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Anton Reiser. Ein psychologischer Roman.

von Karl Philipp Moritz

Zweiter Teil

Die Musik, die Zuschauer, die Erleuchtung von den Fackeln, die Anführer mit Federhüten und entblößten Degen – das alles beseelte ihn wieder mit neuem Mut, da er sich in diesem glänzenden Aufzuge mit befand. –

Und da er am andern Tage mit unter der Zahl der Primaner stand und dem Rektor mit einer lateinischen Anrede an ihn das Neujahrsgeschenk, wozu Reiser doch auch seinen Teil beigetragen hatte, auf einem silbernen Teller überreicht wurde, so fühlte er sich einmal mit einigem Wohlgefallen wieder in der wirklichen Welt. – Er sahe sich doch hier nicht ganz ausgeschlossen und verdrängt. – Allein wie sehr verbitterte ihm der Haß und Übermut seiner Mitschüler auch diese kleine Aufmunterung wieder! –

Der Rektor bewirtete die Primaner, welche ihm das Geschenk gebracht hatten, mit Wein und Kuchen. – Diese tranken zu wiederholten Malen seine Gesundheit, wobei sie denn am Ende, da ihnen der Wein in die Köpfe stieg, ziemlich laut wurden. – Reiser trank einige Gläser Wein, ohne schlimme Folgen zu besorgen – allein die gänzliche Ungewohnheit des Weintrinkens machte, daß ihn ein paar Gläser schon etwas berauschten; nun legten es seine edeldenkenden Mitschüler darauf an, ihn gänzlich betrunken zu machen, welches ihnen teils durch List und teils durch Drohungen gelang, so daß Reiser allerlei verwirrtes Zeug redete und am Ende zu Bette gebracht werden mußte. –

War nun Reiser vorher schon in dem Zutrauen und der Achtung aller derer, die ihn kannten, gesunken, so gab dieser Vorfall seinem guten Kredit nun vollends den letzten Stoß. – Vorher war er schon ein träger, unordentlicher und unfleißiger, nun war er auch ein unmäßiger und schlechter Mensch, weil er in dem Hause seines Lehrers, der zugleich sein Wohltäter war, durch sein unanständiges Betragen zugleich das undankbarste Herz verraten hatte.

Alle diese Folgen sahe Reiser dunkel voraus, da er am andern Morgen erwachte, und indem er sich anzog, machte er sich schon auf Bitte und Entschuldigung bei dem Rektor wegen seines gestrigen Betragens gefaßt. –

Er hatte seine Anrede recht gut ausstudiert und versicherte unter andern, daß er diesen Flecken auf alle Weise wieder würde auszutilgen suchen, worauf ihm denn der Rektor eben nicht sehr tröstlich antwortete, daß die nachteiligen Folgen von diesem Vorfall, wenn er bekannt würde, wohl schwerlich zu verhüten sein würden.

Der Rektor hatte darin sehr recht – denn der Vorfall wurde bald bekannt, und es hieß nun: Wie! der junge Mensch lebt von Wohltaten, selbst der Prinz wendet so viel an ihn, und da er in dem Hause seines Lehrers, seines Wohltäters, der ihm Obdach gibt, gastfreundlich bewirtet wird, beträgt er sich so – wie niederträchtig, wie undankbar!

Ohngeachtet nun Reisern diese Folgen ahndeten, und er höchst traurig darüber war, empfand er doch am andern Tage, da er ins Chor kam und seine Mitschüler über sein blasses und verwirrtes Ansehn, das er noch von dem gestrigen Rausche hatte, lachten, eine Art von sonderbarem Stolz, gleichsam als ob er durch das gestrige Betrinken eine gewisse Bravour bezeigt hätte, daß er sogar affektierte, als ob sein Taumel noch fortdauerte, um dadurch Aufmerksamkeit auf sich zu erregen. –

Denn die Aufmerksamkeit der übrigen auf ihn, die diesmal mehr mit einer gewissen Art von Beifall als mit Spott verknüpft war, schmeichelte ihm. – Auch betrachteten ihn die andern so, wie man einen zu betrachten pflegt, der in demselben Fall ist, worin man selbst einmal war – denn der Präfektus war fast immer betrunken – dies geheime Vergnügen, welches Reiser empfand, da es ihm zu gelingen schien, sich durch das Schlechte bemerkt zu machen, ist wohl die gefährlichste Klippe der Verführung, woran die meisten jungen Leute zu scheitern pflegen.

Indes wurde dieser Übermut bei Reisern sehr bald wieder gedämpft, da er die nachteiligen Folgen, welche ihm der Rektor prophezeit hatte, nur zu bald empfand. – Allenthalben empfing man ihn mit kalten und verächtlichen Blicken. – Er ließ daher die meisten Freitische einen nach dem andern freiwillig fahren und hungerte lieber oder aß Salz und Brot – ehe er sich diesen Blicken aussetzen wollte. – Bei dem einzigen Schuster Schantz ging er noch immer mit Vergnügen hin, denn hier wurde er nach wie vor mit freundlichen Blicken empfangen, und man ließ ihn hier nicht für sein widriges Schicksal büßen.

Er war damals weit entfernt, daß er sich gegen sich selbst hätte entschuldigen sollen. – Vielmehr trauete er dem Urteil so vieler Menschen mehr als seinem eigenen Urteil über sich selbst zu – er klagte sich oft an und machte sich die bittersten Vorwürfe über seine Versäumnis im Studieren, über sein Lesen und über sein Schuldenmachen beim Bücherantiquarius – denn er war damals nicht imstande, sich das alles als eine natürliche Folge der engsten Verhältnisse, worin er sich befand, zu erklären. – In solcher Stimmung der Seele, wo er gegen sich selbst aufgebracht und seine Phantasie noch durch ein Trauerspiel, das er eben gelesen hatte, erhitzt war, schrieb er einmal einen verzweiflungsvollen Brief an seinen Vater, worin er sich als den größten Verbrecher anklagte, und der mit unzähligen Gedankenstrichen angefüllt war, so daß sein Vater nicht wußte, was er aus dem Briefe machen sollte und für den Verstand des Verfassers im Ernst zu fürchten anfing. – Der ganze Brief war im Grunde eine Rolle, die Reiser spielte. – Er fand ein Vergnügen daran, sich selbst, wie es zuweilen die Helden in den Trauerspielen machen, mit den schwärzesten Farben zu schildern und dann recht tragisch gegen sich selbst zu wüten.

Da er nun niemand auf der Welt und auch sich selbst nicht einmal zum Freunde hatte, was konnte wohl anders sein Bestreben sein, als sich so viel und so oft wie möglich selbst zu vergessen?

Der Bücherantiquarius blieb daher seine immerwährende Zuflucht, und ohne diesen würde er seinen Zustand schwerlich ertragen haben, den er sich nun in manchen Stunden nicht nur erträglich, sondern sogar angenehm zu machen wußte, wenn er z. B. bei seinem Vetter, dem Perückenmacher, ein kleines, freilich eben nicht glänzendes Auditorium um sich versammlen und dem mit aller Fülle des Ausdrucks und der Deklamation, die ihm nur möglich war, irgendeines seiner Lieblingstrauerspiele, als Emilia Galotti, Ugolino oder sonst etwas Tränenvolles, wie z. B. den Tod Abels von Geßner vorlesen konnte, wobei er denn ein unbeschreibliches Entzücken empfand, wenn er rund um sich her jedes Auge in Tränen erblickte und darin den Beweis las, daß ihm sein Endzweck, durch die Sache, die er vorlas, zu rühren, gelungen war. –

Überhaupt brachte er die vergnügtesten Stunden seines damaligen Lebens entweder für sich allein oder in diesem Zirkel bei seinem Vetter, dem Perückenmacher, zu, wo er gleichsam die Herrschaft über die Geister führen und sich zum Mittelpunkte ihrer Aufmerksamkeit machen konnte – denn hier wurde er gehört – hier konnte er vorlesen, deklamieren, erzählen und lehren – und er ließ sich wirklich mit den Handwerksgesellen, welche dort zusammenkamen, zuweilen in Dispüte über sehr wichtige Materien, als über das Wesen der Seele, die Entstehung der Dinge, den Weltgeist und dergleichen ein, wodurch er die Köpfe verwirrte – indem er die Aufmerksamkeit dieser Leute auf Dinge lenkte, an die sie in ihrem Leben nicht gedacht hatten. –

Mit einem Schneidergesellen insbesondre, der anfing, an seinen Grübeleien Gefallen zu finden, unterhielt er sich oft stundenlang – über die Möglichkeit der Entstehung einer Welt aus nichts – endlich gerieten sie auf das Emanationssystem und auf den Spinozismus – Gott und die Welt war eins. –

Wenn dergleichen Materien nicht in die Schulterminologie eingehüllt werden, so sind sie für jeden Kopf und sogar Kindern verständlich. –

Bei einem solchen Gespräch pflegte Reiser aller seiner Sorgen und seines Kummers zu vergessen – das, was ihn drückte, war denn viel zu klein für ihn, um seine Aufmerksamkeit zu beschäftigen – er fühlte sich aus dem umringenden Zusammenhange der Dinge, worin er sich auf Erden befand, auf eine Zeitlang hinaus versetzt und genoß die Vorrechte der Geisterwelt – wer ihm dann zuerst in den Wurf kam, mit dem suchte er sich in philosophische Gespräche einzulassen und seine Denkkraft an ihm zu üben. –

Indes wandte er doch seine Schulstunden ohngeachtet der wenigen Aufmunterung, die er darin genoß, und der vielen Demütigungen, die er darin erduldete, nicht ganz unnütz an. – Er schrieb bei dem Direktor neue Geschichte, Dogmatik und Logik und bei dem Rektor die Erdbeschreibung und einige Übersetzungen lateinischer Autoren nach, wodurch er denn doch immer neben seiner Komödien- und Romanlektüre noch einige wissenschaftliche Kenntnisse auffing und, ohne es eigentlich mit Absicht zu treiben, auch im Lateinischen noch einige Fortschritte machte. –

Das war aber alles nur wie zufällig – manche Stunde versäumte er dazwischen, und manche Stunde las er, während daß der Livius oder ein andrer lateinischer Autor gelesen wurde, für sich heimlich einen Roman, weil er doch einmal wußte, daß der Direktor ihn nicht mehr aufzurufen würdigte. –

Denn wenn er in den Schulstunden mitten unter einer Anzahl von sechs bis siebenzig Menschen saß, von denen fast kein einziger sein Freund war, und denen er fast insgesamt ein Gegenstand des Spottes und der Verachtung war, so mußte ihm dies natürlicherweise beständig eine sehr ängstliche Lage sein, wo er sich am meisten gedrungen fühlte, sich in eine andre Welt zu träumen, in der er sich besser befand. –

Aber auch diese Zuflucht mißgönnte man ihm – und indem er gerade einmal, noch ehe die Stunde anging, in einem Bande vom Theater der Deutschen las, so nahm man, während daß der Rektor hereintrat, ihm das Buch weg und legte es dem Rektor aufs Katheder hin, dem man nun auf Befragen, woher das Buch käme, sagte, daß Reiser während den Stunden darin zu lesen pflegte. – Ein Blick voll wegwerfender Verachtung auf Reisern war die Antwort des Rektors auf diese Anklage.

Und dieser Blick kostete Reisern wiederum einen Teil des wenigen Selbstzutrauens, das ihm noch übrig geblieben war; denn weit entfernt, sich gegen sich selbst zu entschuldigen, glaubte er vielmehr diese Verachtung wirklich zu verdienen und hielt sich in dem Augenblick ebenso sehr für ein weggeworfnes verächtliches Wesen, als ihn der Rektor nur immer dafür halten konnte. –

Er sank durch diesen Vorfall noch tiefer als vorher in der Verachtung des Rektors – sein äußrer Zustand verschlimmerte sich daher von Tage zu Tage; und da er einmal vergessen hatte, einen Auftrag, den ihm ein Fremder an den Rektor gegeben hatte, auszurichten, so bediente sich der Rektor zum ersten Male des harten Ausdrucks gegen ihn, diese Vernachlässigung eines ihm gegebnen Auftrags sei ja eine ›wahre Dummheit‹.

Dieser Ausdruck brachte auf eine lange Zeit eine Art von wirklicher Seelenlähmung in ihm hervor. – Diesen Ausdruck und das ›dummer Knabe‹ vom Inspektor auf dem Seminarium und das ›ich meine Ihn ja nicht‹ von dem Kaufmann S... hat er nie vergessen können – sie haben sich in alle seine Gedanken verwebt und ihm lange nachher oft alle Gegenwart des Geistes in Augenblicken benommen, wo er sie am meisten bedurfte.

Ein Freund des Rektors, welcher einige Wochen bei ihm logierte, und für den Reiser auch einige Gänge tun mußte, gab der Magd und ihm bei seinem Abschiede ein Trinkgeld. – Reiser hatte eine sonderbare Empfindung dabei, da er das Geld nahm; es war ihm, als ob er einen Stich erhielte, wo sich der erste Schmerz plötzlich wieder verlor – denn er dachte an den Bücherantiquarius, und in dem Augenblick war alles übrige vergessen – für das Geld konnte er mehr als zwanzig Bücher lesen – sein beleidigter Stolz hatte sich noch zum letztenmal empört und war nun besiegt. – Reiser nahm von diesem Augenblick an keine Rücksicht mehr auf sich selbst – und warf sich in Ansehung seiner äußern Verhältnisse völlig weg. –

Seine Kleidung, die immer schlechter und unordentlicher wurde, kümmerte ihn nicht mehr.

In der Schule, im Chore und wenn er auf der Straße ging, dachte er sich mitten unter Menschen wie allein – denn keiner war, der sich um ihn bekümmerte oder an ihm teilnahm. – Sein eignes äußres Schicksal war ihm daher so verächtlich, so niedrig und so unbedeutend geworden, daß er aus sich selbst nichts mehr machte – an dem Schicksal einer Miß Sara Sampson, einer Julie und Romeos hingegen konnte er den lebhaftesten Anteil nehmen; damit trug er sich oft den ganzen Tag herum.

Nichts war ihm unausstehlicher, als, wenn die Lehrstunden geendigt waren, sich beim Herausgehen unter dem Schwarm seiner insgesamt besser gekleideten, muntern und lebhaftern Mitschüler zu befinden, von denen ihn keiner mehr an seiner Seite zu gehen würdigte – wie oft wünschte er sich in solchen Augenblicken endlich von der Last seines Körpers befreit und durch einen plötzlichen Tod aus diesem quälenden Zusammenhange gerissen zu werden! Wenn er denn etwa durch ein Gäßchen, wo niemand neben ihm ging, sich den Blicken seiner Mitschüler entziehen konnte, wie froh eilte er dann in die einsamsten und abgelegensten Gegenden der Stadt, um seinen traurenden Gedanken eine Weile ungestört nachzuhängen.

Der größte Dummkopf unter allen, welcher auch allgemein verachtet war – gesellte sich zuweilen zu ihm, und Reiser nahm seine Gesellschaft mit Freuden an; denn es war doch ein Mensch, der sich zu ihm gesellte – wenn er dann mit diesem ging, so hörte er oft hie und da einen seiner Mitschüler zu dem andern sagen: Par nobile Fratrum! (Ein edles Paar Gebrüder!) Mit diesem wirklichen Dummkopf wurde er also zugleich in eine Klasse geworfen. –

Da nun der Rektor auch gesagt hatte, es würde höchstens ein Dorfschulmeister aus ihm werden, so kam dies alles zusammen, um Reisern sein Selbstzutrauen gänzlich zu rauben, so daß er nun fast alles Zutrauen zu seinen eignen Verstandeskräften fahren ließ und oft im Ernst anfing, sich selbst für den Dummkopf zu halten, wofür er so allgemein erkannt wurde. – Dieser Gedanke artete denn aber auch zugleich in eine Art von Bitterkeit gegen den Zusammenhang der Dinge aus – er verwünschte in den Augenblicken die Welt und sich – weil er sich als ein höchst verächtliches Wesen zum Spott der Welt geschaffen glaubte. –

Wie weit das Vorurteil seiner Mitschüler gegen ihn und ihre Überzeugung von seiner angebornen Dummheit ging, davon mag Folgendes zum Beweise dienen:

Der Rektor hatte ihm erlaubt, die Privatstunden, welche er in seinem Hause gab, mit zu besuchen. – Unter andern gab nun der Rektor auch eine englische Stunde. – Reiser hatte das Buch nicht, worin gelesen wurde, und konnte sich also zu Hause nicht üben, er mußte mit einem andern einsehen; demohngeachtet begriff er in ein paar Wochen von bloßem Zuhören die meisten Regeln der englischen Aussprache; und da ihn der Rektor zufälligerweise auch einmal mit zum Lesen aufrief, so las er weit fertiger und besser als alle übrigen, die das Buch gehabt und sich zu Hause geübt hatten. –

Er hörte also einmal in der Nebenstube über sich sprechen, der Reiser müsse doch so dumm nicht sein, weil er die schwere englische Aussprache so bald gefaßt hätte; um nun diese günstige Meinung von ihm ja nicht aufkommen zu lassen, behauptete sogleich einer geradezu, Reisers Vater sei ein geborner Engländer, und er erinnre sich also der englischen Aussprache noch von seiner Kindheit her; die übrigen waren sehr bereit, dies zu glauben – und so war denn Reiser aufs neue zu seiner vorigen Niedrigkeit in den Augen seiner Mitschüler herabgesunken.

Man sieht aus diesem allen, daß die Achtung, worin ein junger Mensch bei seinen Mitschülern steht, eine äußerst wichtige Sache bei seiner Bildung und Erziehung ist, worauf man bei öffentlichen Erziehungsanstalten bisher noch zu wenig Aufmerksamkeit gewandt hat. –

Was Reisern damals aus seinem Zustande retten und auf einmal zu einem fleißigen und ordentlichen jungen Menschen hätte umschaffen können, wäre eine einzige wohlangewandte Bemühung seiner Lehrer gewesen, ihn bei seinen Mitschülern wieder in Achtung zu setzen. Und das hätten sie durch eine etwas nähere Prüfung seiner Fähigkeiten und ein wenig mehr Aufmerksamkeit auf ihn sehr leicht bewirken können. –

So verstrich nun dieser Winter für ihn höchst traurig – seine kleine Ökonomie war gänzlich zerrüttet – er hatte sich in seinem schlechten Aufzuge nicht getraut, sein monatliches Geld von dem Prinzen zu holen. – Bei dem Bücherantiquarius war er für seine Einkünfte tief in Schulden geraten – auch hatte er seine übrigen notwendigsten Bedürfnisse an Wäsche und Schuhen von den wenigen Groschen, die er wöchentlich einnahm, und dem Chorgelde, das er erhielt, nicht bestreiten können, da er überdem dem Bücherantiquarius alles zubrachte.

Unter diesen Umständen reiste er in den Osterferien zu seinen Eltern, wo er den Degen ansteckte, mit dem er sich im Philotas erstochen hatte, und nun seinen Brüdern täglich diese Rolle noch einmal vorspielte, sich auch von seinem verlaßnen Zustande und der Verachtung, worin er bei seinen Mitschülern stand, hier nicht das mindeste merken ließ, sondern vielmehr das Angenehme und Ehrbringende, was er von sich sagen konnte, auf alle Weise heraussuchte – daß ihn nämlich der Rektor auf einer Reise zur Gesellschaft mitgenommen, daß er in einer Privatstunde Englisch bei ihm gelernt habe, daß er bei dem Aufzug mit Fackeln und Musik gewesen und wie es dabei zugegangen sei usw.

Auch für sich selbst suchte er so viel wie möglich alles Unangenehme und Niederdrückende aus seinen Ideen zu verbannen – denn er wollte hier nun einmal in einem vorteilhaften, ehrenvollen Lichte erscheinen, so wenig beneidenswert er auch war. –

In dieser angenehmen Selbsttäuschung brachte er hier einige Tage sehr vergnügt zu – allein so leicht wie ihm diesmal geworden war, da er aus den Toren von Hannover gekommen und er die vier Türme der Stadt allmählich aus dem Gesicht verloren hatte, so schwer wurde ihm ums Herz, da er sich diesen Toren wieder näherte und die vier Türme wieder vor ihm dalagen, die ihm gleichsam die großen Stifte schienen, welche den Fleck seiner mannigfaltigen Leiden bezeichneten.

Insbesondre war ihm der hohe, eckigte und oben nur mit einer kleinen Spitze versehene Marktturm, da er ihn jetzt wieder sahe, ein fürchterliche Anblick – dicht neben diesem war die Schule – das Spotten, Grinsen und Auszischen seiner Mitschüler stand mit diesem Turm auf einmal wieder vor seiner Seele da – das große Zifferblatt an diesem Turm war er gewohnt, zum Augenmerk zu nehmen, sooft er die Schule besuchte, um zu sehen, ob er auch zu spät käme. – Dieser Turm war so wie die alte Marktkirche ganz in gotischer Bauart von roten Backsteinen aufgebaut, die vor Alter schon schwärzlich geworden waren. –

In eben dieser Gegend war es, wo den Missetätern ihr Todesurteil vorgelesen wurde – kurz, dieser Marktkirchtum brachte alles in Reisers Phantasie zusammen, was nur fähig war, ihn plötzlich niederzuschlagen und in eine tiefe Schwermut zu versetzen. –

Er hätte in der Tat nicht schwermütiger sein können, als er es jetzt war, wenn er auch alles das vorausgewußt hätte, was ihm von nun an in diesem Orte seines Aufenthalts noch begegnen sollte. – War aber schon vor einem Jahre, da er auch von seinen Eltern nach Hannover wieder zurückkehrte, seine Traurigkeit nicht ohne Grund gewesen, so war sie es diesmal noch viel weniger, da ihm einer der schrecklichsten Zeitpunkte in seinem Leben bevorstand. –

Ohne indes eine Ahndungskraft bei ihm vorauszusetzen, ließ sich seine Schwermut sehr natürlich erklären – wenn man erwägt, daß seine Einbildungskraft jeden engsten Kreis seines eigentlichen wirklichen Daseins, worin er nun wieder versetzt werden sollte, schnell durchlief: die Schule, das Chor, das Haus des Rektors – in diesen Kreisen, wovon ihn immer einer noch mehr wie der andre einengte und alle seine Strebekraft hemmte, sollte er sich von nun an wieder drehen – – wie gern hätte er in diesem Augenblick seinen ganzen Aufenthalt in Hannover gegen den dunkelsten Kerker vertauscht, der gewiß weit weniger Fürchterliches und Schreckliches für ihn gehabt haben würde, als alle diese ängstlichen Lagen.

Indem er nun so in schwermütige Gedanken vertieft einherging und schon nahe am Tore war, schoß auf einmal wie ein Blitz ein Gedanke durch seine Seele, der alles aufhellte und wodurch sich ihm alles wieder in einem schönern Lichte malte – er erinnerte sich, daß er schon zu Hause bei seinen Eltern gehört hatte, es wäre eine Schauspielergesellschaft nach Hannover gekommen, die den Sommer über dort spielen würde. – Dies war die damalige Ackermannsche Truppe, welche fast alle die jetzt hin und her zerstreuten Zierden aller Bühnen Deutschlands in sich vereinigte. –

Mit schnellen Schritten eilte nun Reiser der Stadt zu, die ihm vorher so verhaßt und nun plötzlich wieder über alles lieb geworden war – ohne erst zu Hause zu gehen (es war noch Vormittag, denn er war die Nacht an einem Orte unterwegens geblieben, von welchem er nur noch ein paar Meilen bis nach Hannover zu gehen hatte), eilte er sogleich nach dem Schlosse, wo er wußte, daß der Komödienzettel mit dem Personenverzeichnis angeschlagen war, und las, daß man an demselben Abend noch Emilia Galotti aufführen würde. –

Sein Herz schlug ihm für Freuden, da er dies las, gerade dies Stück, bei dem er schon so manche Träne geweint und so oft bis ins Innerste der Seele erschüttert worden, und was bis jetzt nur noch in seiner Phantasie aufgeführt war, nun auf dem Schauplatz mit aller möglichen Täuschung wirklich dargestellt zu sehn. –

Er wäre den Abend nicht aus der Komödie geblieben, hätte es auch kosten mögen, was es gewollt hätte – da er nun zu Hause kam, so wurde die Stube, worin er schlief, geweißt und etwas darin gebaut, wodurch sie ganz unbewohnbar gemacht wurde. – Dieser mißtröstende Anblick des Orts seines eigentlichsten Aufenthalts trieb ihn noch mehr aus der wirklichen ihn umgebenden Welt hinaus – er schmachtete nach der Stunde, wann das Schauspiel anheben würde.

Wohin er kam, konnte er seine Freude nicht verbergen; da er bei der Frau Filter in die Stube trat, war sein erstes Wort die Komödie, welches sie ihm lange nachher vorwarf – und ebenso war es, da er zu seinem Vetter, dem Perückenmacher, kam, wo er nun einige Nächte auf dem Boden schlafen mußte, während daß seine Stube in dem Hause des Rektors erst wieder bewohnbar gemacht wurde. –

Folgende Rollenbesetzung mag ohngefähr einen Begriff davon geben, was Emilia Galotti als das erste Schauspiel, das er in dieser Stimmung der Seele sahe, für eine Wirkung auf ihn müsse gehabt haben.

Die verstorbene Charlotte Ackermann spielte die Emilia, ihre Schwester die Orsina, und die Reinecken spielte die Claudia, Borchers den Odoardo, Brockmann den Prinzen, Reineck den Appiani und Dauer den Conti. – Wo mag Emilia Galotti wohl je wieder so aufgeführt worden sein?

Wie mächtig mußte Reisers Seele hier eingreifen; da sie nun die Welt ihrer Phantasie gewissermaßen wirklich gemacht fand! – Er dachte von nun an keinen andern Gedanken mehr als das Theater und schien nun für alle seine Aussichten und Hoffnungen im Leben gänzlich verloren zu sein. –

Was er nun irgend an Geld auftreiben konnte, das wurde zur Komödie angewandt, aus welcher er nun keinen Abend mehr wegbleiben konnte, wenn er es sich auch am Munde abdarben sollte. – Um der Komödie willen aß er oft den ganzen Tag über nichts als etwas Salz und Brot, wenn ihm nicht etwa die alte Mutter des Rektors Essen auf seine Stube schickte, welches sie doch zuweilen aus Mitleid tat. –

Und weil es nun Sommer war, so genoß er auch der Wonne, auf seiner Stube wieder allein sein zu können – welches ihm mehr wert war als die köstlichsten Speisen, die er hätte genießen können. –

Die Aussicht auf die Komödie am Abend tröstete ihn, wenn er am Morgen zu einem traurigen Tage erwachte, wie er denn nie anders erwachte. – Denn die Verachtung und der Spott seiner Mitschüler und das dadurch erregte Gefühl seiner eignen Unwürdigkeit, welches er allenthalben mit sich umhertrug, dauerte noch immer fort und verbitterte ihm sein Leben. – Und alles, was er tat, um sich hievon loszureißen, war im Grunde eine bloße Betäubung seines innern Schmerzes und keine Heilung desselben, – sie erwachte mit jedem Tage wieder, und während daß seine Phantasie ihm manche Stunde lang ein täuschendes Blendwerk vormalte, verwünschte er doch im Grunde sein Dasein. –

Die häufigen Tränen, welche er oft beim Buche und im Schauspielhause vergoß, flossen im Grunde ebensowohl über sein eignes Schicksal als über das Schicksal der Personen, an denen er teilnahm, er fand sich immer auf eine nähere oder entferntere Weise in dem unschuldig Unterdrückten, in dem Unzufriednen mit sich und der Welt, in dem Schwermutsvollen und dem Selbsthasser wieder. –

Die drückende Hitze im Sommer trieb ihn oft aus seiner Stube in die Küche oder in den Hof hinunter, wo er sich auf einen Holzhaufen setzte und las und oft sein Gesicht verbergen mußte, wenn etwa jemand hereintrat und er mit rotgeweinten Augen dasaß. –

Das war wieder the Joy of Grief, die Wonne der Tränen, die ihm von Kindheit auf im vollen Maße zuteil ward, wenn er auch alle übrigen Freuden des Lebens entbehren mußte.

Dies ging so weit, daß er selbst bei komischen Stücken, wenn sie nur einige rührende Szenen enthielten, als z. B. bei der Jagd, mehr weinte als lachte – was aber auch ein solches Stück damals für Wirkung tun mußte, kann man wieder aus der Rollenbesetzung schließen, indem die Charlotte Ackermann Röschen, ihre Schwester Hannchen, die Reinecken die Mutter, Schröder den Töffel, Reineck den Vater und Dauer den Christel spielte. –

Wenn irgend äußere Umstände fähig waren, jemanden einen entschiednen Geschmack am Theater beizubringen, so war es, Reisers Vorliebe und seine besondern Verhältnisse abgerechnet, der Zufall, welcher diese vortrefflichen Schauspieler damals in eine Truppe zusammenbrachte.

Man kann nun leicht schließen, wie Romeo und Julie, die Rache von Young, die Oper Klarisse, Eugenie, welche Stücke auf Reisern den stärksten Eindruck machten, gegeben werden mußten. –

Dies hatte nun auch so sehr alle seine Gedanken eingenommen, daß er alle Morgen den Komödienzettel gleichsam verschlang und alles, auch das: der Anfang ist präzise um halb sechs Uhr und der Schauplatz ist auf dem königlichen Schloßtheater, gewissenhaft mitlas – und für einen vorzüglichen Schauspieler, den er etwa auf der Straße erblickte, fast so viel Ehrfurcht wie ehemals gegen den Pastor Paulmann in Braunschweig empfand. – Alles, was zum Theater gehörte, war ihm ehrwürdig, und er hätte viel darum gegeben, nur mit dem Lichtputzer Bekanntschaft zu haben.

Vor zwei Jahren hatte er schon den Herkules auf dem Oeta, den Grafen von Olsbach und die Pamela spielen sehen, wo Ekhof, Böck, Günther, Hensel, Brandes nebst seiner Frau und die Seilerin die vorzüglichsten Rollen spielten, und schon von jener Zeit her schwebten die rührendsten Szenen aus diesen Stücken noch seinem Gedächtnis vor, worunter Günther als Herkules, Böck als Graf von Olsbach und die Brandes als Pamela fast jeden Tag wechselsweise einmal in seine Gedanken gekommen waren – und mit diesen Personen hatte er denn auch bis zur Ankunft der Ackermannschen Truppe die Stücke, die er las, in seiner Phantasie größtenteils aufgeführt. –

Es fügte sich also gerade bei ihm, daß er, wenn jene mit diesen zusammengenommen wurden, nun alle die vorzüglichsten Schauspieler Deutschlands zu sehen bekommen hatte, die jetzt in ganz Deutschland zerstreut sind. –

Dadurch bildete sich ein Ideal von der Schauspielkunst in ihm, das nachher nirgends befriedigt wurde und ihm doch weder Tag und Nacht Ruhe ließ, sondern ihn unaufhörlich umhertrieb und sein Leben unstät und flüchtig machte. –

Weil er ehemals Böck und jetzt Brockmannen die Rollen spielen sahe, wobei am meisten geweint wurde, so waren diese auch seine Lieblingsakteurs, mit denen sich seine Gedanken immer am meisten beschäftigten. –

Allein bei alle den glänzenden Szenen, die aus der Theaterwelt beständig seiner Phantasie vorschwebten, wurden seine äußern Umstände von Tage zu Tage zu schlechter. – Er verlor immer mehr in der Achtung der Menschen, geriet immer tiefer in Unordnung, – seine Kleidung und Wäsche wurden immer schlechter, so daß er am Ende Scheu trug, sich vor Menschen sehen zu lassen – er versäumte daher, so oft er konnte, die Schule und das Chor und hungerte lieber, als daß er irgendeinen seiner noch übrigen Freitische besucht hätte, ausgenommen den bei dem Schuster Schantz, wo er auch unter diesen mißlichen Umständen noch immer gastfreundlich empfangen und mit der liebreichsten Art bewirtet wurde. –

Da nun dem Rektor endlich Reisers inkorrigible Unordnung und insbesondere das immerwährende späte Zuhausekommen aus der Komödie unausstehlich wurde, so sagte er ihm das Logis auf. –

Reiser hörte die Ankündigung des Rektors, daß er zu Johanni ausziehen und sich während der Zeit nach einem andern Logis umsehen sollte, mit gänzlicher Verhärtung und Stillschweigen an, und da er wieder allein war, vergoß er nicht einmal eine Träne mehr über sein Schicksal – denn er war sich selbst so gleichgültig geworden und hatte so wenig Achtung gegen sich und Mitleid mit sich selber übrig behalten, daß, wenn seine Achtung und Empfindung des Mitleids und alle die Leidenschaften, wovon sein Herz überströmte, nicht auf Personen aus einer erdichteten Welt gefallen wären, sie notwendig sich alle gegen ihn selbst kehren und sein eignes Wesen hätten zerstören müssen.