausdruck und den Mangel des Zusammenhangs der Gedanken aufmerksam machte.

Diese scharfe Kritik des Kantors war für Reisern eine wahre Wohltat, die er ihm nie genug verdanken kann. Der Beifall, den dies erste Produkt seiner Muse so unverdienterweise erhielt, hätte ihm sonst vielleicht auf sein ganzes Leben geschadet.

Demohngeachtet wandelte ihm der furor poeticus noch manchmal an, und weil ihn jetzt wirklich das Vergnügen, dem Studieren obzuliegen, am meisten begeisterte, so wagte er sich an ein neues Gedicht zum Lobe der Wissenschaften, welches sich komisch genug anhob:

     An euch, ihr schönen Wissenschaften,
     An euch soll meine Seele haften, usw.

Der Kantor lehrte auch lateinische Verse machen, trug die Regeln der Prosodie vor, die er nachher auf Catonis disticha beim Skandieren derselben anwenden ließ. Reiser fand hieran sehr großes Vergnügen, weil es ihm so gelehrt klang, lateinische Verse skandieren zu können und zu wissen, warum die eine Silbe lang und die andere kurz ausgesprochen werden mußte; der Kantor schlug mit den Händen den Takt beim Skandieren. Das anzusehen und mitmachen zu können, war ihm denn eine wahre Seelenfreude. – Und als nun gar der Kantor zuletzt eine Anzahl durcheinandergeworfener lateinischer Wörter, welches Verse gewesen waren, diktierte, damit sie wieder in metrische Ordnung gebracht werden sollten, welch ein Vergnügen für Reisern, da er nun mit wenigen Fehlern ein paar ordentliche Hexameter wieder herausbrachte und von dem Kantor einen alten Kurtius zum Prämium erhielt.

Hier herrschte nun gewiß der sogenannte alte Schulschlendrian, und Reiser kam demohngeachtet in einem Jahre so weit, daß er ohne einen grammatikalischen Fehler Latein schreiben und einen lateinischen Vers richtig skandieren konnte. – Das ganz einfache Mittel hierzu war – die öftere Wiederholung des Alten mit dem Neuen, welches doch die Pädagogen der neuern Zeiten ja in Erwägung ziehen sollten. Eine Sache mag noch so schön vorgetragen sein, sobald sie nicht öfter wiederholt wird, haftet sie schlechterdings nicht in dem jugendlichen Gemüte. Die Alten haben gewiß nicht in den Wind geredet, wenn sie sagten: daß die Wiederholung die Mutter des Studierens sei.

Von zehn bis elf Uhr gab der Konrektor noch eine Privatstunde im deutschen Deklamieren und im deutschen Stil, worauf sich Reiser immer am meisten freute, weil er Gelegenheit hatte, sich durch Ausarbeitungen hervorzutun und sich zugleich vom Katheder öffentlich konnte hören lassen, welches einige Ähnlichkeit mit dem Predigen hatte, das immer der höchste Gegenstand aller seiner Wünsche war.

Außer ihm war nun noch einer, namens Iffland, der an dieser Übung im Deklamieren ein ebenso großes Vergnügen fand. Dieser Iffland ist nachher einer unsrer ersten Schauspieler und beliebtesten dramatischen Schriftsteller geworden; und Reisers Schicksal hat mit dem seinigen bis auf einen gewissen Zeitpunkt viel Ähnliches gehabt. – Iffland und Reiser zeichneten sich immer in der Deklamationsübung am meisten aus. – Iffland übertraf Reisern weit an lebhaftem Ausdruck der Empfindung – Reiser aber empfand tiefer. – Iffland dachte weit schneller und hatte daher Witz und Gegenwart des Geistes, aber keine Geduld, lange über einem Gegenstande auszuhalten. – Reiser schwang sich daher auch in allen übrigen bald über ihn hinauf. – Er verlor allemal gegen Iffland, sobald es auf Witz und Lebhaftigkeit ankam, aber er gewann immer gegen ihn, sobald es darauf ankam, die eigentliche Kraft des Denkens an irgendeinem Gegenstande zu üben. – Iffland konnte sehr lebhaft durch etwas gerührt werden, aber es machte bei ihm keinen so daurenden Eindruck. Er konnte sehr leicht und wie im Fluge etwas fassen, aber es entwischte ihm gemeiniglich ebenso schnell wieder. – Iffland war zum Schauspieler geboren. Er hatte schon als ein Knabe von zwölf Jahren alle seine Mienen und Bewegungen in seiner Gewalt – und konnte alle Arten von Lächerlichkeiten in der vollkommensten Nachahmung darstellen. Da war kein Prediger in Hannover, dem er nicht auf das natürlichste nachgepredigt hatte. Dazu wurde denn gemeiniglich die Zwischenzeit, ehe der Konrektor zur Privatstunde kam, angewandt. Jedermann fürchtete sich daher vor Iffland, weil er jedermann, sobald er nur wollte, lächerlich zu machen wußte. – Reiser liebte ihn dennoch und hätte schon damals gern nähern Umgang mit ihm gehabt, wenn die Verschiedenheit der Glücksumstände es nicht verhindert hätte. Ifflands Eltern waren reich und angesehn, und Reiser war ein armer Knabe, der von Wohltaten lebte, demohngeachtet aber den Gedanken bis in den Tod haßte, sich auf irgendeine Weise Reichen aufzudringen. – Indes genoß er von seinen reichern und besser gekleideten Mitschülern weit mehr Achtung, als er erwartet hatte, welches zum Teil wohl mit daher kommen mochte, weil man wußte, daß ihn der Prinz studieren ließe, und ihn daher schon in einem etwas höhern Lichte betrachtete, als man sonst würde getan haben. – Dies brachte ihm auch von seinen Lehrern etwas mehr Aufmerksamkeit und Achtung zuwege.