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Anton Reiser. Ein psychologischer Roman.

von Karl Philipp Moritz

Dritter Teil

Als Essigbrauer war K..., so hieß er, wirklich ein großer Mann, das er vielleicht auch als Gelehrter, nur nicht in dem Maß gewesen wäre – weil ohne diesen Kampf mit seinem Schicksale die erhabene duldende Kraft seiner Seele nicht so hätte geübt werden können. – Es mochte wohl keine menschenfreundliche Tugend geben, welche ihm in seiner Lage auszuüben möglich war, und die er nicht ausgeübt hätte. –

Von seinem sauer erworbenen Verdienst ersparte er immer so viel, daß er einige junge Leute, zu deren Bildung beizutragen die Freude seines Lebens machte, zuweilen des Abends an seinem Tische bewirten und auch wohl manchmal einen Spaziergang mit ihnen machen konnte, wobei er sich allemal das Vergnügen machte, zu bezahlen, was sie verzehrten. – Auch unterstützte er noch überdem eine arme Familie täglich mit einem Groschen, den er sich von seinem geringen Verdienst abzog – denn er war eigentlich nur Knecht in dieser Brauerei, worin sein Vetter, ein alter abgelebter Greis, für den er die Arbeit mit verrichtete, Meister war. –

Winter und Philipp Reiser und der Essigbrauer waren jetzt Reisers vorzüglichster Umgang, wozu noch ein junger Mensch kam, der, durch Reisers Beispiel aufgemuntert, ohngeachtet der Armut seiner Eltern auch den Entschluß gefaßt hatte, zu studieren. – Auch diesen suchte der Essigbrauer durch Winter an sich zu ziehen, um zu der Bildung seines Geistes beizutragen. – Seine Unterredungen waren größtenteils wahre sokratische Gespräche, die er oft mit dem feinsten Spott über die kindische Torheit oder Eitelkeit seiner jungen Gesellschafter würzte. –

Da nun der Winter herankam, widerfuhr Reisern eine Aufmunterung, die noch mehr als alles Vorhergehende wieder seinen Mut belebte. – Er erhielt nämlich vom Direktor den ehrenvollen Auftrag, auf den Geburtstag der Königin von England, welcher im Januar eintraf, eine deutsche Rede zu verfertigen, die er bei dieser Feierlichkeit halten sollte.

Dies war nun das höchste und glänzendste Ziel, wornach ein Zögling dieser Schule nur streben konnte und wozu nur sehr wenige gelangten: denn gemeiniglich wurden sonst die Reden an des Königes und der Königin Geburtstage nur von jungen Edelleuten gehalten. – Bei dieser Feierlichkeit pflegten der Prinz und die Minister nebst allen übrigen Honoratioren der Stadt zugegen zu sein – welche einem solchen jungen Menschen, der nun als die Hoffnung des Staats betrachtet wurde, nach geendigter Rede ordentlich Glück wünschten – ein Anblick, der Reisern oft niederschlug, wenn er dachte, daß er zu so etwas Glänzendem nie in seinem Leben gelangen würde. –

Und nun fügte es sich so plötzlich, da er noch im Anfange desselben Jahres allgemein verachtet und hintangesetzt war, daß ihm ohne sein Zutun ein so ermunternder Auftrag geschahe, zu dessen Ausführung er nun auch gleich mit dem größten Eifer schritte.

Er nahm sich vor, seine deutsche Rede in Hexametern zu verfertigen; nun hatte ihm der Direktor die Literaturbriefe geliehen und sie ihm zur sorgfältigsten Lektüre empfohlen – da stieß er denn auch unter andern auf die Rezension, wo Zacheriäs Übersetzung von Miltons verlornem Paradiese wegen der schlechten Hexameter getadelt und zugleich über den Bau des Hexameters, seine Einschnitte usw. viel Vortreffliches gesagt wird. – Dies faßte Reiser auf und suchte nun seinen Hexameter mit der größten Sorgfalt auszufeilen. – Manchen Tag kam er kaum mit drei bis vier Versen zustande – jeden Abend ging er dann zu Philipp Reisern und ließ seine Verse noch einmal dessen Kritik passieren, wobei sie denn zusammen alle Bände der Literaturbriefe miteinander durchlasen und auch in diesem Winter ihre Shakespearenächte wieder erneuerten. –

Im November war Reiser ohngefähr mit der Hälfte seiner Rede fertig und ging damit zum Direktor, um sie ihm zur Kritik zu zeigen. – Dieser bezeigte ihm seinen großen Beifall über seine Arbeit, kündigte ihm aber zugleich an, daß er die Rede nicht öffentlich würde halten können, weil dies verschiedene Kosten erforderte, die Reiser wohl nicht würde aufbringen können. – – Kein Donnerschlag hätte Reisern mehr zu Boden schlagen können als diese Nachricht – alle seine glänzenden Aussichten, womit er sich während der Verfertigung seiner Rede geschmeichelt hatte, waren auf einmal wieder verschwunden, und er fiel wieder in sein voriges Nichts zurück. – Der Direktor suchte ihn hierüber zu trösten – aber er ging mit schwerem Herzen und melancholischen Gedanken, daß er zur ewigen Dunkelheit bestimmt sei, von dem Direktor weg, und nun fielen ihm die Verse ein, die er für Philipp Reisern gemacht hatte, und die sich jetzt auf seinen Zustand paßten:

     Oft will ich mich erheben
     Und sinke schwer zurück;
     Und fühle dann mit Beben
     Mein trauriges Geschick. –

Und als an einem andern Tage im Chore unter andern in einer Arie die Worte gesungen wurden:

     Du strebst, um glücklicher zu werden,
     Und siehst, daß du vergebens strebst –

so deutete er dies ebenfalls auf sich und kam sich auf einmal wieder so verlassen, so verächtlich, so unbedeutend vor, daß er selbst Philipp Reisern nicht einmal von seinem neuen Kummer etwas sagen mochte und lieber nicht zu ihm ging, um nicht von seinem Schicksal mit ihm reden zu dürfen, das nun anfing, ihm wieder verhaßt zu werden und der Mühe des Nachdenkens nicht mehr wert zu scheinen. –

Da er sich indes hierüber endlich satt gequält hatte, so dachte er auf ein Mittel, wie er doch noch seinen Zweck erreichen könnte – und dies bot sich ihm, da er nur erst darüber nachdachte, sehr bald dar – er durfte nur zu dem Pastor Marquard gehen, welcher doch wieder Hoffnung von ihm zu schöpfen angefangen hatte, und durfte diesen nur bitten, ihm bei dem Prinz so viel, als zur Anschaffung eines guten Kleides und übrigens zur Bestreitung der Kosten bei Haltung der Rede erfordert wurde, auszuwirken, worin auch der Pastor Marquard sogleich willigte und Reisern schon im voraus einen guten Erfolg versprach. – Reisers Besorgnisse waren also nun auf einmal wieder gehoben, und er konnte nun die angefangene Rede mit frohem Herzen vollenden, um sie am Geburtstage der Königin zu halten. – Da es nun aber wieder anfing zu frieren, so konnte er oben auf seiner Kammer nicht mehr allein sein, sondern mußte wieder des Abends unten bei den Wirtsleuten in der Stube sitzen, wo die einquartierten Soldaten nebst dem Wirt ihn mit zu ihren Spielen nötigten, mit denen sie sich die langen Winterabende vertrieben. – Hier verfertigte er nun größtenteils des Nachmittags und des Abends in der Dämmerung, indem er sich mit dem Kopf an den Ofen legte, seine Rede. – Und nun hatte er auch ein schönes Mittel gegen seine schwermütige Laune gefunden; sooft er nämlich merkte, daß sie anfing, seiner Herr zu werden, ging er im größten Regen und Schnee des Abends, wenn es schon dunkel war, aus und einmal um den Wall spazieren, und es fehlte ihm niemals, daß sich nicht, sowie er mit schnellen Schritten vorwärtsging, neue Aussichten und Hoffnungen unvermerkt in seiner Seele entwickelt hätten, von welchen freilich die glänzendste ihm am nächsten lag. – Bei diesen Spaziergängen um den Wall gelangen ihm auch die besten Stellen in seiner Rede, und Schwierigkeiten in Ansehung des Versbaues, die ihm oft, wenn er sich mit dem Kopf am Ofen gelehnt hatte, unüberwindlich schienen, hoben sich hier wie von selbst. –

Der Wall um Hannover war von seiner Kindheit an der vorzüglichste Schauplatz seiner angenehmsten Phantasie und romanhaftesten Ideen gewesen – denn er sahe hier die dichtineinandergebaute Stadt und die ländliche offene Natur mit Gärten, Äckern und Wiesen so nahe aneinandergrenzend und doch so außerordentlich verschieden, daß dieser Kontrast einer lebhaften Wirkung auf seine Phantasie nie verfehlen konnte. – Dann drängten sich auch in die Umgebung des Ortes, der seine meisten Schicksale gleichsam in seinen Umfang einschloß, immer tausend dunkle Erinnerungen an die Vergangenheit in seiner Seele empor, welche mit seiner gegenwärtigen Lage zusammengehalten gleichsam mehr Interesse in sein Leben brachten, – und vorzüglich des Abends machte der Anblick von den auf den Zimmern hin und her zerstreuten Lichtern in den dicht an den Wall grenzenden Häusern allemal die schon vorher beschriebene Wirkung auf ihn. –

Seitdem er nun die Verse deklamiert hatte, wurde er fast von allen seinen Mitschülern geachtet. – Das war ihm ganz etwas Ungewohntes – er hatte in seinem Leben so etwas noch nicht erfahren – ja, er glaubte kaum, daß es möglich sei, daß man ihn noch achten könne – nach allen den bisherigen Erfahrungen bildete er sich ein, es müsse wohl etwas in seiner Person oder seinen Mienen liegen, wodurch er vielleicht, so lange er lebte, lächerlich und ein Gegenstand des Spottes sein würde. – Diese Empfindung der Achtung erhöhte sein Selbstbewußtsein und schuf ihn zu einem andern Wesen um – sein Blick, seine Miene verwandelte sich – sein Auge wurde kühner – und er konnte, wenn jemand seiner spotten wollte, ihm jetzt so lange gerade ins Auge sehen, bis er ihn aus der Fassung brachte. –

Seine ganze äußere Lage änderte sich auch nun auf einmal. – Durch die Verwendung des Rektors und des Pastor Marquard, die nun beide wieder die beste Hoffnung von ihm geschöpft hatten, bekam er bald so viele Unterrichtsstunden, daß ihm eine für seine damaligen Bedürfnisse ziemlich beträchtliche monatliche Einnahme daraus erwuchs, welche ihm denn freilich auch eine ganz ungewohnte Sache war, womit er nicht gehörig umzugehen wußte. –

Keiner seiner reichen und angesehenen Mitschüler schämte sich nun mehr, mit ihm umzugehen und ihn in seiner schlechten Wohnung zu besuchen. – Er sahe sich auch noch in diesem Jahre gedruckt, indem er verschiedene kleine Neujahrwünsche in Versen für einen Buchdrucker verfertigte, welcher dergleichen gedruckte Wünsche verkaufte – ob nun gleich sein Name nicht hiebei bemerkt war und niemand wußte, daß die Verse von ihm waren, so machte ihm doch der Anblick dieser ersten gedruckten Zeilen von seiner Hand ein unbeschreibliches Vergnügen, sooft er sie ansah. – Und als nun gar einige Tage vorher, ehe die Rede gehalten wurde, auf einem lateinischen Anschlagbogen sein Name nebst den Namen noch zweier seiner Mitschüler von den angesehensten Eltern öffentlich gedruckt stand; und er nun auf diesem Anschlagbogen wirklich ›Reiserus‹ hieß, wie ihn der vorige Direktor einst genannt hatte; und die Zwischenzeit zwischen jener mündlichen und dieser gedruckten Benennung ›Reiserus‹ mit alle dem, was er darin verschuldet oder unverschuldet gelitten hatte, sich ihm lebhaft darstellte – so preßte ihm dies Tränen der Freude und der Wehmut aus – denn von dieser plötzlichen Wendung seines Schicksals hatte er sich vor einem Jahre, vor einem halben Jahre noch nichts träumen lassen. – Dieser lateinische Bogen mit seinem Namen war nun am schwarzen Brette vor der Schule und an den Kirchtüren öffentlich angeschlagen, so daß Leute, die vorbeigingen, still standen, um ihn zu lesen. –

Nun war es üblich, daß die jungen Leute, welche bei dergleichen Vorfällen Reden hielten, die Honoratiores der Stadt selbst einige Tage vorher dazu einladen mußten. – Welch eine Veränderung, da Reiser, den sonst wegen seiner schlechten Kleider selbst seine Mitschüler nicht einmal auf der Straße anzureden oder mit ihm zu gehen würdigten – nun mit dem Hut unterm Arm und den Degen an der Seite ordentlich seine Cour bei dem Prinz machte und ihn zu der Feier des Geburtsfestes seiner Schwester, der Königin von England, einlud – und wie er nun bei diesem Einladungsgeschäft sich den vornehmsten Einwohnern der Stadt zeigen konnte und von allen mit den aufmunterndsten Höflichkeitsbezeugungen aufgenommen ward. –

Er hatte also, ehe er sichs versah, und da er schon gänzlich Verzicht darauf getan hatte, das ehrenvollste Ziel erreicht, nach welchem ein Primaner in Hannover nur streben konnte, und welches nur von wenigen erreicht wurde. –

Diese den jungen Leuten selbst übertragene Einladungen haben wirklich etwas sehr Aufmunterndes und sind in mancher Absicht zur Nachahmung zu empfehlen... – Reiser ward durch diese Einladungen während einer Zeit von wenigen Tagen in eine Welt geführt, die ihm bisher ganz unbekannt gewesen war – er unterhielt sich mit Ministern, Räten, Predigern, Gelehrten, kurz mit Personen aus allerlei Ständen, die er bisher nur in der Entfernung angestaunt hatte, Mund gegen Mund; und alle diese Personen ließen sich mit Höflichkeitsbezeugungen zu ihm herab und sagten ihm etwas Angenehmes und Aufmunterndes, so daß Reisers Selbstgefühl in diesen wenigen Tagen mehr als vorher in Jahren gewann. – Er lud auch den Dichter Hölty ein, den er aber bei dieser Gelegenheit nur wenig kennen lernte; denn Reisers Schüchternheit konnte nur durch eine gewisse Zutraulichkeit, die man ihm bewies, gehoben werden, und diese war Höltys Sache nicht, der bei der ersten Unterredung mit einem Unbekannten allemal etwas verlegen war. – Reiser nahm diese Verlegenheit für Verachtung, die ihn desto mehr kränkte, je größer seine Achtung für Hölty war, und so wagte er es nicht, ihn wieder zu besuchen. –

Wenn er nun den Tag über seine glänzende Rolle ausgespielt hatte, so ging er des Abends zu seinem Essigbrauer, wo denn auch Philipp Reiser und Winter und der andre junge Mensch, den sein Beispiel zum Studieren aufgemuntert hatte, waren, die ihn mit offenen Armen empfingen – und denen er von seinen Besuchen und den Personen, die er kennen gelernt hatte, erzählte – und auf die Weise die Freude über seinen Zustand mit ihnen teilte. –

Die Frau Filter und sein Vetter, der Perückenmacher, und alle die Leute, welche ihm Freitische gegeben hatten, bewetteiferten sich nun, ihm ihre Freude und Teilnehmung zu bezeigen. – Seine Eltern, die lange nichts von ihm gehört und ihre Hoffnung auf ihn schon längst aufgegeben hatten, waren ganz erfreut, da sie diese plötzliche günstige Wendung seines Schicksals vernahmen und den lateinischen Anschlagbogen erhielten, worauf der Name ihres Sohnes mit großen Buchstaben gedruckt stand. –

Bei allen diesem äußern Glanz blieb nun Reiser immer noch in seiner alten Wohnung, wo sein Wirt, der Fleischer, dessen Frau und Magd und ein paar Soldaten, die dort im Quartier lagen, seine Stubengesellschaft ausmachten. –

Wenn ihn nun, ohngeachtet dieser schlechten Wohnung, einer von seinen reichen und angesehenen Mitschülern besuchte, so machte ihm dies ein geheimes Vergnügen – daß er auch, ohne ein einladendes Logis oder sonst äußere Vorzüge zu haben, bloß um sein selbst willen gesucht würde. – Dies machte, daß er zuweilen auf seine schlechte Wohnung ordentlich stolz war. –

Endlich kam nun der Tag seines Triumphes heran, wo er auf die auffallendste Art, die nur in seiner Lage möglich war, öffentlich Ehre und Beifall einernten sollte – aber eben dies erweckte bei ihm eine ganz besondre schwermütige Empfindung – auf diesen Punkt war nun bisher alle sein Wünschen und Trachten gespannt gewesen – bis auf diesen Punkt heftete sich die Aufmerksamkeit eines großen Teils von Menschen auf ihn – und wenn nun dies vorbei wäre, so sollte das alles nachlassen, und die ganz alltäglichen Szenen des Lebens sollten dann wiederkommen. – Dieser Gedanke erweckte in Reisern sehr oft den sonderbaren, im Ernst gemeinten Wunsch, daß er am Ende seiner Rede hinfallen und sterben möchte. – Nun fügte es sich, daß gerade an dem Tage, da die Rede gehalten wurde, eine außerordentliche Kälte einfiel, wodurch mancher zurückgehalten wurde, so daß die Anzahl der Zuhörer etwas kleiner wie gewöhnlich, aber die Versammlung doch immer noch glänzend genug war. – Indes kam Reisern an diesem Tage alles so tot, so öde vor; die Phantasie mußte zurücktreten – das Wirkliche war nun da – und eben daß nun dies, wovon er so lange geträumt hatte, schon wirklich und nichts weiter als dies war, machte ihn nachdenkend und traurig – denn nach diesem Maßstabe maß er nun die ganze Zukunft des Lebens ab – alles war ihm hier wie im Traume, wie in dunkler Entfernung – er konnte es sich nicht recht vors Auge bringen – mit melancholischen Gedanken bestieg er den Katheder – und während daß die Musik ertönte, ehe er noch anfing zu reden, dachte er an ganz etwas anders als an seinen gegenwärtigen Triumph – er dachte und fühlte die Nichtigkeit des Lebens – die angenehme Vorstellung seines gegenwärtigen wirklichen Zustandes schimmerte nur wie durch einen trüben Flor durch. –

Um die Fortschritte, welche er damals in Ansehung des Ausdrucks seiner Gedanken gemacht hatte, zu bezeichnen, ist es vielleicht nicht unzweckmäßig, aus der Rede, die er hielt, einige Stellen herauszuheben. Sie hub an:

     Welch ein Weihrauch steigt so sanft von Wonnegefilden
     Durch den Äther hinauf bis hin zum Throne der Gottheit? –
     O sie sind's – die Gebete glücklicher Völker – sie wallen
     Für Charlotten so sanft hinauf zum Ewgen – und flammen   usw.

     – – Georg! – rauscht
     Harfen! tönet Jubelgesang von ganzen beglückten
     Nationen laut! – Und verstumme mein Lied! Denn vergebens
     Wagst du's, sein Lob, Georgens Lob zu erschwingen – so wagts oft
     Kühn des Adlers Flug bis zur Sonne sich zu erheben,
     Schwingt sich hoch über Felsen und Berg' und Wolken empor, dünkt
     Nun sich ihr näher und merkt nicht, daß sein Schneckenflug immer
     Doch auf der Erde verweilt, die ihm schon entschwand – welche Töne
     Klängen stark und harmonisch genug, Georgens erhabner
     Tugend göttliche Harmonie nur schwach nachzubilden? –   usw.

     – – Und Georg hebt sich nun auf den Gipfel
     Seiner Größ' empor – denkt ernst an das Wohl seiner Völker,
     Denkt es – und schafft es – Und unerschüttert vom Donner
     Steht er nun da – wie die Zeder Gottes – mit ihrem wohltätgen
     Schatten schützt sie Gevögel und Wild – und der Sturmwind verschwendet
     An ihren Blättern sein Toben und kräuselt ihr laubigtes Haar. – So
     Sicher in den Stürmen, die seine Scheitel umdonnern,
     Steht Georg – Wenn Völker toben – Doch du getreues
     Volk deinem König, verhülle nur dein Antlitz und weine!
     Siehe nicht, wie dein Bruder im fernen Lande sich auflehnt
     Gegen seinen König. – –   usw.

     Jedes fühlende Herz wallt heute Charlotten entgegen
     Und verzeihts dem schwächern Jüngling – der es auch wagte
     Und Charlotten sang – doch still, mein Lied, denn von fern rauscht
     Schon des Volks Frohlocken, das seiner Königin heute
     Seinen Weihrauch streut – und laut: es lebe Charlotte!
     Ruft, daß Wald und Gebürg' es widerhallen: sie lebe!

Reiser hatte sich bei Verfertigung dieser Rede ein Ideal in seinem Kopfe gebildet, das ihn wirklich begeisterte – wozu denn das kam, daß er von diesen Gegenständen öffentlich reden sollte. – Der Gedanke füllte gleichsam die Lücken aus, wo seine Begeisterung aufhörte oder ermattete. –

Da er aber nun freilich von seinem Gegenstande wenig oder gar nichts wußte, so bemühte er sich, eine Anzahl Lobreden, die auf den König und die Königin schon gehalten waren, in die Hände zu bekommen; diese las er durch und abstrahierte sich daraus sein Ideal, ohne sonst aus einer einzigen sich auch nur eines Ausdrucks zu bedienen – dies vermied er so sorgfältig, als er nur immer konnte; denn vor dem Plagiat hatte er die entsetzlichste Scheu – so daß er sich sogar des Ausdrucks am Schluß seiner Rede: ›daß Wald und Gebürg' es widerhallen‹, schämte, weil einmal in Werthers Leiden der Ausdruck steht: ›daß Wald und Gebürg' erklang‹ – ihm entschlüpften zwar oft Reminiszenzien, aber er schämte sich ihrer, sobald er sie bemerkte. –

An dem Tage nun, da er die Rede gehalten hatte, war er, wie ich schon bemerkt, niedergeschlagener wie jemals – denn alles war ihm doch so tot, so leer – und es war nun vorbei – womit seine Einbildungskraft sich so lange beschäftigt hatte. –

Den Nachmittag wurde er nebst den andern beiden, die Reden gehalten hatten, bei dem ersten Bürgermeister, der zugleich Scholarch war, zum Kaffee gebeten; dies war ihm eine ganz ungewohnte Ehre – er wußte sich nicht recht dabei zu nehmen – und wurde nicht eher wieder heiter, als bis er sein schönes Kleid ausgezogen hatte und des Abends wieder zu seinem Essigbrauer kam, wo Winter und S... und Philipp Reiser auch schon waren, die sich seines Glücks nun wirklich freuten, und deren Teilnehmung ihm mehr wert war als alle das Glänzende dieses Tages. –

Reiser erhielt nun noch mehr Unterrichtsstunden, wodurch sich seine Einnahme so verbesserte, daß er sich ein beßres Logis mieten, zuweilen einige seiner Mitschüler zum Kaffee bitten und für einen Primaner auf einen ganz ansehnlichen Fuß leben konnte – nun aber deuchte ihm das Geld, was er einnahm, gegen seine sonstigen Einkünfte und Bedürfnisse gehalten so viel, daß ihm die Kostbarkeit desselben und die Notwendigkeit des Zusammenhaltens auch nicht im mindesten einleuchtete – er wurde auf die Weise durch seine stärkere Einnahme ärmer, als er vorher war; und eben das, was eine Wirkung seines günstigen Glücks war, wurde in der Folge wieder die Quelle seines Unglücks. –

Da er nun aber die Achtung aller derer, die ihn kannten, und derer, von welchen sein Glück abhing, so plötzlich und so unerwartet wiedergewonnen hatte, so machte dies natürlicherweise einen Eindruck auf sein Gemüt, der ihn zu einem edlen Bestreben anspornte, diese Achtung immer mehr zu verdienen – er fing an, die Stunden des öffentlichen Unterrichts sorgfältiger wie jemals zu nutzen und vorzüglich durch Aufschreiben sich, soviel er nur konnte, davon zu eigen zu machen. –

Die Übungen im Deklamieren währten fort – und Reiser verfertigte zu diesem Endzweck noch ein Gedicht über die Mängel der Vernunft – ein Thema, das der Direktor zur Ausarbeitung aufgegeben hatte. – Reiser brachte hier alle seine Zweifel hinein, die er schon so lange mit sich herumgetragen hatte. – Die Begriffe Alles und Sein als die höchsten Begriffe des menschlichen Verstandes gnügten ihm nicht – sie schienen ihm eine enge und ängstliche Einschränkung zu sein – daß nun damit alles menschliche Denken aufhören sollte – ihm fielen die Worte des sterbenden alten Tischers ein – alles, alles, alles! – daß er gleichsam da, wo sich ein neues Dasein von dem alten scheidet, diesen höchsten Grenzbegriff so oft wiederholte – die Scheidewand sollte gleichsam durchgebrochen werden. – Alles und Dasein mußten wieder untergeordnete Begriffe von einem noch höhern, vielumfassendern Begriffe werden – alles, was ist – muß noch etwas neben sich leiden, etwas – das zugleich mit allem, was ist, unter etwas Höherem, etwas Erhabenerem begriffen wird – warum soll unser Denken die letzte Grenze sein? – wenn wir nichts Höheres sagen können als alles, was da ist, soll denn eine höhere und die höchste Denkkraft auch nichts Höheres sagen können? – Der sterbende Tischer wollte vielleicht mehr sagen, als er sein ›alles‹ zweimal wiederholte, aber seine Zunge oder seine Gedanken versagten ihm – und er starb. –

Dies waren die sonderbaren Ideen, die Reiser in sein Gedicht über die Mängel der Vernunft brachte, das unter andern die Worte enthielt:

     Das All, das die Vernunft im kühnsten Flug erschwingt,
     Wie weit ists noch von dem, wonach der Seraph ringt? –

Zuletzt endigte sich denn das Gedicht auf eine sehr orthodoxe Weise, daß man also doch zu dem Licht der Offenbarung am Ende seine Zuflucht nehmen müsse:

     Ein Licht, das vor uns her durch dunkle Schatten geht
     Und unsern Pfad erhellt – weh dem, der es verschmäht! –

Den Schluß billigte der Direktor sehr; das Ganze des Gedichts aber hielt er, wie auch sehr natürlich war, für unverständlich. –

Ein andermal arbeitete Reiser wieder ein Gedicht über die Zufriedenheit – gleichsam zu seiner eignen Belehrung oder zur eignen Richtschnur seines Lebens aus – nachdem er nun aber alle Beruhigungsgründe bei den Widerwärtigkeiten des Lebens durchgegangen war und sich gleichsam in eine sanfte Stille eingewiegt hatte, so erwachte doch am Ende wieder seine schwarze Melancholie – und er beschloß die Reihe der sanften Empfindungen, welche in diesem Gedicht ausgedrückt waren, doch am Ende mit folgenden Ausdrücken der Verzweiflung:

p>     Doch machen ungemeßne Leiden
     Dir hier dein Leben selbst zur Qual –
     Und findest du dann keinen Retter
     Und keinen End'ger deiner Not –
     Sieh auf! – er kämmt im Donnerwetter –
     O grüße, grüße deinen Tod!

 

Indem er einem solchen Gedanken nachhing, empfand er oft eine Art von qualenvoller Wonne, wenn es dergleichen geben kann. –

Dies Gedicht war gleichsam ein Gemälde aller seiner Empfindungen, die, wenn sie auch sanft und ruhig anhuben, sich doch gemeiniglich auf die Weise zu endigen pflegten. – Zu diesem Gange der Empfindungen war nun einmal durch alle die unzähligen Kränkungen und Demütigungen, die er von Jugend auf erlitten hatte, sein Gemüt gestimmt – bei der heitersten lachendsten Aussicht zog sich das schwarze Melancholische immer wieder wie eine Wolke vor seine Seele. –

Sobald sich auch sein Ausdruck dahin lenkte, wurde er natürlich und wahr. – Wie er denn einmal den Auftrag erhielt, für jemanden verliebte Klagen zu dichten. – Eine Situation, in welche er sich mit aller Anstrengung nicht versetzen konnte, denn weil er gar nicht glaubte, daß er von einem Frauenzimmer je geliebt werden könnte – indem er sein ganzes Äußre einmal für so wenig empfehlend hielt, daß er gänzlich Verzicht darauf getan hatte, je zu gefallen; so konnte er sich nie in die Lage eines solchen setzen, der darüber klagt, daß er nicht geliebt wird – was er also hievon wußte, das dachte er sich bloß, ohne es je empfinden zu können. – Demohngeachtet gerieten ihm die verliebten Klagen, die er entwarf, nicht ganz übel, weil er das kurz darin zusammendrängte, was er aus Romanen und Philipp Reisers Unterredungen wußte. – Zuletzt aber dachte er sich nun den Liebhaber in einem Zustande, wo er vom Überrest seiner Leiden niedergedrückt der Verzweiflung nahe ist, und ohne nun ferner auf die Ursach der Verzweiflung Rücksicht zu nehmen, dachte er sich nun den Verzweiflungsvollen und konnte sich wieder in seine Stelle versetzen. – Der letzte Vers dieser verliebten Klagen schien ihm daher auch unter den Händen zu geraten. –

     Im tiefsten, schwarzen Hain,
     Wohin kein Wandrer kam,
     Wo Todes Vögel schrein –
     Am ausgehöhlten Stamm
     Der Eiche will ich trostlos weinen,
     So lange Stern' am Himmel scheinen,
     Bis unter meiner Klagen Laut
     Der Morgen taut. – –