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Anton Reiser. Ein psychologischer Roman.

von Karl Philipp Moritz

Dritter Teil

Aber es ereignete sich bald darauf ein Vorfall, der ihm Veranlassung gab, sich auf eine weniger affektierte Art in poetische Begeisterung zu versetzen. Es fügte sich nämlich im Anfang des Sommers, daß ein junger Mensch von neunzehn Jahren, der ein ansehnliches Vermögen besaß und ein sehr guter Freund von Philipp Reisern war, beim Baden im Flusse ertrank. –

Philipp Reiser trug bei dieser Gelegenheit seinem Freunde auf, daß er auf diesen Vorfall ein Gedicht, so gut es nur in seinen Kräften stünde, verfertigen sollte – er wollte es drucken lassen, und wenn es auch nicht gedruckt würde, so würde es doch immer, wenn es gut geriete, als ein Produkt des Geistes schätzbar sein.

Dieser Auftrag von seinem Freunde machte Anton Reisers ganzen Ehrgeiz rege; er suchte sich den Vorfall so lebhaft wie möglich vors Auge zu bringen, und nachdem er anderthalb Tage lang Ausdruck gegen Ausdruck abgewogen und seine Seelenkräfte angestrengt hatte, um sich den Beifall seines Freundes zu verdienen, waren ihm am Ende folgende Strophen gelungen:

     Wenn seufzend unterm Druck schwer auf ihn ruh'nder Jahre      Ein frommer Greis erblaßt, wird Wehmut unser Herz;      Doch legt ein rascher Tod den Jüngling auf die Bahre,      Der kaum zu blühn begann – so wird die Wehmut Schmerz.

     Der braunen Nacht entstieg der schönste Sommermorgen,
     Und ruhig atmete noch früh des Jünglings Brust –
     Ein sanfter Schlaf verscheucht rund um ihn her die Sorgen,
     Bis ihn Aurora weckt zu einem Tag voll Lust.

     Er sahe diesen Tag – und tausend frohen Tagen
     Sah er entgegen noch voll starker Zuversicht –
     Nicht bange Ahndungen, die seinen Tod ihm sagen,
     Beklemmen seine Brust, die nur von Freuden spricht. –

     Am heitern Himmel glänzt die unumwölkte Sonne
     Dem Jüngling freundlich zu und winkt ihn auf die Flur –
     Da strahlte um ihn her in hoher stiller Wonne
     Und ernst in ihrer Pracht die feiernde Natur.

     Doch welch ein Schatten bebt dort durch den goldnen Schimmer? –
     Und immer näher bebt's? – o Jüngling, zieh zurück
     Den allzukühnen Fuß – zu spät! – Welch ein Gewimmer! –
     Ach Gott! – den Jüngling trifft sein trauriges Geschick.

     Es lauerte der Tod auf ihn in stillen Fluten,
     Und über seinen Raub rauscht er nun stolz dahin –
     Des Jünglings Freunde sehn's, und ihre Herzen bluten,
     Sie fühlen den Verlust und klagen laut um ihn.

     Doch welch ein Wonnetod, wo solche Zähren fließen,
     Wo sanft ein Auge weint, aus dem der Himmel lacht –
     O selig, wenn nun einst sich meine Augen schließen,
     Wenn dann auch um mich hier die Freundschaft zärtlich klagt!

Das letztere bezog sich auf den Umstand, daß ein junges schönes Frauenzimmer, die eine nahe Anverwandtin von dem Ertrunkenen war, und mit deren Bruder sich dieser eben gebadet hatte, auf die erhaltene Nachricht von dem unglücklichen Vorfall sogleich aus der Stadt herbeieilte und bei der Menge Menschen, die am Flusse standen, ihre Tränen nicht verbarg, welches Anton Reiser mit Rührung bemerkte, so daß er den Toten fast beneidet hätte, um den solche Tränen flossen. –

Reiser war nämlich auch in der Absicht, sich zu baden, an den Fluß gegangen, und eben, da er hinkam, war der junge Mensch ertrunken, dessen Gefährte sich noch nicht einmal wieder angekleidet hatte; er sahe darauf die gleichgültigen und bei der Sache uninteressierten Zuschauer sich allmählich versammlen, sahe den Körper des jungen Menschen, den er selbst durch Philipp Reisern sehr gut gekannt hatte, herausziehen und alle Mittel, ihn wieder zum Leben zu bringen, vergeblich anwenden – dies alles machte einen so lebhaften Eindruck auf ihn, daß das Gedicht, welches er auf diesen Vorfall verfertigte, eine gewisse Wahrheit im Ausdruck erhielt und sich dadurch von dem Gedicht auf den Tod des jungen Marquard sehr merklich unterschied.

Dies Gedicht fand nun, einige Härten ausgenommen, Philipp Reisers Beifall wieder, welches für Anton Reisern so aufmunternd war, daß er nun auch ohne Veranlassung durch eigne Aufsätze in Prosa und in Versen sich seines Freundes Beifall zu erwerben suchte. –

Allein die Aufsätze und Gedichte ohne eigentliche Veranlassung wollten ihm nie recht gelingen – er quälte sich vierzehn Tage lang mit einem Gegenstande, den er sich zu besingen vorgenommen hatte; dies war eine Gegeneinanderstellung des Weltmanns, dessen Hoffnung sich mit diesem Leben endigt, und des Christen, der eine frohe Aussicht auf die Zukunft jenseits des Grabes hat. – Diese Idee war ein Überbleibsel seiner Lektüre von Youngs Nachtgedanken, und da ihm der Gegenstand, worüber er Verse machen wollte, gleichgültig war, indem er keine besondre Veranlassung zum Dichten als seine Neigung und das Streben nach dem Beifall seines Freundes hatte, so drängte sich ihm das Resultat seiner Lektüre von Youngs Nachtgedanken am ersten auf, dem er noch eine ziemlich vernünftige Wendung gab, indem er seinen Christen alle erlaubten Freuden des Weltmanns genießen ließ und ihm dennoch den Vorteil einer frohen Aussicht in die Ewigkeit dazu gab, so daß er gegen den Weltmann auf allen Seiten gewinnen mußte. – Aus dieser zwar richtigen, aber zu gesuchten und gekünstelten Idee entstand denn folgendes zweite Gedicht, das wiederum Reisers Beifall nicht erhielt, und womit er auch selbst, ohngeachtet der Mühe, die es ihm gekostet hatte, nie zufrieden war:

Der Weltmann und der Christ.

         Einst gingen übern Blumenwiesen      Ein Christ und Weltmann einen Pfad:      Hier, wo der Freude Bäche fließen,      Ward jeder süßer Freuden satt.

     Der Weltmann nutzte klug sein Leben,
     Er hielts für seine Ewigkeit –
     Nie konnte sich sein Geist erheben
     Bis über sich und Welt und Zeit.

     Mit Klugheit nutzt' er jede Freude,
     Die die Natur umsonst ihm bot:
     Ihm lacht die Flur im Blumenkleide,
     Ihm glänzet früh das Morgenrot. –

     Vor diesen edlern Erdenfreuden
     Verschloß auch nicht der Christ die Brust,
     Und, nicht geboren nur zu Leiden,
     Genoß auch er des Weltmanns Lust.

     Nur mit dem kleinen Unterscheide:
     Der Freude Anfang war ihm da,
     Wo jener seiner kurzen Freude
     Furchtbarem End' entgegen sah. –

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Aber ohngeachtet seines genauen Umganges mit Reisern liebte er dennoch vorzüglich die einsamen Spaziergänge. – Nun war vor dem neuen Tore in Hannover der Gang auf der Wiese längst dem Flusse nach dem Wasserfall zu besonders einladend für seine romantischen Ideen.

Die feierliche Stille, welche in der Mittagsstunde auf dieser Wiese herrschte; die einzelnen hie und da zerstreuten hohen Eichbäume, welche mitten im Sonnenschein, so wie sie einsam standen, ihren Schatten auf das Grüne der Wiese hinwarfen – ein kleines Gebüsch, in welchem man versteckt das Rauschen des Wasserfalls in der Nähe hörte – am jenseitigen Ufer des Flusses der angenehme Wald, in welchem er mit Reisern des Morgens in der Frühe spazieren gegangen war – in der Ferne weidende Herden; und die Stadt mit ihren vier Türmen und dem umgebenden, mit Bäumen bepflanzten Walle, wie ein Bild in einem optischen Kasten. – Dies zusammengenommen versetzte ihn allemal in jene wunderbare Empfindung, die man hat, sooft es einem lebhaft wird, daß man in diesem Augenblicke nun gerade an diesem Orte und an keinem andern ist, daß dies nun unsere wirkliche Welt ist, an die wir so oft als an eine bloß idealische Sache denken. –

Es fällt einem ein, daß man sich bei der Lektüre von Romanen immer wunderbarere Vorstellungen von den Gegenden und Örtern gemacht hat, je weiter man sie sich entfernt dachte. Und nun denkt man sich mit allen großen und kleinen Gegenständen, die einen jetzt umgeben, z. B. in Vorstellung eines Einwohners von Peking – dem dies alles nun ebenso fremd, so wunderbar deuchten müßte – und die uns umgebende wirkliche Welt bekommt durch diese Idee einen ungewohnten Schimmer, der sie uns ebenso fremd und wunderbar darstellt, als ob wir in dem Augenblick tausend Meilen gereist wären, um diesen Anblick zu haben. – Das Gefühl der Ausdehnung und Einschränkung unsers Wesens drängt sich in einen Moment zusammen, und aus der vermischten Empfindung, welche dadurch erzeugt wird, entsteht eben die sonderbare Art von Wehmut, die sich unserer in solchen Augenblicken bemächtigt. –

Reiser fing schon damals an, über dergleichen Erscheinungen bei sich selber nachzudenken und zu untersuchen, wie die Gegenstände solche Eindrücke auf ihn machen könnten – allein die Eindrücke selbst waren noch zu lebhaft, als daß er kaltblütige Reflexionen darüber hätte anstellen können – auch war seine Denkkraft noch nicht geübt und nicht stark genug, sich die aufsteigenden Bilder der Phantasie gehörig unterzuordnen – dazu kam eine gewisse Trägheit und Hinsinken in der Behaglichkeit des Genusses, wodurch ebenfalls seine Reflexionen wieder gehemmt wurden. –

Demohngeachtet aber hatte er schon seit dem vorigen Sommer im Sinn gehabt, einen Aufsatz über die Liebe zum Romanhaften zu schreiben und diesen in das Hannoversche Magazin einrücken zu lassen – er sammlete hiezu beständig Ideen und hatte genug Gelegenheit, sie zu sammlen, weil seine eigene Erfahrung sie ihm täglich an die Hand gab. – Allein mit dem ganzen Aufsatze kam er doch nicht zustande.

Auch konnte er damals nicht begreifen, warum die einzelnen auf der Wiese hin und her zerstreuten hohen Bäume mit ihrem Schatten in der Mittagssonne einen so wunderbaren Eindruck auf ihn machten – er fiel nicht darauf, daß eben der einsame Stand derselben in großen und unregelmäßigen Zwischenräumen der Gegend das majestätische feierliche Ansehen gab, wodurch sein Herz immer so gerührt wurde. – Diese einsamen Bäume machten ihm seine eigne Einsamkeit, indem er unter ihnen umherwandelte, gleichsam heilig und ehrwürdig – sooft er unter diesen Bäumen ging, lenkten sich seine Gedanken auf erhabene Gegenstände, seine Schritte wurden langsamer, sein Haupt gesenkt und sein ganzes Wesen ernster und feierlicher – dann verlor er sich in dem naheliegenden niedrigen Gebüsch und setzte sich in den Schatten eines Gesträuchs, wo er denn beim Geräusch des nahen Wasserfalls sich entweder in angenehmen Phantasien wiegte oder las.

Es ging auf die Weise fast kein Tag hin, wo seine Phantasie nicht mit neuen Bildern aus der wirklichen sowohl als aus der idealischen Welt genährt worden wäre. –

Zu diesem allen kam nun noch, daß gerade in diesem Jahre die Leiden des jungen Werthers erschienen waren, welche nun zum Teil in alle seine damaligen Ideen und Empfindungen von Einsamkeit, Naturgenuß, patriarchalischer Lebensart, daß das Leben ein Traum sei usw., eingriffen. –

Er bekam sie im Anfange des Sommers durch Philipp Reisern in die Hände, und von der Zeit an blieben sie seine beständige Lektüre und kamen nicht aus seiner Tasche. – Alle die Empfindungen, die er an dem trüben Nachmittage auf seinem einsamen Spaziergange gehabt hatte, und welche das Gedicht an Philipp Reisern veranlaßten, wurden dadurch wieder lebhaft in seiner Seele. – Er fand hier seine Idee vom Nahen und Fernen wieder, die er in seinen Aufsatz über die Liebe zum Romanhaften bringen wollte – seine Betrachtungen über Leben und Dasein fand er hier fortgesetzt – ›Wer kann sagen, das ist, da alles mit Wetterschnelle vorbeiflieht?‹ – Das war eben der Gedanke, der ihm schon so lange seine eigne Existenz wie Täuschung, Traum und Blendwerk vorgemalt hatte. –

Was aber nun die eigentlichen Leiden Werthers anbetraf, so hatte er dafür keinen rechten Sinn. – Die Teilnehmung an den Leiden der Liebe kostete ihm einigen Zwang – er mußte sich mit Gewalt in diese Situation zu versetzen suchen, wenn sie ihn rühren sollte – denn ein Mensch, der liebte und geliebt ward, schien ihm ein fremdes, ganz von ihm verschiedenes Wesen zu sein, weil es ihm unmöglich fiel, sich selbst jemals als einen Gegenstand der Liebe von einem Frauenzimmer zu denken. – Wenn Werther von seiner Liebe sprach, so war ihm nicht viel anders dabei, als wenn ihn Philipp Reiser von den allmählichen Fortschritten, die er in der Gunst seines Mädchens getan hatte, oft stundenlang unterhielt. –

Aber die allgemeinen Betrachtungen über Leben und Dasein, über das Gaukelspiel menschlicher Bestrebungen, über das zwecklose Gewühl auf Erden, die dem Papier lebendig eingehauchten echten Schilderungen einzelner Naturszenen und die Gedanken über Menschenschicksal und Menschenbestimmung waren es, welche vorzüglich Reisers Herz anzogen.

– Die Stelle, wo Werther das Leben mit einem Marionettenspiel vergleicht, wo die Puppen am Draht gezogen werden, und er selbst auf die Art mit spielt oder vielmehr mit gespielt wird, seinen Nachbar bei der hölzernen Hand ergreift und zurückschaudert – erweckte bei Reisern die Erinnerung an ein ähnliches Gefühl, das er oft gehabt hatte, wenn er jemanden die Hand gab. Durch die tägliche Gewohnheit vergißt man am Ende, daß man einen Körper hat, der ebensowohl allen Gesetzen der Zerstörung in der Körperwelt unterworfen ist als ein Stück Holz, das wir zersägen oder zerschneiden, und daß er sich nach eben den Gesetzen wie jede andere von Menschen zusammengesetzte körperliche Maschine bewegt. – Diese Zerstörbarkeit und Körperlichkeit unsers Körpers wird uns nur bei gewissen Anlässen lebhaft – und macht, daß wir vor uns selbst erschrecken, indem wir plötzlich fühlen, daß wir etwas zu sein glaubten, was wir wirklich nicht sind und statt dessen etwas sind, was wir zu sein uns fürchten. – Indem man nun einem andern die Hand gibt und bloß den Körper sieht und berührt, indem man von dessen Gedanken keine Vorstellung hat, so wird dadurch die Idee der Körperlichkeit lebhafter, als sie es bei der Betrachtung unseres eignen Körpers wird, den wir nicht so von den Gedanken, womit wir ihn uns vorstellen, trennen können und ihn also über diese Gedanken vergessen.

Nichts aber fühlte Reiser lebhafter, als wenn Werther erzählt, daß sein kaltes freudenloses Dasein neben Lotten in gräßlicher Kälte ihn anpackte. – Dies war gerade, was Reiser empfand, da er einmal auf der Straße sich selbst zu entfliehen wünschte und nicht konnte und auf einmal die ganze Last seines Daseins fühlte, mit der man einen und alle Tage aufstehen und sich niederlegen muß. – Der Gedanke wurde ihm damals ebenfalls unerträglich und führte ihn mit schnellen Schritten an den Fluß, wo er die unerträgliche Bürde dieses elenden Daseins abwerfen wollte – und wo seine Uhr auch noch nicht ausgelaufen war. –

Kurz, Reiser glaubte sich mit allen seinen Gedanken und Empfindungen bis auf den Punkt der Liebe im Werther wieder zu finden. – ›Laß das Büchlein deinen Freund sein, wenn du aus Geschick oder eigner Schuld keinen nähern finden kannst.‹ – An diese Worte dachte er, sooft er das Buch aus der Tasche zog – – er glaubte sie auf sich vorzüglich passend. – Denn bei ihm war es, wie er glaubte, teils Geschick, teils eigne Schuld, daß er so verlassen in der Welt war; und so wie mit diesem Buche konnte er sich doch auch selbst mit seinem Freunde nicht unterhalten. –

Fast alle Tage ging er nun bei heiterm Wetter mit seinem Werther in der Tasche den Spaziergang auf der Wiese längst dem Flusse, wo die einzelnen Bäume standen, nach dem kleinen Gebüsch hin, wo er sich wie zu Hause fand und sich unter ein grünes Gesträuch setzte, das über ihm eine Art von Laube bildete – weil er nun denselben Platz immer wieder besuchte, so wurde er ihm fast so lieb wie das Plätzchen am Bache – und er lebte auf die Weise bei heiterm Wetter mehr in der offenen Natur als zu Hause, indem er zuweilen fast den ganzen Tag so zubrachte, daß er unter dem grünen Gesträuch den Werther und nachher am Bache den Virgil oder Horaz las. –

Allein die zu oft wiederholte Lektüre des Werthers brachte seinen Ausdruck sowohl als seine Denkkraft um vieles zurück, indem ihm die Wendungen und selbst die Gedanken in diesem Schriftsteller durch die öftere Wiederholung so geläufig wurden, daß er sie oft für seine eigenen hielt und noch verschiedene Jahre nachher bei den Aufsätzen, die er entwarf, mit Reminiszenzien aus dem Werther zu kämpfen hatte, welches der Fall bei mehrern jungen Schriftstellern gewesen ist, die sich seit der Zeit gebildet haben. – Indes fühlte er sich durch die Lektüre des Werthers ebenso wie durch den Shakespeare, sooft er ihn las, über alle seine Verhältnisse erhaben; das verstärkte Gefühl seines isolierten Daseins, indem er sich als ein Wesen dachte, worin Himmel und Erde sich wie in einem Spiegel darstellt, ließ ihn, stolz auf seine Menschheit, nicht mehr ein unbedeutendes weggeworfenes Wesen sein, das er sich in den Augen andrer Menschen schien. – Was Wunder also, daß seine ganze Seele nach einer Lektüre hing, die ihn, sooft er sie kostete, sich selber wiedergab! –

Nun fiel auch in diesen Zeitpunkt gerade die neue Dichterepoche, wo Bürger, Hölty, Voß, die Stollberge usw. auftraten und ihre Gedichte zuerst in den Musenalmanachen drucken ließen, die damals ihren Anfang genommen hatten. – Der diesjährige Musenalmanach enthielt vorzüglich vortreffliche Gedichte von Bürger, Hölty, Voß usw. –

Die beiden Balladen Leonore von Bürger und Adelstan von Hölty lernte Reiser sogleich auswendig, wie er sie las – und diese beiden auswendig gelernten Balladen sind ihm nachher auf seinen Wanderungen oft sehr zustatten gekommen. Schon damals versammlete er öfters in der Dämmerung des Abends entweder bei seinem Wirt zu Hause oder bei seinem Vetter, dem Perückenmacher, einen Zirkel um sich her und deklamierte Leonore oder Adelstan und Röschen – und teilte auf die Weise mit den Verfassern das Vergnügen des Genusses von dem Beifall, den ihre Werke erhielten – denn so gut war er gesinnt, daß er diesen Beifall immer in ihrer Seele fühlte und sie sich in denselben Zirkel wünschte. – Aber seine Verehrung gegen die Verfasser solcher Werke, wie die Leiden des jungen Werthers und verschiedene Gedichte im Musenalmanach waren, fing auch nun an, ausschweifend zu werden – er vergötterte diese Menschen in seinen Gedanken und würde es schon für eine große Glückseligkeit gehalten haben, nur einmal ihres Anblicks zu genießen. – Nun lebte Hölty damals in Hannover, und ein Bruder desselben war Reisers Mitschüler – und hätte ihn leicht mit dem Dichter bekannt machen können. – Aber so weit ging damals noch Reisers Selbstverkennung, daß er es nicht einmal wagte, Höltys Bruder diesen Wunsch zu entdecken, und sich selbst mit einer Art von bitterm Trotz dies ihm so naheliegende und so sehr gewünschte Glück versagte – indes suchte er jede Gelegenheit auf, mit Höltys Bruder zu sprechen, und jede Kleinigkeit, welche dieser ihm von dem Dichter erzählte, war ihm wichtig – und wie oft beneidete er diesen jungen Menschen, daß er der Bruder desjenigen war, welchen Reiser fast unter die Wesen höherer Art zählte; daß er mit ihm vertraulich umgehn, ihn, sooft er wollte, sprechen und ihn ›du‹ nennen konnte.

Diese ausschweifende Ehrfurcht gegen Dichter und Schriftsteller nahm nachher mehr zu als ab; er konnte sich kein größeres Glück denken, als dereinst einmal in diesem Zirkel Zutritt zu haben – denn er wagte es nicht, sich ein solches Glück anders als im Traume vorzuspiegeln. –

Seine Spaziergänge wurden ihm nun immer interessanter; er ging mit Ideen, die er aus der Lektüre gesammlet hatte, hinaus und kehrte mit neuen Ideen, die er aus der Betrachtung der Natur geschöpft hatte, wieder herein. – Auch machte er wieder einige Versuche in der Dichtkunst, die sich aber immer um allgemeine Begriffe herumdrehten und sich wieder zu seiner Spekulation hinneigten, die doch immer seine Lieblingsbeschäftigung war. –

So ging er einmal auf der Wiese, wo die hin und her zerstreuten hohen Bäume standen, und seine Ideen stiegen auf einer Art von Stufenleiter bis zu dem Begriff des Unendlichen empor. – Dadurch verwandelte sich seine Spekulation in eine Art von poetischer Begeisterung, wozu sich denn die Begierde, den Beifall seines Freundes zu erhalten, gesellte – er dachte sich ein Ideal eines Weisen, eines Menschen, der so viele Ideen hat, als einem Sterblichen nur möglich sind – und der dennoch immer eine Lücke in sich fühlt, die nur durch die Idee vom Unendlichen ausgefüllt werden kann, und so brachte er dann wieder mit einigem Zwang wegen des Ausdrucks folgendes Gedicht zuwege:

Die Seele des Weisen.

                   Des Weisen Seel' in ihrem Fluge
     Erhub sich über Wolken hoch;
     Und folgte kühn dem innern Zuge,
     Der mächtig himmelan sie zog. –

     Sie strebt, das Leere auszufüllen,
     Das sie in sich mit Ekel sieht,
     Und forscht, um die Begier zu stillen,
     Nach Wahrheit, die ihr stets entflieht.

     Sie türmt Gedanken auf Gedanken,
     Durchschauet kühn der Himmel Heer,
     Erschwingt den Weltbau ohne Schranken,
     Doch der Gedanke läßt sie leer. –

     Sie wagt es nun, sich selbst zu denken,
     Sich, die so oft sich selbst enflieht;
     Wagt's, in ihr Sein sich zu versenken,
     Und sieht, daß sie sich selbst nicht g'nügt. –

     Da hub sich hoch mit Adlerschwingen
     Des Weisen Seele über sich –
     Zu dir, den alle Wesen singen,
     Und dachte, Gott, Jehova, dich.

     Und nun fühlt sie die weite Leere
     In sich erfüllt mit Seligkeit,
     Und schwimmt in einem Freudenmeere,
     Weil sie sich ihres Gottes freut.

 

So wie er nun den Begriff von Gott in ein Gedicht gezwängt hatte, suchte er auch den Begriff von der Welt in Verse zu bringen. – So lief seine ganze Dichtkunst auf allgemeine Begriffe hinaus. – Das Detail der Natur in und außer dem Menschen zu schildern, dahin zog ihn seine Neigung nie. – Seine Einbildungskraft arbeitete beständig, die großen Begriffe von Welt, Gott, Leben, Dasein usw., die er mit seinem Verstande zu umfassen gesucht hatte, nun auch in poetische Bilder zu kleiden – und diese poetischen Bilder selbst waren immer das Große in der Natur, als Wolken, Meer, Sonne, Gestirne usw.

Das Gedicht über die Welt war weit mehr Spekulation als Gedicht und wurde daher das Gezwungenste, was man sich denken kann, es hub sich an:

           Der Mensch entschwinget sich dem Staube
     Und mit ihm seine Welt –
     Dem Grabe wird der Mensch zum Raube
     Und mit ihm seine Welt –

Philipp Reiser tadelte dies Gedicht durchweg, ausgenommen folgenden Vers, den er erträglich fand:

     Der häuft sich seine Welt mit Schätzen
     Und der mit Lorbeern an;
     Und jeder findet sein Ergötzen
     Am Spiel, das er ersann. –

Reisers Phantasie lag jetzt mit seiner Denkkraft im Kampfe; sie wollte bei jeder Gelegenheit in das Gebiet derselben eingreifen und die allerabstraktesten Begriffe wieder in Bilder hüllen. – Dies war für Reisern oft ein ängstlicher qualvoller Zustand – und in einem solchen Zustande hatte er das Gedicht über die Welt hervorgebracht, das weder eigentliche Spekulation noch Poesie, sondern ein verunglücktes Mittelding von beiden war.

Da nun eine Zeitlang regnigtes Wetter einfiel, so wich Reiser dennoch nicht von seiner einsamen poetischen Lebensart ab.

Er schloß sich in seine Kammer ein, wo er ein altes baufälliges Klavier für sich selbst, so gut er konnte, wieder zurecht brachte und es mit vieler Mühe stimmte. – Bei diesem Klaviere saß er nun den ganzen Tag und lernte, da er die Noten kannte, fast alle Arien aus der Jagd, aus dem Tod Abels usw. für sich selber singen und spielen – dazwischen las er den Tom Jones von Fielding und Hallers Gedichte verschiedenemal durch und brachte einige Wochen in dieser Einsamkeit fast ebenso vergnügt zu als die, wo er in seinem vorigen Logis auf dem Boden Philosophie studierte. – Hallers Gedichte konnte er beinahe auswendig.