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Anton Reiser. Ein psychologischer Roman.

von Karl Philipp Moritz

Vierter Teil

Er wollte diese sonderbaren Dokumente zuerst nicht gerne vorzeigen, bis es ihm äußerst nahegelegt wurde und man ihm nicht undeutlich merken ließ, daß man ihn für einen Landstreicher hielte.

Nun brachte er seine gedruckten Zeugnisse zum Vorschein, die eine bessere Wirkung taten, als er anfänglich geglaubt hatte, weil er sie nach und nach vorlegte.

Zuerst legte er den großen lateinischen Anschlagbogen auseinander und zeigte auf seinen Namen Reiserus. – Der Schulmeister hatte hier wieder Gelegenheit, seine Stärke in der Latinität zu zeigen, indem er den Anschlagbogen ins Deutsche übersetzte; und so hatte Reiser schon viel bei ihm gewonnen.

Darauf zog er den Prolog hervor und wies die Anwesenden auf seinen deutsch gedruckten Namen; dies stimmte also überein, und der Schulmeister erzählte bei der Gelegenheit, daß er auch auf der Jesuitenschule mit Komödie gespielt und sein Name gedruckt worden sei.

Zuletzt legte Reiser noch das Gedicht vor, wo sein Name aufs neue in der Liste aller seiner Mitschüler gedruckt erschien und nun vollends aller Zweifel verschwand, daß er der nicht wirklich wäre, der seinen Namen so oft und auf so verschiedene Weise gedruckt aufzeigen konnte. Der Werber selbst wurde stille und schien vor Reisern einigen Respekt zu bekommen.

Dies verschaffte ihm Ruhe. Er ließ sich Feder und Papier geben und fing an, eine von den Hymnen des Homers in deutsche Hexameter zu übersetzen. Den Abend kam der Schulmeister wieder und unterhielt sich mit ihm: so ging dieser Tag vorüber, und Reiser legte sich ruhig schlafen.

Als er aber am andern Morgen erwachte, den Himmel wieder ebenso trübe wie gestern sahe und den Regen ans Fenster schlagen hörte, fing ihm an der Mut zu sinken. –

Er stand von seiner Spreu auf und setzte sich traurig an den Tisch; es wollte mit den homerischen Hymnen nicht vorwärtsgehen – er stellte sich ans Fenster und sahe zu, ob der Himmel sich noch nicht ein wenig aufklären wollte, als der Soldat schon wieder hereintrat, um ihm seine Morgenvisite zu machen.

Da nun Reiser sich ankleidete und sein Haar in einen Zopf flochte, fing der Kriegsmann wieder an, ihm über seine Größe und über die Länge seines Haars sehr viele Komplimente zu machen, und wie schade es um ihn sei, daß er nicht in den Kriegsstand treten wolle.

Der Schulmeister kam nun auch dazu; sie hatten seit gestern überlegt, daß alle die vorgezeigten Dokumente kein Siegel gehabt hatten, und brachten nun diesen Umstand gegen Reisern vorzüglich in Anregung, daß er doch vor den Werbern nicht durchkommen würde, und daß er sich also lieber dem gönnen sollte, der doch die ersten Ansprüche auf ihn hätte.

So dauerte es nun den ganzen Tag über, welcher für Reisern, der nicht fort konnte, einer der traurigsten war, bis es gegen Abend sich aufklärte und auf einmal sein Mut wieder erwachte.

Er nahm alle seine Überredungskraft zusammen, um die Leute durch die nachdrücklichsten Vorstellungen zu überzeugen, daß es wirklich sein Vorsatz sei, in Erfurt zu studieren, wovon ihn nichts in der Welt abbringen könne, daß diese ihm endlich zu glauben schienen.

Der Schulmeister sagte ihm auf lateinisch, wenn er morgen früh auf Mühlhausen zureiste, so würde ihm der Wirt von diesem Gasthofe begegnen, der auch lateinisch spräche und verreist gewesen sei, um die Seinigen (suos) zu holen.

Der Soldat aber versprach Reisern zu seinem Schrecken, ihn den andern Morgen zu begleiten und ihn durch ein Gehölz auf den Weg zu bringen.

Den andern Morgen in aller Frühe war der Soldat schon wieder da, um ihn zu begleiten, und wollte im Gasthofe Reisers Zeche bezahlen, welches dieser aber mit Gewalt nicht zugab.

Sie gingen nun aus dem Dorfe Orschla auf Hähnichen zu eine Anhöhe herauf, der Soldat sprach kein Wort, und da sie durch ein Gehölz kamen, so erwartete nun Reiser jeden Augenblick die Entscheidung seines Schicksals, dem er doch nicht entgehen könnte.

Auf einmal stand der Soldat still und hielt Reisern eine ordentlich pathetische Anrede, er sollte sich noch einmal prüfen, ob er sich wirklich getraute, nicht in die Hände anderer Werber zu fallen; denn das einzige würde ihn nur ärgern, wenn er hörte, daß Reiser doch Soldat geworden wäre und ihn also gleichsam betrogen hätte: wenn es aber sein wirklicher Vorsatz sei zu studieren und nicht Soldat zu werden, so wünsche er ihm Glück zu seinem Vorhaben und eine glückliche Reise.

Hiermit ging er fort, und Reiser traute immer noch nicht recht, bis er erst eine ganze Strecke gegangen war und ihm nichts Auffallendes begegnete, außer einem pucklichten Mann, der zwei Schweine vor sich hertrieb und ihn lateinisch anredete, weil er ihn für einen Studenten hielt.

Dies war der Gastwirt aus Orschla, wovon der Schulmeister gesagt hatte, daß er (suos) die Seinigen holte, welcher aber (sues) Schweine geholt hatte, die der Schulmeister in Orschla nach der zweiten Deklination dekliniert und sie dadurch zu den Seinigen erhoben hatte.

Sobald sich nun Reiser wieder im Freien sahe und niemand gewahr wurde, der ihm aufgelauert hätte, so war ihm dies ein unerwartetes Glück – die Gefahr aber, welcher er entronnen war, machte doch, daß er im Gehen sehr ernsthaft über sein künftiges Leben nachdachte.

Er erwog, daß es ihm bei allen Leuten ein ehrliches Ansehn gab, wenn er sagte, daß er auf die Universität gehen und studieren wolle. Die Idee war ihm auch selber nicht zuwider; dies dauerte aber nur so lange, bis die Kulissen mit den Lichtern in seiner Einbildungskraft wieder hervortraten und alle andern Aussichten weichen mußten.

Er wanderte bis gegen Mittag auf eine ziemlich unbequeme Weise, weil der Boden noch nicht trocken war, wobei nun zu seinem Schrecken seine Schuh zu leiden anfingen, die unter seinen Umständen gewissermaßen einen unersetzlichen Teil seines Selbst ausmachten.

Er fühlte den drohenden Verlust mit jedem Schritte, den er tat, als um die Mittagsstunde der Himmel sich wieder mit Wolken umzog, die einen neuen Regenguß prophezeieten, welcher sich auch sehr bald einstellte und Reisers Wanderschaft zum zweitenmal unterbrach.

Zum Glück erreichte er bald ein Jägerhaus, das mitten auf einem rund umher mit Wald umgebenen Felde lag, und wo er ebenso voller Zutraun einkehrte, als er höflich und gut aufgenommen und bewirtet wurde.

Es war, als ob sein Empfang schon vorbereitet wäre, so freundschaftlich nahmen ihn die Leute in dieser einsamen Wohnung auf.

Es war, als ob es sich bei diesen Leuten von selbst verstände, daß man in einem solchen Wetter einen Wanderer aufnehmen müsse. Es hörte den ganzen Tag nicht auf zu regnen, und die Leute nötigten ihn selber, die Nacht zu bleiben.

Als sie ihn nun zum Abendessen nötigten, verbat es sich Reiser, weil er nicht hinlänglich mit Gelde versehen sei, um diese Bewirtung zu bezahlen; indem er eine weite Reise vor sich habe und sich außerordentlich einschränken müsse; worauf der Jäger aber mit einer Art von Unwillen ihn an den Tisch zog.

Es war für Reisern ein Gefühl ohnegleichen, sich von ganz unbekannten Menschen so wohl aufgenommen zu sehen.

Er fand sich hier wie zu Hause; man wies ihm die Nacht ein gutes Bette an, das ihm nun zum ersten Male auf seiner Wanderung wieder geboten wurde.

Am andern Morgen weckte man ihn zum Frühstück und nötigte ihn, den ganzen Tag dazubleiben, weil es noch immerfort regnete.

Der Mann ging ins Holz und verwies Reisern auf seine Bibliothek, daß er sich während der Zeit damit unterhalten sollte.

Diese Bibliothek bestand aus einer großen Sammlung von alten Kalendern, Totengesprächen, der Geschichte eines göttingschen Studenten und einem erfurtischen Wochenblatt, der Bürger und der Bauer, wo der Bauer im thüringschen Dialekt sprach und der Bürger ihm in hochdeutscher Sprache antwortete.

Reiser amüsierte sich herrlich mit diesen Sachen und gab von Zeit zu Zeit wieder seinen Gedanken Raum; denn sein gütiger Wirt und Wirtin waren von wenigen Worten und nicht im geringsten neugierig, sondern fragten ihn nicht einmal, wohin er ginge und woher er käme, so daß er also durch nichts in seinen Gedanken gestört wurde.

Diese gastfreundliche Stube mit dem kleinen Fenster, wodurch man weit übers Feld nach dem Holze sahe, indes der Regen sich draußen stromweise ergoß, blieb eins der angenehmsten Bilder in Reisers Gedächtnis.

Am dritten Morgen hatte sich der Himmel aufgeklärt; und als Reiser nun von seinen Wohltätern Abschied nahm, suchten sie ihm sogar noch den Dank zu ersparen, indem sie eine nicht nennenswerte Kleinigkeit an Gelde als eine Bezahlung für die dreitägige Bewirtung von ihm annahmen und, da er wegging, nicht einmal nach seinem Namen fragten.

Das Andenken an diese Leute machte Reisern während dem Gehen noch manche frohe Stunde und gab ihm zugleich wieder Mut und Zutrauen zu den Menschen, unter die er sich nun wie in einem Ozean verlor.

Der Weg war zuerst von dem gestrigen Regen noch ziemlich beschwerlich; weil aber die Sonne heiß schien, so trocknete der Boden bald wieder, und Reiser erreichte noch gegen Mittag die Reichsstadt Mühlhausen, welche nun als ein neuer ungewohnter Anblick mit ihren Türmen vor ihm lag.

Hier stand ihm nun, wie er gewarnt war, die meiste Gefahr von den Werbern bevor. – Er gab sich also diesmal alle mögliche Mühe, ehe er ins Tor ging, sorgfältig seine Toilette zu machen; und die schon einmal versuchte Rolle eines unbefangnen Spaziergängers gelang ihm auch diesmal wieder ebenso gut wie in Hildesheim, so daß er, ohne von einer Schildwache befragt zu werden, glücklich durchs Tor in die Stadt kam.

Durch die Stadt eilte er so schnell wie möglich, erkundigte sich nach dem Tore, aus welchem der Weg nach Erfurt geht, und verdoppelte seine Schritte, sooft er etwas einer Soldatenkleidung Ähnliches nur von fern erblickte.

Wie froh schüttelte er den Staub von seinen Füßen über diese Stadt, als er den letzten Schlagbaum zurückgelegt hatte und keinen preußischen Werber hinter noch neben sich sahe.

Die grünen Turmspitzen blieben das einzige Bild, was er von diesem Häuserhaufen mit sich nahm; alles übrige war verloschen; so schnell war seine Einbildungskraft über die Gegenstände hinweggegleitet.

Er näherte sich nun immer mehr dem Ziele seiner Reise und betrachtete das Zurückgelegte mit stillem Vergnügen, wobei ihm besonders seine Sparsamkeit und harte Lebensart einen süßen Triumph gewährten, da nun die Beschwerlichkeiten beinahe überstanden waren. Demohngeachtet aber fühlte er wiederum eine Art von Ängstlichkeit, je kleiner der Zwischenraum zwischen ihm und seinen ungewissen Aussichten wurde.

Denn das, was in der Einbildungskraft keinen Anstoß gelitten hatte, sollte nun zur Wirklichkeit kommen und mit Hindernissen kämpfen, die sich schon im voraus darstellten. Es deuchte Reisern nun viel leichter, mit schönen und angenehmen Aussichten in die weite Welt zu wandern, als an Ort und Stelle selbst zu sein und diese Aussichten wahr zu machen.

Drum hätte sich nun Reiser gerne das Ziel noch weiter weggewünscht, wenn er imstande gewesen wäre, seine Wanderung weiter fortzusetzen. Eine traurige Bemerkung aber, die er an seinen Schuhen machte, deren Verlust für ihn in den Umständen, worin er sich befand, unersetzlich war, hemmte auf einmal alle seine weiten Aussichten wieder und machte, daß er ernsthaft über seinen Zustand nachdachte.

Es ist merkwürdig, wie die verächtlichsten wirklichen Dinge auf die Weise in die glänzendsten Gebäude der Phantasie eingreifen und sie zerstören können und wie auf eben diesen verächtlichen Dingen eines Menschen Schicksal beruhen kann.

Reisers Glück, das er in der Welt machen wollte, hing jetzt im eigentlichen Sinne von seinen Schuhen ab; denn von seinen übrigen Kleidungsstücken durfte er nichts veräußern, wenn er mit Anstande erscheinen wollte: und doch machten zerrissene Schuhe, die er durch neue nicht ersetzen konnte, seinen ganzen übrigen Anzug unscheinbar und verächtlich.

Dies versetzte ihn, indem er auf dem Wege nach Langensalza begriffen war, in traurige und schwermütige Gedanken, bis ein Bauer und ein Handwerksbursch, die eben desselben Weges gingen, sich zu ihm gesellten und ihn mit Gesprächen unterhielten.

Der Handwerksbursch erzählte von seinen Reisen in Kursachsen, und der Bauer hatte eine Klagesache, die er selbst in Dresden bei dem Kurfürsten anbringen wollte.

Es war kurz nach Mittag und eine drückende Hitze. Dem Handwerksburschen drückten seine Stiefeln – Reiser sahe mit jedem Tritte seine Schuhe sich verschlimmern, und der Bauer klagte über entsetzlichen Durst, als sie auf dem Felde einige Arbeitsleute antrafen, die einen Eimer Wasser neben sich stehen hatten und den drei ermüdeten Wanderern zu trinken gaben.

Eine solche Szene, wo unbekannte, voneinander entfernte Menschen auf einmal sich nahe zusammenfinden, gemeinschaftliches Bedürfnis und gemeinschaftlichen Trost und Zuspruch aneinander haben, als ob sie nie unbekannt und entfernt voneinander gewesen wären; so etwas hielt Reisern für alles Unangenehme auf seinen Wanderungen wieder schadlos, und er konnte sich mit innigem Vergnügen daran zurückerinnern.

Seine Gefährten verließen ihn vor der Stadt Langensalza, in der er sich nicht aufhielt, sondern noch den nächsten Ort zu erreichen suchte, wo er übernachten wollte.

Er kam spät in dem Gasthofe an, wo er nun die letzte Nacht vor seiner Ankunft in Erfurt zubrachte. – Als er am andern Morgen erwachte, so war sein erster Gedanke an einen Schuster; und wie groß war nun seine Freude, als er an diesem Orte einen fand, der um wenige Groschen, während daß er darauf wartete, seine Schuh wieder in dauerhaften Stand setzte, und er dadurch auf einmal aus der größten Verlegenheit befreit war.

Nun ging er also rasch auf Erfurt zu. – So wie er gekleidet war, durfte er nun vor jedermann erscheinen, und so hatte er wieder Mut und Zutrauen zu sich selber.

In dem letzten Dorfe vor Erfurt ließ er sich einen Trunk Bier geben. – In dem Gasthofe war es sehr lebhaft. Man bemerkte schon die Nähe der Stadt, aus welcher sich viele Einwohner hier befanden, unter denen auch ein Gelehrter war, mit dem die andern von seinen Werken sprachen.

Von diesem Dorfe aus bekam denn Reiser endlich die Stadt Erfurt zu Gesichte mit dem alten Dom, den vielen Türmen, den hohen Wällen und dem Petersberge. – Das war nun die Vaterstadt seines Freundes Philipp Reisers, wovon ihm dieser so viel erzählt hatte. – Auf dem Wege nach der Stadt zu waren Kirschbäume gepflanzt. – Die Hitze der Mittagssonne hatte sich schon gelegt – die Leute gingen vor dem Tore spazieren – und als Reiser auf diesem Wege an Hannover zurückdachte, so war es ihm auch gerade, als habe er von dort bis hieher einen leichten Spaziergang gemacht, so klein deuchte ihm nun der Zwischenraum, den er zurückgelegt hatte.

Eine so große Stadt wie diese hatte er nun noch nicht gesehen; der Anblick war ihm neu und ungewohnt; er kam durch die breite und schöne Straße, welche der Anger heißt, und konnte sich nicht enthalten, noch ein wenig in der Stadt umherzugehen, ehe er seinen Stab weiter setzte; denn er wollte noch bis zum nächsten Dorfe gehen, das auf dem Wege nach Weimar liegt.

Bei diesen Wanderungen durch die Straßen von Erfurt kam er in eine der Vorstädte und kehrte, weil es noch nicht spät war, in einem Gasthofe ein.

Hier saß der Wirt, ein dicker Mann, am Fenster, und Reiser fragte ihn, ob die Ekhofsche Schauspielergesellschaft noch in Weimar wäre? Nichts! antwortete er, sie ist in Gotha! Reiser fragte weiter, ob Wieland noch in Erfurt wäre? Nichts! antwortete jener wieder, er ist in Weimar! Das Nichts! sprach er jedesmal mit einer Art von Unwillen aus, als ob es ihn verdrösse, Nein! zu sagen.

Und dies harte Nichts! in der Antwort des dicken Wirtes verrückte auf einmal Reisers ganzen Plan. – Nach Weimar war eigentlich sein Sinn gerichtet – da, glaubte er, würden sich unerwartete Kombinationen finden – er würde da den angebeteten Verfasser von Werthers Leiden sehen. – Und nun klang auf einmal Gotha statt Weimar in seinen Ohren.

Er ließ sich aber auch dies nicht irren, sondern stand eilig auf, um sich noch denselben Abend auf den Weg nach Gotha zu begeben und, um von seiner strengen Regel nicht abzuweichen, im nächsten Dorfe zu übernachten.

Ehe die Sonne unterging, hatte er Erfurt schon wieder im Rücken, und ehe es ganz Nacht wurde, erreichte er noch das erste Dorf auf dem Wege nach Gotha. – Der Dom und die alten Türme von Erfurt machten nun ein neues Bild in seiner Seele, das er mit sich heraustrug und das ihn zur Wiederkehr in diesen Ort einzuladen schien.

In dem Dorfe aber, wo er einkehrte, hatte er noch zu guter Letzt auf seiner Streu sehr unruhige Nachbaren. Dies waren nämlich Fuhrleute, die von Zeit zu Zeit aufstanden und sich in einem sehr groben Dialekt miteinander unterhielten, worin besonders ein Wort vorkam, das höchst widrig in Reisers Ohren tönte und immer mit einer Menge von häßlichen Nebenideen für ihn begleitet war: die Bauern sagten nämlich immer: ›er quam‹ anstatt ›er kam‹. Dieses ›quam‹ schien Reisern ihr ganzes Wesen auszudrücken; und alle ihre Grobheit war in diesem ›quam‹, das sie immer mit vollen Backen aussprachen, gleichsam zusammengedrängt.

Kaum daß Reiser ein wenig eingeschlummert war, so weckte ihn dies verhaßte Wort wieder auf, so daß diese Nacht eine der traurigsten war, die er je auf einer Streu zugebracht hatte. Als der Tag anbrach, sahe er die schwammigten, aufgedunsenen Gesichter seiner Schlafkameraden, welche vollkommen mit dem ›quam‹ übereinstimmten, das ihm noch in den Ohren gellte, als er den Gasthof schon verlassen hatte und nun am frühen Morgen mit starken Schritten auf Gotha zuwanderte.

Weil er die Nacht wenig geschlafen hatte, waren seine Gedanken auf dem Wege nach Gotha eben nicht sehr heiter, wozu noch kam, daß mit jedem Schritte seine Aussicht nun enger wurde und seine Phantasie weniger Spielraum hatte.

Es war an einem Sonntage, und ein Schuster, der die Woche aufs Land gegangen war, um Schulden einzufordern, kehrte mit ihm nach Gotha und sagte ihm unter andern, daß es dort sehr teuer zu leben sei.

Diese Nachricht war für Reisern sehr bedenklich, der nun ohngefähr noch einen Gulden im Vermögen hatte und dessen Schicksal in Gotha sich also sehr bald entscheiden mußte. –

Das Gespräch mit dem Schuster, der ihm als ein Einwohner von Gotha seine Not klagte, war für ihn gar nicht unterhaltend und stimmte seine Ideen sehr herab, da er nun das wirkliche Leben in so einer Stadt sich dachte, wo noch kein Mensch ihn kannte, und wo es noch sehr zweifelhaft war, ob irgend jemand an seinem Schicksal teilnehmen und auf seine Wünsche merken würde.

Diese unangenehmen Reflexionen machten, daß ihm der Weg noch beschwerlicher und er mit jedem Schritte müder wurde, bis sich die beiden kleinen Türmchen von Gotha zeigten, wovon ihm der Schuster sagte, daß der eine auf der Kirche und der andre auf dem Komödienhause stände.

Dieser angenehme Kontrast und lebhafte sinnliche Eindruck machte, daß sein Gemüt sich allmählich wieder erheiterte und er durch verdoppelte Schritte seinen Gefährten wieder in Atem setzte.

Denn das Türmchen bezeichnete ihm nun deutlich den Fleck, wo der unmittelbare laute Beifall eingeerntet und die Wünsche des ruhmbegierigen Jünglings gekrönt würden.

Dieser Platz behauptete dort seine Rechte neben dem geweihten Tempel und war selbst ein Tempel der Kunst und den Musen geweihet, in welchem das Talent sich entwickeln und alle und jede Empfindungen des Herzens aus ihren geheimsten Falten vor einem lauschenden Publikum sich enthüllen konnten. –

Da war nun der Ort, wo die erhabene Träne des Mitleids bei dem Fall des Edlen geweint und lauter Beifall dem Genius zugejauchzt wurde, der mit Macht die Seelen zu täuschen, die Herzen zu schmelzen wußte.

Mitleid den Toten und Ehre den Lebenden war hier die schöne Lösung – und Reiser lebte und webte schon in diesem Elemente, wo alles das, was die Vorwelt empfand, noch einmal nachempfunden und alle Szenen des Lebens in einem kleinen Raume wieder durchlebt wurden.

Kurz, es war nichts weniger als das ganze Menschenleben mit allen seinen Abwechselungen und mannigfaltigen Schicksalen, das bei dem Anblick des Türmchens vom Gothaischen Komödienhause sich in Reisers Seele wie im Bilde darstellte, und worin sich die Klagen des Schusters, der ihn begleitete, und seine eigenen Sorgen wie in einem Meere verloren. –

Mit seinem einzigen Gulden in der Tasche fühlte sich Reiser beglückt wie ein König, solange dieser Reichtum von Bildern ihm vorschwebte, die die Spitze des Türmchens in Gotha umgaukelten und Reisern einen schönen Traum in die Zukunft aufs neue vorspiegelten.

Da sie nicht mehr weit von der Stadt waren, ließ Reiser seinen Gefährten vorangehen und setzte sich gemächlich unter einen Baum, um so gut wie nur irgend möglich seine Kleider in Ordnung zu bringen und auf eine stattliche Weise in Gotha seinen Einzug zu halten.

Dies gelang ihm so gut, daß einige Handwerksleute, die eben vor dem Tore vor Gotha spazieren gingen, wie vor einem vornehmen Manne den Hut vor ihm abzogen, welches Reisern nicht wenig in Verwunderung setzte, der auf seiner ganzen Reise mit den Fuhrleuten auf der Streu geschlafen und eine gar nicht glänzende Figur gespielt hatte.

Er kam nun durch das alte Tor von Gotha in eine etwas dunkle Straße, die er hinaufging und bald zur rechten Seite den Gasthof zum goldnen Kreuze ansichtig wurde, wo er denn einkehrte, weil dieser Gasthof ihm keiner der glänzendsten zu sein schien.

Als er eben hereintrat, fand er gleich vorn in der Gaststube einen Schwarm von Handwerksburschen, die schrien und lärmten; und er wollte schon wieder umkehren, als der alte Wirt zu ihm kam, der ihn freundlich anredete und fragte, ob er etwa hier logieren wolle? Reiser erwiderte: dies sei wohl eine Herberge für Handwerksburschen? Das täte nichts, sagte der Wirt, er solle mit seinem Logis schon zufrieden sein, und hierauf nötigte er Reisern in seine eigene wohleingerichtete Stube, wo ein alter Hauptmann, ein Hoflakai und noch einige andere wohlgekleidete Leute waren, in deren Gesellschaft Reiser von dem Wirt introduzieret und auf das höflichste behandelt wurde. Denn man tat keine einzige unbescheidene oder neugierige Frage an ihn und bewies ihm doch dabei eine schmeichelnde Aufmerksamkeit.

In diesem Zimmer stand ein Flügel, auf welchem ein junger Mann, namens Liebetraut, sich hören ließ. Dieser Liebetraut war auch erst vor kurzem zufälligerweise in eben diesen Gasthof eingekehrt und mit den alten Wirtsleuten bekannt geworden, auf deren Zureden, weil sie sich gerne in Ruhe setzen wollten, er den Gasthof in Pacht übernommen hatte, so daß er also eigentlich der Wirt war, obgleich die Alten ihm noch immer Anweisung geben und sich mit um die Wirtschaft bekümmern mußten.

Dieser junge Liebetraut ließ sich sehr bald mit Reisern in ein Gespräch über schöne Wissenschaften und Dichtkunst ein und zeigte sich als ein Mann von feinem Geschmack und Bildung, und was das Sonderbarste war, so schien er nicht undeutlich darauf anzuspielen, daß Reiser wohl hierher gekommen sei, um sich dem Theater zu widmen.

Dieser ließ sich für jetzt nicht weiter aus, und ihm wurde nun auch eine Stube angewiesen, wo er allein sein konnte. Hier sammelten sich nun seine Gedanken wieder, und er machte sich nun einen Plan, wie er am andern Tage seinen Besuch bei dem Schauspieler Ekhof machen und dem sein Anliegen vortragen wollte.

Während er auf seiner Stube allein mit diesen Gedanken beschäftigt war und am Fenster stand, kamen die Chorschüler vor das Haus und sangen eine Motette, die Reiser während seiner Schuljahre in Wind und Regen oft mitgesungen hatte.

Dies erinnerte ihn an jenen ganz trüben Zeitraum seines Lebens, wo immer Mißmut, Selbstverachtung und äußerer Druck ihm jeden Schimmer von Freude raubte, wo alle seine Wünsche fehlschlugen und ihm nichts als ein schwacher Strahl von Hoffnung übrig blieb.

Sollte denn nun, dachte er, nicht endlich einmal die Morgenröte aus jenem Dunkel hervorbrechen? – Und eine trügerische täuschende Hoffnung schien ihm zu sagen, daß er dafür, daß er so lange sich selber zur Qual gewesen, nun auch einmal werde Freude an sich selber haben, und daß die glückliche Wendung seines Schicksals nicht weit mehr entfernt sei.

Sein höchstes Glück aber war nun einmal der Schauplatz; denn das war der einzige Ort, wo sein ungenügsamer Wunsch, alle Szenen des Menschenlebens selbst zu durchleben, befriedigt werden konnte.

Weil er von Kindheit auf zu wenig eigene Existenz gehabt hatte, so zog ihn jedes Schicksal, das außer ihm war, desto stärker an; daher schrieb sich ganz natürlich während seiner Schuljahre die Wut, Komödien zu lesen und zu sehen. – Durch jedes fremde Schicksal fühlte er sich gleichsam sich selbst entrissen und fand nun in andern erst die Lebensflamme wieder, die in ihm selber durch den Druck von außen beinahe erloschen war.

Es war also kein echter Beruf, kein reiner Darstellungstrieb, der ihn anzog: denn ihm lag mehr daran, die Szenen des Lebens in sich als außer sich darzustellen. Er wollte für sich das alles haben, was die Kunst zum Opfer fordert.

Um seinetwillen wollte er die Lebensszenen spielen – sie zogen ihn nur an, weil er sich selbst darin gefiel, nicht weil an ihrer treuen Darstellung ihm alles lag. – Er täuschte sich selbst, indem er das für echten Kunsttrieb nahm, was bloß in den zufälligen Umständen seines Lebens gegründet war. – Und diese Täuschung, wie viele Leiden hat sie ihm verursacht, wie viele Freuden ihm geraubt!

Hätte er damals das sichere Kennzeichen schon empfunden und gewußt, daß, wer nicht über der Kunst sich selbst vergißt, zum Künstler nicht geboren sei, wie manche vergebene Anstrengung, wie manchen verlornen Kummer hätte ihm dies erspart!

Allein sein Schicksal war nun einmal von Kindheit an, die Leiden der Einbildungskraft zu dulden, zwischen welcher und seinem würklichen Zustande ein immerwährender Mißlaut herrschte, und die sich für jeden schönen Traum nachher mit bittern Qualen rächte.

Nach seiner langen Wanderschaft brachte nun Reiser wieder die erste Nacht in Gotha in sanftem Schlummer zu, und als er am andern Morgen früh erwachte, so war es, als ob aus Lisuart und Dariolette ihm der Schluß aus einer Arie, welche die verwünschte Alte singt, entgegentönte:

     Vielleicht ist dies der Morgen,
     Der aller meiner Sorgen
     Erwünschtes Ende bringt.

Während daß diese Zeilen ihm immer in Gedanken schwebten, zog er sich an und erkundigte sich bei seinem jungen Wirt, wo Ekhof wohnte, dem er nun diesen Vormittag seinen Besuch machen wollte.

Zu dem Ende hielt er nun seinen gedruckten Prolog in Bereitschaft, den er in Hannover verfertigt und Iffland gesprochen hatte, und durch welchen er hier vorzüglich Eingang zu finden hoffte.

Der junge Gastwirt Liebetraut nötigte ihn noch vorher mit ihm zu frühstücken und schien an seinem Umgange ein besonderes Vergnügen zu finden, indem er zugleich anfing, ihn zum Vertrauten seiner Herzensgeschichte zu machen, welche darin bestand, daß er den Gasthof gepachtet habe, um ein junges Frauenzimmer, das er liebte, je eher je lieber heiraten zu können.