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Anton Reiser. Ein psychologischer Roman.

von Karl Philipp Moritz

Dritter Teil

Auf diese Weise brachte er zwölf schreckliche Wochen seines Lebens zu, bis ihn endlich der Pastor Marquard durch die dritte Hand selbst wissen ließ, daß er sich seiner wieder annehmen wolle, sobald er sich zur ernstlichen Abbitte und Reue über sein Betragen bequemte.

Dies erweichte endlich sein Herz, da er überdem seines hartnäckigen Trotzes und des darauffolgenden langwierigen Elendes müde war. Er setzte sich hin und schrieb einen langen Brief an den Pastor Marquard, worin er sich selbst mit der größten Erbitterung gegen sich herabsetzte – sich als den unwürdigsten Menschen schilderte, den je die Sonne beschienen habe – – und sich kein besser Schicksal prophezeite, als daß er dereinst vor Armut und Dürftigkeit unter freiem Himmel das Ende seines Lebens finden würde – –

Kurz, dieser Brief war in den überspanntesten Ausdrücken der Selbstverachtung und Selbstherabwürdigung, die man sich nur denken kann, abgefaßt und war doch nichts weniger als Heuchelei. –

Reiser hielt sich wirklich damals für ein Ungeheuer von Bosheit und Undankbarkeit und schrieb den ganzen Brief an den Pastor Marquard mit einer Erbitterung gegen sich selbst nieder, wie sie vielleicht nur bei irgendeinem Menschen möglich ist – – er dachte nicht daran, sich zu entschuldigen, sondern sich noch immer mehr anzuklagen. –

Indes sahe er doch so viel ein, daß die Wut, Romanen und Komödien zu lesen und zu sehen, die nächste Veranlassung seines gegenwärtigen Zustandes war – aber wodurch ihm das Lesen von Romanen und Komödien zu einem so notwendigen Bedürfnis geworden war – alle die Schmach und die Verachtung, wodurch er schon von seiner Kindheit aus der wirklichen in eine idealische Welt verdrängt worden war – darauf zurückzugehen hatte seine Denkkraft damals noch nicht Stärke genug, darum machte er sich nun selbst unbilligere Vorwürfe, als ihm vielleicht irgendein anderer würde gemacht haben – in manchen Stunden verachtete er sich nicht nur, sondern er haßte und verabscheuete sich. –

Die Beichte, welche er daher dem Pastor Marquard in dem an ihn gerichteten Briefe ablegte, war schrecklich und einzig in ihrer Art – so daß der Pastor Marquard erstaunte, da er sie las – denn vielleicht war ihm in seinem Leben nie so gebeichtet worden. –

Da Reiser diesen Brief abgegeben hatte, so wartete er nur darauf, wann er bei dem Pastor Marquard würde vorgelassen werden; und es wurde ihm ein Tag bestimmt, welchem er nun mit sonderbaren, vermischten Empfindungen von Furcht und Hoffnung und resignierter Verzweiflung entgegensahe. –

Er hatte sich dabei auf eine sehr theatralische Szene gefaßt gemacht, die ihm aber gänzlich mißlang. – Er wollte nämlich dem Pastor Marquard zu Füßen fallen und seinen ganzen Zorn auf sich herab erbitten. – Die ganze Anrede an ihn hatte er sich schon in seinen Gedanken entworfen, und nun trug er sich beständig mit dieser Idee herum, wo er ging und stund; bis zu dem Tage, wo er bei dem Pastor Marquard sollte vorgelassen werden. –

Allein während der Zeit ereignete sich für ihn ein höchst verdrießlicher Umstand. – Sein Vater hatte von seinem Zustande gehört und war nach Hannover herübergekommen, um Fürbitte für ihn einzulegen, welches Reisern deswegen höchst unangenehm war, weil er keiner fremden Fürsprache zu bedürfen glaubte, sondern sich selbst schon für fähig genug hielt, durch seine affektvolle Anrede, die er sich erlernt hatte, das Herz des Pastor Marquard zu rühren. –

Endlich erwachte er zu dem wichtigen Tage, wo er den Pastor Marquard sprechen sollte – – und seine Phantasie ging nun mit lauter großen Dingen schwanger – wie er voll Reue und Verzweiflung sich dem Pastor Marquard zu Füßen werfen – und dieser ihn dann gerührt aufheben – und ihm verzeihen würde. –

Und da er nun endlich in das Haus des Pastor Marquard kam und sich diesem so lange vorbereiteten Auftritte mit schauervoller Sehnsucht näherte; indem er draußen wartete, bis man ihn hereinrufen würde, kam endlich der Bediente heraus und sagte ihm, er solle nur hereinkommen, sein Vater sei schon bei dem Pastor Marquard.

Diese Nachricht war ein Donnerschlag für ihn – er stand eine Weile wie betäubt da – in dem Augenblick scheiterte sein ganzer Plan – er wollte den Pastor Marquard ohne Zeugen sprechen denn nur ohne Zeugen fühlte er sich imstande, die ganze Szene mit dem Niederknieen vor dem Pastor Marquard und der rührenden und pathetischen Anrede an ihn zu spielen. – In Gegenwart eines Dritten und vorzüglich in Gegenwart seines Vaters vor dem Pastor Marquard niederzuknieen, war ihm unmöglich. –

Er schickte den Bedienten wieder herein und ließ sagen, er müßte den Pastor Marquard notwendig allein sprechen. – Dies Gespräch wurde ihm abgeschlagen, und statt der glänzenden und rührenden Szene, die er zu spielen dachte, mußte er nun, indem er hereintrat, ohne ein einziges Wort von seiner ganzen längstentworfenen Anrede vorbringen zu können, durch die Gegenwart seines Vaters bis zur Verachtung gedemütigt, wie ein Missetäter dastehen. –

Es bemächtigte sich seiner hiebei ein Gefühl, das er in seinem Leben noch nicht gekannt hatte – seinen Vater neben sich in bittender Stellung vor dem Pastor Marquard stehen zu sehen, war ihm unerträglich – alles in der Welt hätte er darum gegeben, daß dieser in dem Augenblick hundert Meilen weit entfernt gewesen wäre. – Er fühlte sich in seinem Vater doppelt gedemütigt und beschämt – und dann kam der Verdruß dazu, daß ihm die ganze Fußfallszene mißlungen war – alles ging nun so kalt, so gemein, so gewöhnlich zu – – Reiser stand so unausgezeichnet wie ein ganz gemeiner, alltäglicher Bösewicht da, dem man über sein Betragen die verdienten Vorwürfe macht – und er wollte sich doch selbst als einen recht großen Bösewicht schildern und selbst die härteste Strafe für sein Verbrechen nun auf sich herab erbitten. –

Allein kein Zufall in seinem Leben fügte sich vielleicht mehr zu seinem wahren Vorteil als eben dieser. – Wäre es ihm diesmal mit der angelegten Szene gelungen, wer weiß, wozu er in der Folge noch geschritten, und was für Rollen er würde gespielt haben. – Vielleicht war dies eben der entscheidende Augenblick, wo sein Schicksal, ob er ein Heuchler und Spitzbube werden oder ein aufrichtiger und ehrlicher Mensch bleiben sollte, auf der Spitze stand. –

Die ganze Fußfallszene wäre doch im Grunde, obgleich nicht offenbare Heuchelei und Verstellung, doch wenigstens Affektation gewesen, und der Übergang von der Affektation zur Heuchelei und Verstellung, wie leicht ist der! –

Es war gewiß eine wahre Wohltat für Reisern, daß der Pastor Marquard alle die überspannten Ausdrücke in seinem Briefe keiner Aufmerksamkeit würdigte und, statt dadurch gerührt zu sein, sie lächerlich fand und sie für die unreife Geburt einer durch Romanen und Komödienlektüre erhitzten Phantasie erklärte; mit dem Beifügen, wenn Reiser wirklich so ein Bösewicht wäre, als er sich in dem Briefe geschildert hätte, so würde er sich nicht das mindeste mehr um ihn bekümmern, sondern ihn als ein Ungeheuer verabscheuen. –

Und statt sich nun weiter in Erklärungen einzulassen, daß ihm das Vergangene verziehen sein solle, wenn er künftig sich anders betrüge und dergleichen, kam der Pastor Marquard auf eine gar nicht empfindsame Art sogleich auf Reisers zerrissene Schuhe und Strümpfe und auf die Schulden, die er gemacht hatte, und wie diese nun bezahlt und seine zerrissenen Kleidungsstücke wieder hergestellt werden sollten. – Nicht einmal zu feierlicher Angelobung künftiger Besserung oder so etwas Rührendem ließ er Reisern kommen. – Sein ganzes Benehmen gegen ihn, ob er sich gleich seiner nun wieder annahm, war rauh und hart – aber eben dies rauhe und harte Betragen war es, was Reisern aus seinem Schlummer weckte und ihn aus seiner idealischen Romanen- und Komödienwelt wieder in die wirkliche Welt versetzte, insbesondere, da ihm sein Roman, den er mit dem Pastor Marquard zu spielen gedachte, mißlungen war und er doch nun auch wieder aus seinem schrecklichen Zustande durch keine leere Phantasie, ein Bauer zu werden und dergleichen, sondern wirklich herausgerissen werden sollte. –

Unzählige gute Vorsätze und Entschließungen drängten sich nun mit dieser Wendung seines Schicksals in seiner Seele wieder empor, die mißlungene Fußfallszene schmerzte ihn zwar noch immer; endlich aber söhnte er sich auch darüber mit dem Schicksal aus – und so fing nun eine neue Epoche seines Lebens an. –

Er zog von dem Bürstenbinder aus und wurde bei einem Schneider eingemietet, bei dem er in derselben Stube wohnen und auf dem Boden schlafen mußte. – Die Frau Filter und der Hofmusikus, welche in demselben Hause wohnten, nahmen sich seiner wieder an, indem sie ihm wöchentlich einmal zu essen gaben. – Die Frau Filter ließ ihn das kleine Mädchen, welches sie bei sich hatte, im Schreiben und im Katechismus unterrichten – er besuchte die Schule wieder regelmäßig, man schöpfte wieder neue Hoffnung von ihm – selbst der Prinz ließ ihn zu sich kommen und sprach ihn in Gegenwart des Pastor Marquard, der das Geld zu seiner Unterstützung vom Prinzen für ihn in Empfang nahm und damit seine Schulden tilgte.

So ging nun alles wieder so weit gut – und er fing nun an wieder fleißig zu sein – obgleich seine äußere Situation auch hier seinem Studieren eben nicht zu günstig war – denn in der Stube des Schneiders hatte er nichts wie sein angewiesenes Plätzchen, wo sein Klavier stand, das ihm zugleich zum Tische diente, und unter welchem er zugleich seine ganze Bibliothek in ein kleines Bücherbrett aufgestellt hatte. – Wenn er nun für sich las und arbeitete, so konnte er um sich her nicht Stille gebieten; und solange der Winter dauerte, war er doch genötigt, in der Stube seines Wirts zu bleiben – im Sommer zog er mit seinem Klavier und Büchern auf den Boden, wo er schlief und einsam und ungestört war. –

Er war kaum einige Wochen aus seinem vorigen Logis und von seinen vorigen Stubengesellschaftern G... und M... weggezogen, so ereignete sich ein fürchterlicher Vorfall, der ihn die Größe und Nähe der Gefahr, in welcher er geschwebt hatte, sehr lebhaft empfinden ließ. –

G... wurde nämlich eines Tages, da er im Chore sang, auf öffentlicher Straße in Verhaft genommen und sogleich geschlossen in eines der tiefsten Gefängnisse auf dem ... Tore gebracht, welches nur für die ärgsten Missetäter bestimmt ist. –

Reisern ergriff Beben und Entsetzen, da er ihn hinführen sahe – und was das sonderbarste war, so machte der Gedanke, man möchte ihn etwa für einen Mitschuldigen des noch unbekannten Verbrechens seines ehemaligen Stubengesellschafters halten, daß sich gerade solche Merkmale der Scham und Verwirrung bei ihm äußerten, als wenn er wirklich ein Mitschuldiger gewesen wäre – so daß seine Angst beinahe so groß wurde, als ob er wirklich selbst ein Verbrechen begangen hätte. Dies war eine natürliche Folge seines von Kindheit an unterdrückten Selbstgefühls, das damals nicht stark genug war, den Urteilen anderer von ihm zu widerstehen – hätte ihn jedermann für einen offenbaren Verbrecher gehalten, so würde er sich zuletzt vielleicht auch dafür gehalten haben. –

Endlich kam es denn heraus, daß sein ehemaliger Stubengesellschafter G... einen Kirchenraub begangen, Tressen von Altardecken bei der Nacht entwendet und, um die in den Stühlen verwahrten mit Silber beschlagenen Gesangbücher zu stehlen, sogar Schlösser aufgebrochen hatte.

Das waren denn die Projekte gewesen, auf welche er ganze Tage hindurch auf dem Bette liegend gesonnen und gegrübelt hatte.

Den eigentlichen Kirchenraub aber hatte er erst verübt, nachdem Reiser schon von ihm weggegangen war, ob er gleich vorher sich schon verschiedener Diebereien schuldig gemacht hatte.

Auf sein Verbrechen stand nun eigentlich der Strang – und Reisern wandelte immer die Furcht vor einem ähnlichen Schicksal an, sooft er dachte, wie nahe er diesem Menschen gewesen war, und wie leicht er stufenweise von ihm zu einem Wagstück nach dem andern hätte verführt werden können, da mit der Expedition auf der Kirscheninsel schon ein so heroischer Anfang gemacht worden war. – Reiser würde in dem nächtlichen Kirchenraube immer auch mehr Heroisches als Niederträchtiges gefunden haben, und es würde G... vielleicht nicht schwerer geworden sein, ihn zur Teilnehmung an einer solchen Expedition als zu der auf der Kirscheninsel zu bereden.

Wer weiß, ob nicht auch diese Reflexion oder dies dunkle Bewußtsein mit zu Reisers Verwirrung beitrug, sooft von G... gesprochen wurde – es deuchte ihm nur noch ein so kleiner Schritt zwischen ihm und dem Verbrechen, zu dem er hätte verleitet werden können, daß es ihm ging wie einem, dem vor einem Abgrunde schwindelt, von welchem er noch weit genug entfernt ist, um nicht hereinzustürzen, der sich aber dennoch selbst durch seine Furcht unaufhaltsam hingezogen fühlt und schon in dem Abgrunde zu versinken glaubt. –

Die leichte Möglichkeit, an G...s Verbrechen teilzunehmen, welche Reiser bei sich empfand, erweckte bei ihm fast ein ähnliches Gefühl, als ob er wirklich daran teilgenommen hätte, woraus sich also seine Angst und Verwirrung sehr gut erklären läßt.

Indes kam es mit G... so weit nicht, daß er gehangen wurde, sondern nachdem er einige Monate im Gefängnis gesessen hatte, ward sein Urteil dahin gemildert, daß er über die Grenze gebracht und des Landes verwiesen wurde. – Reiser hat von seinem Schicksale nachher nichts weiter erfahren können. – So endigte es sich also mit dem eigentlichen sterbenden Sokrates, von welchem Reiser so lange den Spottnamen tragen mußte, da er doch nicht den sterbenden Sokrates selbst, sondern nur einen unbedeutenden Freund desselben vorgestellt hatte, der nicht viel mehr tat, als daß er in einem Winkel stand und weinte, indes der sterbende Sokrates zur Rührung aller Zuschauer den Giftbecher trinken und sich auf dem Todbette noch in dem glänzendsten Lichte zeigen konnte.

Reiser hatte damals schon seit länger als einem Jahre angefangen, sich ein Tagebuch zu machen, worin er alles, was ihm begegnete, aufschrieb. – Dies Tagebuch geriet denn ziemlich sonderbar, weil er keinen einzigen Umstand seines Lebens und keinen einzigen von den Vorfallenheiten des Tages, er mochte so unbedeutend sein, wie er wollte, darin ausließ. – Da er nun nur lauter wirkliche Begebenheiten und seine Phantasien, die er den Tag über hatte, nicht mit aufschrieb, so mußten die Erzählungen von den Begebenheiten des Tages ebenso kahl und abgeschmackt und ohne alles Interesse sein, wie diese Begebenheiten selbst waren. Reiser lebte im Grunde immer ein doppeltes, ganz voneinander verschiedenes inneres und äußeres Leben, und sein Tagebuch schilderte gerade den äußern Teil desselben, der gar nicht der Mühe wert war, aufgezeichnet zu werden. – Den Einfluß der äußern – würklichen Vorfälle auf den innern Zustand seines Gemüts zu beobachten, verstand Reiser damals noch nicht; seine Aufmerksamkeit auf sich selbst hatte noch nicht die gehörige Richtung erhalten. –

Indes verbesserte sich doch sein Tagebuch mit der Zeit, indem er anfing, nicht nur seine Begebenheiten, sondern auch seine Vorsätze und Entschließungen darin aufzuzeichnen, um nach einiger Zeit zu sehen, was er davon in Erfüllung gebracht hatte. – Er machte sich schon damals selber Gesetze, die er in seinem Tagebuche aufschrieb, um sie in Erfüllung zu bringen. – Auch tat er sich selbst zuweilen feierliche Gelübde, z. B. früh aufzustehen, den Tag seine Stunden ordentlich einzuteilen und dergleichen mehr. –

Aber es war sonderbar – gerade die feierlichsten Vorsätze, welche er faßte, pflegten gemeiniglich am spätesten und kältesten in Erfüllung zu gehen – wenn es zur Ausführung im kleinen kam, so war das Feuer der Phantasie erloschen, womit er sich die Sache im ganzen und mit allen ihren angenehmen Folgen zusammengenommen gedacht hatte – wenn er sich hingegen alles schlechtweg und ohne allen Prunk und Feierlichkeit vornahm, so ging die Ausführung oft weit eher und besser vonstatten. –

An guten Vorsätzen war er unerschöpflich. – Dies machte ihn aber auch beständig mit sich selber unzufrieden, weil der guten Vorsätze zu viele waren, als daß er sich selber jemals hätte ein Genüge tun können. –

Drei Tage, wo er einmal ununterbrochen mit sich zufrieden gewesen war, zeichnete er als eine große Merkwürdigkeit in seinem Leben auf, welche es auch wirklich für ihn war – denn diese drei Tage waren, fast so lange er denken konnte, die einzigen in ihrer Art. – Es war aber gerade diese drei Tage über ein glücklicher Zusammenfluß von Umständen, heiteres Wetter, gesundes Blut, freundliche Gesichter bei denen Personen, zu denen er kam, und wer weiß was mehr, wodurch ihm die Ausführung seiner guten Vorsätze nun merklich erleichtert wurde. –

Er nahm übrigens zu allerlei Mitteln seine Zuflucht, um sich fromm und tugendhaft zu erhalten. – Vorzüglich suchte er alle Morgen edle und gute Gesinnungen in sich zu erwecken, indem er Popens allgemeines Gebet, das er sich englisch aufgeschrieben und auswendig gelernt hatte, hersagte und wirklich, sooft er es sagte, dadurch gerührt und zu guten Vorsätzen und Entschließungen aufs neue belebt wurde. – Dann hatte er eine Anzahl Lebensregeln aus einem Buche ausgeschrieben, die er des Tages über zu gewissen bestimmten Zeiten las – und ein paar Chorarien, welche etwas zur Tugend und Frömmigkeit vorzüglich Aufmunterndes hatten, wurden ebenfalls täglich zu bestimmten Stunden sehr gewissenhaft von ihm gesungen. –

Wären nun hiebei seine äußern Verhältnisse nur etwas günstiger und aufmunternder geworden, so hätte Reiser mit diesen Vorsätzen und Bestrebungen, die doch bei einem jungen Menschen in seinem Alter (er war damals etwas über sechszehn Jahr) wohl sehr selten sind, ein Muster von Tugend werden müssen.

Aber dies war es, was ihn immer wieder niederschlug, die Meinung der Menschen von ihm, welche er mit Gewalt nicht umändern konnte, und die doch ohnerachtet aller seiner Bestrebungen, ein beßrer Mensch zu werden, sich nicht ganz wieder zu seinem Vorteil lenken wollte – er schien es nun einmal zu sehr verdorben und zu sehr die Erwartung aller von ihm getäuscht zu haben, als daß er sich je die vorige Achtung und Liebe der Menschen hätte wieder erwerben können. –

Insbesondre war ein Verdacht auf ihn gefallen, der ihn sehr unverdienterweise traf – dies war der Verdacht der Lüderlichkeit, weil er bei einem so lüderlichen Menschen, wie G... war, gewohnt hatte. – Reiser war so weit hievon entfernt, daß ihm drei Jahre nachher, da er zufälligerweise ein anatomisches Buch zu sehen bekam, über gewisse Dinge ein Licht aufging, wovon damals seine Begriffe noch sehr dunkel und verworren waren.

Sein Lesen aber bei dem Bücherantiquarius und sein Komödiengehn wurde ihm am schlimmsten ausgeleget und immer noch für ein unverzeihliches Vergehen gehalten. –

Nun fügte es sich gerade, daß eine Gesellschaft Luftspringer nach Hannover kam, und weil ein Platz nur eine Kleinigkeit kostete, so ging er einen einzigen Abend hin, um diese halsbrechenden Künste mit anzusehen – man hatte ihn erblickt – und weil dies nun auch eine Art von Komödie war, so hieß es, sein alter Hang sei nun wieder erwacht, und es gehe kein Abend hin, daß er nicht den Schauplatz bei den Luftspringern besuchte; da trüge er nun wieder sein Geld hin – man sehe hieraus schon, daß doch nun nichts aus ihm werden würde. –

Seine Stimme war viel zu ohnmächtig, um sich gegen die Aussage derer zu erheben, die ihn alle Abend bei den Luftspringern wollten gesehen haben – kurz, der einzige Abend, an welchem er hierher ging, brachte ihn wieder weiter in der Meinung der Menschen zurück, als ihn sein ganzer bisheriger Fleiß und regelmäßiges Betragen darin hatte vorwärts bringen können. –

Hiezu kamen nun noch einige Sachen, die ihn sehr niederschlugen. Das Neujahr kam wieder heran, und er freute sich schon darauf, daß er nun bei dem Aufzug mit Fackeln und Musik doch wieder die Vorrechte seines Standes genießen, in Reihe und Glied mit den übrigen gehen und auch nun nicht mehr, wie das vorigemal, einer der letzten in der Ordnung sein würde. –

Um nun aber die Fackel und seinen Anteil zur Musik und sonstigen Kosten bezahlen zu können, wartete er nur auf die Austeilung des Chorgeldes, das er sich mit saurer Mühe im Frost und Regen hatte ersingen müssen, und indem er nun zum Direktor kam, um es in Empfang zu nehmen, war es dem Konrektor eingefallen, für die Privatstunden, die Reiser in Sekunda bei ihm gehabt und nicht bezahlt hatte, Beschlag darauf zu legen. – Reiser ging zu dem Konrektor hin und bat ihn flehentlich, ihm nur die Hälfte von dem Chorgelde zu lassen; allein dieser war unerbittlich; und da Reiser wieder zum Direktor kam, so machte ihm auch der die bittersten Vorwürfe, daß er aufs neue in der Komödie bei den Luftspringern gewesen wäre und sich sogar auf dem Markte vor der Schule Honig und Brot gekauft und das auf der Straße gegessen habe. – Eine Sache, die Reiser für sehr etwas Unschuldiges und auch nicht für erniedrigend hielt, die ihm aber jetzt als die größte Niederträchtigkeit ausgelegt wurde, und worüber ihn der Direktor einen schlechten Buben schalt, der weder Ehre noch Scham hatte, und mit dem er sich nicht weiter befassen wollte. –

Nicht leicht war Reiser wohl in seinem ganzen Leben trauriger und niedergeschlagener gewesen, als da er jetzt vom Direktor zu Hause ging. Er achtete Wind und Schneegestöber nicht, sondern irrte wohl anderthalb Stunden auf dem Wall und in der Stadt umher und überließ sich seinem Gram und seinen lauten Klagen. –

Denn alles war ihm nun auf einmal fehlgeschlagen; sein Bestreben, sich bei dem Direktor durch sein Betragen wieder in Gunst zu setzen; seine Hoffnung, ein gutes Chorgeld zu erhalten, welches ohnedem zu Neujahr immer am beträchtlichsten zu sein pflegte; und sein sehnlicher Wunsch, am morgenden Tage dem Aufzuge mit Fackeln und Musik beizuwohnen und dort öffentlich mit in Reihe und Gliede zu gehn. –

Was ihn aber am meisten schmerzte, war doch im Grunde das letzte – und dies war sehr natürlich; denn durch seine Teilnehmung an dem Aufzuge fühlte er sich gleichsam in alle Rechte seine Standes, die ihm so sehr verleidet waren, wieder eingesetzt – davon ausgeschlossen zu bleiben, deuchte ihm eine der größten Widerwärtigkeiten, die ihm nur begegnen konnte. – Das war auch die Ursach, weswegen er den Konrektor um Erlassung der Hälfte von dem Chorgelde so flehentlich gebeten hatte, welches zu tun er sich sonst nie würde erniedrigt haben.

Alle sein Sinnen und Denken, Geld zu bekommen, half nichts; er konnte sich keine Fackel kaufen und mußte den folgenden Abend, während daß alle seine Mitschüler im glänzenden Pomp unter einer Menge von Zuschauern über die Straße zogen, traurig an seinem Klavier zu Hause sitzen – er suchte sich zu trösten, so gut er konnte; aber da er von fern die Musik hörte, so tat dies eine sonderbare Wirkung auf sein Gemüt – er dachte sich lebhaft den Glanz der Fackeln, die Menge der Zuschauer, das Getümmel und seine Mitschüler als die Hauptpersonen dieses prachtvollen Schauspiels – und sich nun ausgeschlossen, einsam und von aller Welt verlassen – dies versetzte ihn in eine Wehmut, die derjenigen völlig ähnlich war, da seine Eltern ihn oben auf der Stube allein gelassen hatten, während daß sie unten bei dem Wirt bei einer Gasterei waren, von welcher das frohe Gelächter und Klingen mit den Gläsern zu ihm hinauf erschallte, und er sich da auch so einsam und von aller Welt verlassen fühlte und sich aus den Liedern der Madam Guion tröstete. –

Dergleichen Vorfälle drängten ihn dann immer wieder aus der Welt in die Einsamkeit – er war nicht vergnügter, als wenn er allein bei seinem Klavier sitzen und für sich lesen und arbeiten konnte – und wünschte nichts sehnlicher, als daß es bald Sommer sein möchte, um auf dem Boden, wo sein Bette stand, den ganzen Tag allein zubringen zu können.

Und da nun dieser sehnlich gewünschte Sommer kam, so genoß er nun auch zuallererst die Wonne des einsamen Studierens. Er liehe sich seit einiger Zeit wieder Bücher vom Antiquarius; aber sein Geschmack fiel nun auf lauter wissenschaftliche Bücher. – Seine Romanen- und Komödienlektüre hatte seit jener schrecklichen Epoche seines Lebens gänzlich aufgehört. –

Sobald die Luft nun anfing, warm zu werden, eilte er auf seinen Boden und brachte da die vergnügtesten Stunden seines Lebens mit Lesen und Studieren zu. –

Er hatte sich von dem Bücherantiquarius unter andern Gottscheds Philosophie geliehen, und so sehr auch in diesem Buche die Materien durchwässert sind, so gab doch dies seiner Denkkraft gleichsam den ersten Stoß – er bekam dadurch wenigstens eine leichte Übersicht aller philosophischen Wissenschaften, wodurch sich die Ideen in seinem Kopfe aufräumten. –

Sobald er dies merkte, nahm auch sein Eifer, die Sache bald zu übersehen, mit jedem Tage zu. – Er sah, daß das bloße Lesen nichts half – er fing also an, sich auf kleinen Blättchen schriftliche Tabellen zu entwerfen, wo er das Detail immer dem Ganzen gehörig unterordnete und sich auf die Weise einen anschaulichen Begriff davon zu machen suchte. –

Das simple Abschreiben des Hauptinhalts brachte für ihn schon ein vorzügliches Interesse in die Sache – denn indem er nun das Blatt, auf welches er die in dem Buche enthaltenen Materien niedergeschrieben hatte, beim Lesen des Buches vor sich hinlegte, erhielt er dadurch den Vorteil, daß er bei dem Einzelnen nie das Ganze aus den Augen verlor, welches doch beim philosophischen Denken immer ein Haupterfordernis ist und auch die größte Schwierigkeit macht. –

Alles, was er noch nicht durchdacht hatte, lag auf dieser Karte wie ein unbekanntes Land vor ihm, welches genauer kennen zu lernen er eine ordentliche Sehnsucht empfand. –

Die Umrisse, das Fachwerk war durch die allgemeine Übersicht des Ganzen einmal in seiner Seele gemacht, er strebte nun von den Lücken, die er erst jetzt empfinden konnte, eine nach der andern auszufüllen. – Und dasjenige, was ihm erst bloße leere Namen gewesen waren, wurden nun allmählich vollgefüllte deutliche Begriffe, und wenn er nun eben den Namen wieder las oder wieder dachte und ihm auf einmal alles so licht und helle wurde, was ihm vorher dunkel und verworren gewesen war, so bemächtigte sich seiner ein so angenehmes Gefühl dabei, als er noch nie empfunden hatte – er schmeckte zuerst die Wonne des Denkens. –

Die immerwährende Begierde, das Ganze bald zu überschauen, leitete ihn durch alle Schwierigkeiten des Einzelnen hindurch. – In seiner Denkkraft ging eine neue Schöpfung vor. – Es war ihm, als ob es erst in seinem Verstande dämmerte und nun allmählich der Tag anbräche und er sich an dem erquickenden Lichte nicht satt sehen könnte. –

Er vergaß hierüber fast Essen und Trinken und alles, was ihn umgab, und kam unter dem Vorwande von Kränklichkeit in einer Zeit von sechs Wochen fast gar nicht von seinem Boden herunter – in dieser Zeit saß er vom Morgen bis an den Abend mit der Feder in der Hand bei seinem Buche und ruhete nicht eher, bis er vom Anfang bis zum Ende durch war.

Was hierbei seinen Eifer nie erlöschen ließ, war, wie schon gesagt, das beständige Vor-Augen-halten des Hauptinhalts – und das immerwährende Unterordnen und Klassifizieren der Materien in seinem Kopfe sowohl als auf dem Papiere. –

Er brachte also diesen Sommer, ohngeachtet seine äußern Verhältnisse sich eben nicht sehr verbessert hatten, doch ziemlich vergnügt zu.

Wenigstens mußte er die einsamen Stunden, welche er auf dem Boden zubrachte, immer unter die glücklichsten seines Lebens zählen. – Auch war er überhaupt von nun an minder unglücklich, weil seine Denkkraft angefangen hatte, sich zu entwickeln. –

Wo er ging und stund, da meditierte er jetzt, statt daß er vorher bloß phantasiert hatte – und seine Gedanken beschäftigten sich mit den erhabensten Gegenständen des Denkens – mit den Vorstellungen von Raum und Zeit, von der höchsten vorstellenden Kraft usw. –

Allein schon damals war es ihm oft, wenn er sich eine Weile im Nachdenken verloren hatte, als ob er plötzlich an etwas stieße, das ihn hemmte und wie eine bretterne Wand oder eine undurchdringliche Decke auf einmal seine weitere Aussicht schloß – es war ihm dann, als habe er nichts gedacht – als Worte. –

Er stieß hier an die undurchdringliche Scheidewand, welche das menschliche Denken von dem Denken höherer Wesen verschieden macht, an das notwendige Bedürfnis der Sprache, ohne welche die menschliche Denkkraft keinen eignen Schwung nehmen kann – und welche gleichsam nur ein künstlicher Behelf ist, wodurch etwas dem eigentlichen reinen Denken, wozu wir dereinst vielleicht gelangen werden, ähnliches hervorgebracht wird.

Die Sprache schien ihm beim Denken im Wege zu stehen, und doch konnte er wieder ohne Sprache nicht denken. –