Skip to main contentSkip to page footer

Anton Reiser. Ein psychologischer Roman.

von Karl Philipp Moritz

Zweiter Teil

Da ihm der Rektor das Logis aufgesagt hatte, so zog er daraus die sichere Folge, daß nun auch der Pastor Marquard sich nicht weiter um ihn bekümmern würde, und so war es nun auf einmal mit allen seinen Aussichten und Hoffnungen vorbei. – Die paar Wochen, welche er noch bei dem Rektor blieb, brachte er nach seiner gewöhnlichen Weise zu – dann zog er bei einem Bürstenbinder ins Haus, wo nun das Vierteljahr, welches er von Johanni bis zu Michaelis zubrachte, das schrecklichste und fürchterlichste in seinem ganzen Leben war, und wo er oft am Rande der Verzweiflung stand. –

Da er nun hier eingezogen war, so fühlte er sich auf einmal aus alle den Verbindungen, die er vormals so ängstlich gesucht hatte, herausgesetzt und zwar, wie er selbst glaubte, durch seine eigne Schuld herausgesetzt. – Der Prinz, der Pastor Marquard, der Rektor, alle die Personen, von denen sein künftiges Schicksal abhing, waren nun nichts mehr für ihn, und damit verschwanden zugleich alle seine Aussichten. –

Was Wunder, daß sich durch diese Veranlassung eine neue Phantasie in seiner Seele bildete, in der er von nun an Trost suchte und sie Tag und Nacht mit sich umhertrug, und welche ihn von der gänzlichen Verzweiflung rettete.

Er hatte nämlich damals unter andern die Operette Klarissa oder das unbekannte Dienstmädchen gesehen, und nicht leicht hätte in seiner Lage irgendein Stück mehr Interesse für ihn haben können als dieses. –

Der vorzüglichste Umstand, wodurch dies große Interesse bei ihm bewürkt wurde, war, daß ein junger Edelmann sich entschließt, ein Bauer zu werden, und auch wirklich seinen Entschluß ausführt. – Reiser nahm auf die Veranlassung, die ihn dazu brachte, weil er nämlich das unbekannte Dienstmädchen liebte usw., gar keine Rücksicht, sondern es war ihm eine so reizende Idee, daß ein gebildeter junger Mensch sich entschließt, ein Bauer zu werden, und nun ein so feiner, höflicher und gesitteter Bauer ist, daß er sich unter allen übrigen auszeichnet. –

In dem Stande, worin sich Reiser begeben, war er nun einmal ganz zurückgesetzt, und es schien ihm unmöglich, sich je wieder darin emporzuarbeiten. – Allein für einen Bauer hatte doch sein Geist einmal weit mehr Bildung erhalten, als es sonst zu diesem Stande bedarf – als Bauer war er über seinen Stand erhoben, als ein junger Mensch, der sich dem Studieren widmet und Aussichten haben soll, fand er sich weit unter seinen Stand erniedrigt. Die Idee, ein Bauer zu werden, wurde also nun bei ihm die herrschende und verdrängte eine Zeitlang alles übrige. –

Nun besuchte damals eines Bauern Sohn, namens M..., die Schule, dem er im Lateinischen zuweilen einigen Unterricht gegeben hatte – diesem sagte er seinen Entschluß, ein Bauer zu werden, worauf ihm dann derselbe eine detaillierte Schilderung von den eigentlichen Arbeiten eines Bauernknechtes machte, die Reisern seine schönen Träume wohl hätten verderben können, wenn seine Phantasie nicht zu stark dagegen angewürkt und nur immer die angenehmen Bilder mit Gewalt nebeneinander gestellt hätte. –

Sonst kömmt auch selbst in der Operette Klarissa schon eine Stelle vor, wo ein Bauer dem jungen Edelmann, der ihm sein Gütchen abkaufen will, von seinem Vorsatz abrät – und am Ende eine sehr ausdrucksvolle Arie singt, wie der Landmann gerade im besten Arbeiten begriffen ist, und auf einmal steigt ein Gewitter auf:

     Die Blitze schießen,
     Die Donner rollen,
     Und der Landmann geht verdrießlich,
     Verdrießlich zu Hause. –

Das ›verdrießlich‹ insbesondere war durch die Musik so ausgedrückt, daß die ganze Zauberei der Phantasie schon durch dies einzige Wort hätte zerstört werden können – welches gleichsam das Gegengift aller Empfindsamkeit und hohen Schwärmerei ist, womit das Schmerzhafte, das Schreckliche, das Niederbeugende, das in Zorn Setzende, aber nur das Verdrießlichmachende nicht wohl bestehen kann.

Aber dies Gegengift half bei Reisern nicht – er ging ganze Tage einsam für sich umher und dachte darauf, wie er es machen wollte, ein Bauer zu werden, ohne doch in der Tat einen Schritt dazu zu tun – vielmehr fing er an, sich in diesen süßen Schwärmereien selbst wieder zu gefallen – wenn er sich nun als Bauer dachte, so glaubte er sich doch zu etwas Besserm bestimmt zu sein und empfand über sein Schicksal wieder eine Art von tröstendem Mitleid mit sich selbst.

Solange ihn nun diese Phantasie noch emporhielt, war er nur schwermutsvoll und traurig, aber nicht eigentlich verdrießlich über seinen Zustand. – Selbst seine Entbehrung der notwendigsten Bedürfnisse machte ihm noch eine Art von Vergnügen, indem er nun beinahe glaubte, daß er für sein Verschulden doch zu sehr büßen müsse, und also noch die süße Empfindung des Mitleids mit sich selbst behielt. –

Endlich aber, nachdem er zum ersten Male drei Tage ohne zu essen zugebracht und sich den ganzen Tag über mit Tee hingehalten hatte, drang der Hunger mit Ungestüm auf ihn ein, und das ganze schöne Gebäude seiner Phantasie stürzte fürchterlich zusammen – er rannte mit dem Kopfe gegen die Wand, wütete und tobte und war der Verzweiflung nahe, da sein Freund Philipp Reiser, den er so lange vernachlässigt hatte, zu ihm hereintrat und seine Armut, die freilich auch nur in einigen Groschen bestand, mit ihm teilte. –

Indes war dies nur ein sehr geringes Palliativ – denn Philipp Reiser befand sich damals in nicht viel bessern Umständen als Anton Reiser.

Dieser geriet nun wirklich in einen fortdaurenden fürchterlichen Zustand, der der Verzweiflung nahe war.

Sowie sein Körper immer weniger Nahrung erhielt, verlosch allmählich seine ihn sonst noch belebende Phantasie, und sein Mitleid über sich selbst verwandelte sich in Haß und Bitterkeit gegen sein eignes Wesen. Ehe er nun einen Schritt zu der Verbesserung seines Zustandes getan oder sich an irgendeinen Menschen nur mit dem Schein einer Bitte gewandt hätte, unterwarf er sich lieber freiwillig mit der beispiellosesten Hartnäckigkeit dem schrecklichsten Elende. –

Denn mehrere Wochen hindurch aß er wirklich die Woche eigentlich nur einen einzigen Tag, wenn er zum Schuster Schantz ging, und die übrigen Tage fastete er und hielt mit nichts als Tee oder warmen Wasser, das einzige, was er noch umsonst erhalten konnte, sein Leben hin. – Mit einer Art von schrecklichem Wohlbehagen sahe er seinen Körper eben so gleichgültig wie seine Kleider von Tage zu Tage abfallen.

Wenn er auf der Straße ging und die Leute mit Fingern auf ihn zeigten und seine Mitschüler ihn verspotteten und hinter ihm her zischten und Gassenbuben ihre Anmerkungen über ihn machten – so biß er die Zähne zusammen und stimmte innerlich in das Hohngelächter mit ein, das er hinter sich her erschallen hörte. –

Wenn er aber dann wieder zum Schuster Schantz kam, so vergaß er doch alles wieder. – Hier fand er Menschen, hier wurde auf einige Augenblicke sein Herz erweicht, mit der Sättigung seines Körpers erhielt seine Denkkraft und seine Phantasie wieder einen neuen Schwung, und mit dem Schuster Schantz kam wieder ein philosophisches Gespräch auf die Bahn, welches oft stundenlang dauerte, und wobei Reiser wieder an zu atmen fing und sein Geist wieder Luft schöpfte – dann sprach er oft in der Hitze des Disputierens über einen Gegenstand so heiter und unbefangen, als ob nichts in der Welt ihn niedergedrückt hätte. – Von seinem Zustande ließ er sich nicht eine Silbe merken. –

Selbst bei seinem Vetter, dem Perückenmacher, beklagte er sich nie, wenn er zu ihm kam, und ging weg, sobald er sahe, daß gegessen werden sollte – aber eines Kunstgriffes bediente er sich doch, wodurch es ihm gelang, sich vom Verhungern zu retten. –

Er bat sich nämlich für einen Hund, den er bei sich zu Hause zu haben vorgab, von seinem Vetter die harte Kruste von dem Teig aus, worin das Haar zu den Perücken gebacken wurde, und diese Kruste nebst dem Freitische bei dem Schuster Schantz und dem warmen Wasser, das er trank, war es nun, womit er sich hinhielt.

Wenn nun sein Körper einige Nahrung erhalten hatte, so fühlte er ordentlich zuweilen wieder etwas Mut in sich. – Er hatte noch einen alten Virgil, den ihm der Bücherantiquarius nicht hatte abkaufen wollen; in diesem fing er an, die Eklogen zu lesen. – Aus einer Wochenschrift, die Abendstunden, die er sich von Philipp Reisern geliehen hatte, fing er an, ein Gedicht, der Gottesleugner, das ihm vorzüglich gefiel, und einige prosaische Aufsätze auswendig zu lernen. – Aber mit dem bald wieder fühlbaren Mangel an Nahrung erlosch auch dieser aufglimmende Mut wieder, und dann war die Tätigkeit seiner Seele wie gelähmt. – Um sich vor dem Zustande des tödlichen Aufhörens aller Wirksamkeit zu retten, mußte er zu kindischen Spielen wieder eine Zuflucht nehmen, insofern dieselben auf Zerstörung hinausliefen.

Er machte sich nämlich eine große Sammlung von Kirsch- und Pflaumenkernen, setzte sich damit auf den Boden und stellte sie in Schlachtordnung gegeneinander – die schönsten darunter zeichnete er durch Buchstaben und Figuren, die er mit Tinte darauf malte, von den übrigen aus und machte sie zu Heerführern – dann nahm er einen Hammer und stellte mit zugemachten Augen das blinde Verhängnis vor, indem er den Hammer bald hie, bald dorthin fallen ließ – wenn er dann die Augen wieder eröffnete, so sah er mit einem geheimen Wohlgefallen die schreckliche Verwüstung, wie hier ein Held und dort einer mitten unter dem unrühmlichen Haufen gefallen war und zerschmettert dalag – dann wog er das Schicksal der beiden Heere gegen einander ab und zählte von beiden die Gebliebenen.

So beschäftigte er sich oft den halben Tag – und seine ohnmächtige kindische Rache am Schicksal, das ihn zerstörte, schuf sich auf die Art eine Welt, die er wieder nach Gefallen zerstören konnte. – So kindisch und lächerlich dieses Spiel jedem Zuschauer würde geschienen haben, so war es doch im Grunde das fürchterlichste Resultat der höchsten Verzweiflung, die vielleicht nur je durch die Verkettung der Dinge bei einem Sterblichen bewirkt wurde. –

Man sieht aber auch hieraus, wie nahe damals sein Zustand an Raserei grenzte – und doch war seine Gemütslage wieder erträglich, sobald er sich nur erst wieder für seine Kirsch- und Pflaumensteine interessieren konnte – ehe er aber auch das konnte; wenn er sich hinsetzte und mit der Feder Züge aufs Papier malte oder mit dem Messer auf den Tisch kritzelte – das waren die schrecklichsten Momente, wo sein Dasein wie eine unerträgliche Last auf ihm lag, wo es ihm nicht Schmerz und Traurigkeit, sondern Verdruß verursachte – wo er es oft mit einem fürchterlichen Schauder, der ihn antrat, von sich abzuschütteln suchte. –

Seine Freundschaft mit Philipp Reisern konnte ihm damals nicht zustatten kommen, weil es jenem nicht viel besser ging – und so wie zwei Wandrer, die zusammen in einer brennenden Wüste in Gefahr vor Durst zu verschmachten sind, indem sie forteilen, eben nicht imstande sind, viel zu reden und sich wechselsweise Trost einzusprechen, so war dies auch jetzt der Fall zwischen Anton Reisern und Philipp Reisern.

Allein eben der G..., welcher einst den sterbenden Sokrates gespielt hatte, wovon Reiser noch immer den Spottnamen trug, entschloß sich, bei ihm zu ziehen, und war auch gerade in denselben Umständen wie Reiser, nur mit dem Unterschiede, daß er durch wirkliche Liederlichkeit hineingeraten war – an ihm fand also Reiser nun einen würdigen Stubengesellschafter.

Es dauerte nicht lange, so zog auch der Bauernsohn, namens M., zu diesen beiden, der ebenfalls in keinen bessern Umständen war. – Es fand sich also hier eine Stubengesellschaft von drei der ärmsten Menschen zusammen, die vielleicht nur je zwischen vier Wänden eingeschlossen waren. –

Mancher Tag ging hin, wo sie sich alle drei mit nichts als gekochtem Wasser und etwas Brot hinhielten. – Indes hatten G... und M... doch noch einige Freitische. –

G... war im Grunde ein Mensch von Kopf, der sehr gut sprach, und gegen den Reiser sonst immer viel Achtung empfunden hatte.

Einmal bekamen beide auch noch eine Anwandlung von Fleiß und fingen an, Virgils Eklogen zusammen zu lesen, wobei sie wirklich das reinste Vergnügen genossen, nachdem sie eine Ekloge mit vieler Mühe für sich selbst herausgebracht hatten, und nun ein jeder eine Übersetzung davon niederschrieb – allein dies konnte natürlicherweise unter den Umständen nicht lange dauern – sobald ein jeder seine Lage wieder lebhaft empfand, so war aller Mut und Lust zum Studieren verschwunden. –

In Ansehung der Kleidung war es mit G... und M ... ebenso schlecht wie mit Reisern bestellt – sie machten daher, wenn sie ausgingen, zusammen einen Aufzug, der das wahre Bild der Liederlichkeit und Unordnung schien, so daß man mit Fingern auf sie wies, weswegen sie denn auch immer auf Abwegen und durch enge Straßen aus der Stadt zu kommen suchten, wenn sie spazieren gingen.

Diese drei Leute führten nun auch völlig ein Leben, wie es mit ihrem Zustande übereinstimmte – sie blieben oft den ganzen Tag im Bette liegen – oft saßen sie alle drei zusammen, den Kopf auf die Hand gestützt, und dachten über ihr Schicksal nach; oft trennten sie sich, und ein jeder ließ für sich seiner Laune freien Lauf – Reiser ging auf den Boden und musterte seine Kirschkerne – M... ging bei sein großes Brot, das er sorgfältig in einem Koffer verschlossen hatte – und G... lag auf dem Bette und machte Projekte, die denn nicht die besten waren, wie sich bald nachher zeigte. – Zwei Bücher las doch Reiser damals, weil er kein anders hatte, zu verschiedenen Malen durch, indem er auf dem Boden zwischen seinen Kirschkernen saß – das waren die Werke des Philosophen von Sanssouci und Popens Werke nach Duschens Übersetzung, die er beide von dem Schuster Schantz geliehen bekommen hatte.

Diese drei Leute gingen nun auch eines Tages zusammen in einer schönen Gegend von Hannover längs dem Fluß spazieren, in welchem sich eine kleine Insel erhob, die ganz voller Kirschbäume stand. –

Für unsre drei Abenteurer waren diese Kirschbäume, die alle voll der schönsten Kirschen saßen, ein so einladender Anblick, daß sie sich des Wunsches nicht enthalten konnten, auf diese Insel versetzt zu sein, um sich an dieser herrlichen Frucht nach Gefallen sättigen zu können.

Nun fügte es sich gerade, daß eine Menge Floßholz den Fluß hinuntergeschwommen kam, welches sich in der Verengung des Flusses zwischen dem Ufer und der Insel zuweilen stopfte und eine anscheinende Brücke bis zu der Insel bildete.

Unter G...s Anführung, der in der Ausführung solcher Projekte schon geübt zu sein schien, wurde nun ein Wagestück unternommen, das leicht allen dreien das Leben hätte kosten können. – Sie zogen nämlich da, wo das Floßholz sich gestopft hatte, ein Stück nach dem andern aus dem Wasser heraus und trugen es alle auf einen Fleck, wo ihnen die Passage über den Fluß zwischen dem Ufer und der Insel am engsten zu sein schien, und nun bauten sie die Brücke, worüber sie gehen wollten, erst vor sich her, indem sie ein Stück Holz nach dem andern vor sich hinwarfen, um festen Fuß zu fassen – natürlicherweise mußte diese Brücke unter ihnen zu sinken anfangen, und sie kamen sehr tief ins Wasser, ehe sie kaum die Hälfte ihres gefährlichen Weges zurückgelegt hatten – endlich landeten sie denn doch, obgleich mit Lebensgefahr, auf der Insel an. –

Und nun bemächtigte sich aller dreier auf einmal ein Geist des Raubes und der Gier, daß ein jeder über einen Kirschbaum herfiel und ihn mit einer Art von Wut plünderte. –

Es war, als hätte man eine Festung mit Sturm erobert; man wollte für die überstandene Gefahr, die man sich selbst gemacht hatte, Ersatz haben und dafür belohnt sein.

Da man sich sattgegessen hatte, wurden alle Taschen, Schnupftücher, Halstücher, Hüte, und was nur etwas in sich fassen konnte, von Kirschen vollgestopft – und in der Dämmerung wurde der Rückweg über die gefährliche Brücke, wovon indes schon ein Teil weggeschwommen war, wieder angetreten und ohngeachtet der Beute, womit die Abenteurer belastet waren, mehr durch Zufall als Geschicklichkeit oder Behutsamkeit, glücklich geendet. –

Reiser fand sich zu dergleichen Expeditionen gar nicht übel aufgelegt – dies deuchte ihm eigentlich nicht Diebstahl, sondern nur gleichsam eine Streiferei in ein feindliches Gebiet zu sein, die wegen des Muts, der dabei erfordert wird, immer noch eine ehrenvolle Sache ist. –

Und wer weiß, zu welchen Wagestücken von der Art er noch unter G...s Anführung mit geschritten wäre, wenn er länger bei diesem gewohnt hätte. –

Allein dieser G... gehörte denn doch im Grunde mehr zu den abgefeimten als zu den herzhaften Parteigängern – denn er war niederträchtig genug, selbst seine beiden Stubengesellschafter und Gefährten, Reisern und M..., zu bestehlen, indem er ihnen ein paar Bücher und andre Sachen, die sie noch hatten, nahm und heimlich verkaufte, wie sich nachher zeigte. –

Kurz, dieser G..., mit dem Reiser so nahe zusammen wohnte, war im Grunde ein abgefeimter Spitzbube, der, wenn er den ganzen Tag über auf dem Bette lag und nachsann, auf nichts als Bübereien dachte, die er ausführen wollte – und der demohngeachtet von Tugend und Moralität sprechen konnte wie ein Buch, wodurch er Reisern zuerst eine solche Ehrfurcht gegen ihn eingeflößt hatte.

Denn von der Tugend hatte er sich damals ein sonderbares Ideal gemacht, welches seine Phantasie so sehr einnahm, daß ihn oft schon der Name Tugend bis zu Tränen rührte. –

Er dachte sich aber unter diesem Namen etwas viel zu Allgemeines und dachte dies Allgemeine viel zu dunkel und mit zu weniger Anwendung auf besondre Vorfälle, als daß es ihm je hätte gelingen können, auch den aufrichtigsten Vorsatz, tugendhaft zu sein, auszuführen – denn er dachte immer nicht daran, wo er nun eigentlich anfangen sollte. –

Einmal kam er an einem schönen Abend von einem einsamen Spaziergang zu Hause, und der Anblick der Natur hatte sein Herz zu sanften Empfindungen geschmolzen, daß er viele Tränen vergoß und sich in der Stille gelobte, von nun an der Tugend ewig getreu zu sein! – und da er diesen Vorsatz fest gefaßt hatte, so empfand er ein so himmlisches Vergnügen über diesen Entschluß, daß es ihm nun fast unmöglich schien, je von diesem beglückenden Vorsatze wieder abzuweichen. – Mit diesen Gedanken schlief er ein – und da er am Morgen erwachte, so war es wieder so leer in seinem Herzen; die Aussicht auf den Tag war so trübe und öde; alle seine äußern Verhältnisse waren so unwiederbringlich zerrüttet; ein unüberwindlicher Lebensüberdruß trat an die Stelle der gestrigen Empfindung, womit er einschlief – er suchte sich vor sich selbst zu retten und machte den Anfang tugendhaft zu sein damit, daß er auf den Boden ging und in Schlachtordnung gestellte Kirschkerne zerschmetterte. –

Dies nun zu unterlassen und statt dessen etwa in dem alten Virgil, den er noch hatte, eine Ekloge zu lesen, wäre der eigentliche Anfang zur Ausübung der Tugend gewesen – aber auf diesen zu geringfügig scheinenden Fall hatte er sich bei seinem heldenmütigen Entschlusse nicht gefaßt gemacht.

Wenn man die Begriffe der Menschen von der Tugend prüfen wollte, so würden sie vielleicht bei den meisten auf ebensolche dunkle und verworrene Vorstellungen hinauslaufen – und man sieht wenigstens hieraus, wie unnütz es ist, im allgemeinen und ohne Anwendung auf ganz besondre und oft geringfügig scheinende Fälle von Tugend zu predigen. –

Reiser wunderte sich damals oft selbst darüber, wie seine plötzliche Anwandlung von Tugendeifer so bald verrauchen und gar keine Spur zurücklassen konnte – aber er erwog nicht, daß Selbstachtung, welche sich damals bei ihm nur noch auf die Achtung anderer Menschen gründen konnte, die Basis der Tugend ist – und daß ohne diese das schönste Gebäude seiner Phantasie sehr bald wieder zusammenstürzen mußte.

Sooft es ihm während dieses Zustandes noch möglich gewesen war, einige Groschen zusammenzubringen, so oft hatte er sie auch in die Komödie getragen – da aber die Schauspielergesellschaft in der Mitte des Sommers wieder wegzog, so war nun eine Wiese vor dem neuen Tore nicht nur das Ziel seiner Spaziergänge, sondern fast sein immerwährender Aufenthalt – er lagerte sich hier zuweilen den ganzen Tag auf einen Fleck im Sonnenschein hin oder ging längs dem Flusse spazieren und freute sich vorzüglich, wenn er in der heißen Mittagsstunde keinen Menschen um sich her erblickte. –

Indem er hier ganze Tage lang seinen melancholischen Gedanken nachhing, näherte sich seine Einbildungskraft unvermerkt mit großen Bildern, welche sich erst ein Jahr nachher allmählich zu entwickeln anfingen. –

Sein Lebensüberdruß aber wurde dabei aufs äußerste getrieben – oft stand er bei diesen Spaziergängen am Ufer der Leine, lehnte sich in die reißende Flut hinüber, indes die wunderbare Begier zu atmen mit der Verzweiflung kämpfte und mit schrecklicher Gewalt seinen überhängenden Körper wieder zurückbog. –