Skip to main contentSkip to page footer

Anton Reiser. Ein psychologischer Roman.

von Karl Philipp Moritz

Zweiter Teil

Ob nun gleich zum Teil schon erwachsene Leute von siebzehn bis achtzehn Jahren in dieser Klasse saßen, so herrschten doch darin noch sehr erniedrigende Strafen. Der Konrektor sowohl als der Kantor teilten Ohrfeigen aus und bedienten sich zu schärfern Züchtigungen der Peitsche, welche beständig auf dem Katheder lag; auch mußten diejenigen, welche etwas verbrochen hatten, manchmal zur Strafe am Katheder knien.

Reisern war der Gedanke schon unerträglich, sich jemals eine solche Strafe von Männern zuzuziehen, welche er als seine Lehrer im hohen Grade liebte und ehrte, und nichts eifriger wünschte, als sich wiederum ihre Liebe und Achtung zu erwerben. Welch eine Wirkung mußte es also auf ihn tun, da er einmal, ehe er sichs versahe und ganz ohne seine Schuld, das Schicksal einiger seiner Mitschüler, welche wegen eines vorgefallenen Lärms vom Konrektor mit der Peitsche bestraft wurden, teilen mußte. Gleiche Brüder, gleiche Kappen, sagte der Konrektor, da er an ihn kam, und hörte auf keine Entschuldigungen, drohte auch noch dazu, ihn bei dem Pastor Marquard zu verklagen. Das Gefühl seiner Unschuld beseelte Reisern mit einem edlen Trotze, und er drohte wieder, den Konrektor bei dem Pastor Marquard zu verklagen, daß er ihn unschuldigerweise auf eine so erniedrigende Art behandelte.

Reiser sagte dies mit der Stimme der unterdrückten Unschuld, und der Konrektor antwortete ihm kein Wort. Aber von der Zeit an war auch alles Gefühl von Achtung und Liebe für den Konrektor wie aus seinem Herzen weggeblasen. Und da der Konrektor nun einmal in seinen Strafen weiter keinen Unterschied machte, so achtete Reiser eine Ohrfeige oder einen Peitschenschlag von ihm ebenso wenig, als ob irgendein unvernünftiges Tier an ihn angerannt wäre. Und weil er nun sahe, daß es gleichviel war, ob er sich die Achtung dieses Lehrers zu erwerben suchte oder nicht, so hing er auch nun seiner Neigung nach und war nicht mehr aus Pflicht, sondern bloß, wenn ihn die Sache interessierte, aufmerksam. Er pflegte denn oft stundenlang mit seinem Freunde Iffland zu plaudern, mit dem er denn zuweilen gesellschaftlich am Katheder knien mußte. Iffland fand auch hierin Stoff, seinen Witz zu üben, indem er das Katheder, worauf sich der Konrektor mit den Ellenbogen gestützt hatte, mit dem mecklenburgischen Wappen und sich und Reisern mit den beiden Schildhaltern verglich. – Ifflands Schalkhaftigkeit war durch keine Strafen zu unterdrücken, ausgenommen durch eine, wo er einmal eine ganze Stunde lang mit dem Gesicht gegen den Ofen gekehrt stehen mußte und also seinen Witz nicht spielen lassen oder gegen jemand irgendeine Pantomime machen konnte. – Diese Strafe preßte ihm zum erstenmal Tränen aus, und er legte sich im Ernst aufs Bitten, welches er sonst nie tat. – So war die Disziplin des Konrektors beschaffen. – Es hatte einmal einer aus Versehen seine Nachtmütze statt des Buchs in die Tasche gesteckt, und er ließ ihn mit der Nachtmütze auf dem Kopfe eine Stunde lang vor der ganzen Klasse knien, worüber denn Iffland seinen tausend Spaß hatte und seinen Nachbarn, die sich über seine Pantomime und seine drollichten Einfälle zuweilen des Lachens nicht enthalten konnten, manche Ohrfeige zuzog.

Was nun diese Disziplin des Konrektors auf das Gemüt und den Charakter seiner Untergebenen für eine Würkung getan, was für ein rühmliches Andenken er sich dadurch in den Herzen seiner Schüler gestiftet habe, und was für einen Kranz er sich dadurch erworben habe, mag seinem eigenen Gewissen anheimgestellt sein. – Wenn er sich denn oft so recht als ein Held gezeigt hatte, so pflegte er wohl zu sagen: Ich bin keine Schlafmütze wie andre, und deutete damit, daß es jedermann merken konnte, auf seinen Kollegen, den Kantor, der, ohngeachtet seiner hypochondrischen Laune und einiger ihm anklebenden Pedanterie, ein weit besserer Mann war als der Konrektor.

Nie hat Reiser von diesem einen Schlag bekommen, ob derselbe gleich sonst eben nicht karg mit Ohrfeigen und ziemlich freigebig mit der Peitsche war. Aber er sahe doch ein, daß es Reisern im Ernst darum zu tun war, Strafe zu vermeiden, und nun schlug er doch nicht blindlings zu. Bei ihm lernte auch Reiser weit mehr als bei dem Konrektor, weil er aus Pflicht aufmerksam war, wenn ihn gleich die Sache nicht interessierte. – Und da es ihm gelang, sich durch die lateinischen Ausarbeitungen bis zum ersten Platze hinaufzuarbeiten: wie aufmunternd war ihm nun das Lob des Kantors und wie eindringend der Zuspruch desselben, daß er sich nun auf diesem Platze solle zu behaupten suchen! – Nun erteilte der Kantor immer dem Ersten in der Klasse das Amt eines Zensors oder Aufsehers über das Betragen der übrigen, und da nun Reiser sich immer auf seinem ersten Platze behauptete, so gab ihm der Kantor den ehrenvollen Titel eines censor perpetuus oder immerwährenden Aufsehers. Er verwaltete dies Amt mit der größten Gewissenhaftigkeit und Unparteilichkeit und sahe es oft mit Wehmut an, wie die Buben den guten Kantor, der freilich auch nicht immer den rechten Weg der Disziplin einschlug, ärgerten und ihm das Leben sauer machten, so daß derselbe oft in der Betrübnis seines Herzens ausrief: Quem Dii odere, paedagogum fecere, wen die Götter haßten, den machten sie zum Schulmann. – Für den Kantor hätte Reiser alles aufgeopfert, weil er nie ungerecht gegen ihn gewesen war, obgleich das Betragen desselben sonst auch nicht immer das freundlichste war. – Wie rührend war es Reisern oft, wenn in der Katechismusstunde alles um ihn her lärmte und tobte, und der Kantor denn mit Gewalt aufs Buch schlug und sagte: Ich habe Gottes Wort an euch! – Nur schade, daß der gute Mann dergleichen Ausdrücke, die, zu rechter Zeit angebracht, ihre Wirkung nicht verfehlen, zu oft anbrachte und gewisse Gemeinplätze als: Torheit steckt dem Knaben im Herzen und dergleichen, alle Augenblicke im Munde führte, wodurch man sich denn am Ende so sehr daran gewöhnte, daß niemand mehr darauf achtete, und eben daher entstand die ewige Unruhe in den Lehrstunden des Kantors. – Der Konrektor sprach weniger bei seinen Züchtigungen, darum bewirkten sie mehr Stille und Ordnung.

Da nun Reiser auf eine kurze Zeit die Schule besucht hatte, so kam er auf den Einfall, ins Chor zu gehen; nicht sowohl um Geld zu verdienen, als vielmehr in einen neuen ehrenvollen Stand zu treten, wovon er sich schon als Hutmacherbursche in Braunschweig immer so große Begriffe gemacht hatte. –

Seine Phantasie hatte hier wieder Spielraum. – Das war ihm alles so himmlisch, so feierlich, in die Lobgesänge zur Ehre Gottes öffentlich mit einzustimmen. – Der Name ›Chor‹ tönte ihm so angenehm. – Das Lob Gottes in ›vollen Chören‹ zu singen war ein Ausdruck, der ihm immer im Sinn schallte. – Er konnte die Zeit kaum abwarten, wo er in diese glänzende Versammlung würde aufgenommen werden.

Einer seiner Mitschüler, der schon lange im Chor gesungen hatte, versicherte ihm zwar, er sei es so satt und überdrüssig, daß er lieber heute als morgen davon frei sein möchte. – Reiser konnte sich das unmöglich einbilden. Er besuchte mit großem Eifer die Lehrstunde, wo der Kantor Unterricht im Singen erteilte, und beneidete nun jeden, der eine bessere Stimme besaß als er.

Nicht weit von Hannover ist ein Wasserfall, wo er auf Anraten des Kantors oft stundenlang hinging, um sich recht auszuschreien und seine Stimme zu üben. – Allein es wollte mit dem Singen nie recht fort. Denn es fehlte ihm zugleich an dem, was man musikalisches Gehör nennt. Aber das Theoretische, was der Kantor bei seinem Unterricht mit einfließen ließ, war ihm desto willkommner, und er machte dem Kantor durch seine Aufmerksamkeit viel Vergnügen.

Reiser empfand nun wirkliche Liebe gegen den Kantor und machte allenthalben sehr viel Rühmens von ihm, so wie dieser ihn wieder bei den Leuten lobte. – Da fügte es sich einmal, daß Reiser dem Kantor für das gute Zeugnis dankte, das ihm derselbe bei einem seiner Gönner gegeben hatte, und der Kantor erwiderte: Reiser habe ihm ja auch ein gutes Zeugnis gegeben; denn es war ihm wieder zu Ohren gekommen, wie gut Reiser allenthalben von ihm sprach.

Die Freude dieses Augenblicks hätte Reiser um vieles in der Welt nicht gegeben, so angenehm war es ihm, daß sein Lehrer es nun selber wußte, wie sehr er ihn liebte. – Wer ihm das beim ersten Anblick gesagt hätte, dem würde er es nicht geglaubt haben, daß der Kantor einmal so sehr sein Freund sein würde. Denn der Konrektor war erstlich sein Mann; dessen lächelnde freundliche Miene und glatte Stirne nahmen ihn ein, indes die finstere Miene des Kantors und seine runzelvolle Stirn ihn zurückscheuchten. Ach, was für ein artiger freundlicher Mann ist der Konrektor gegen den alten mürrischen Kantor! pflegte er im Anfang oft zu sagen: aber bei der genauern Bekanntschaft wandte sich das Blatt gar bald um.

Reiser suchte sich auch auf alle Weise in der Achtung des Kantors immer fester zu setzen. Dies ging so weit, daß er auf einem öffentlichen Spazierplatze, wo der Kantor hinzukommen pflegte, mit einem aufgeschlagenen Buche in der Hand auf und nieder ging, um die Blicke seines Lehrers auf sich zu ziehen, der ihn nun für ein Muster des Fleißes halten sollte, weil er sogar beim Spaziergehen studierte. – Ob nun Reiser gleich an dem Buche, das er las, wirklich Vergnügen fand, so war doch das Vergnügen, von dem Kantor in dieser Attitüde bemerkt zu werden, noch weit größer, und man siehet auch aus diesem Zuge seinen Hang zur Eitelkeit. Es lag ihm mehr an dem Schein als an der Sache, obgleich die Sache ihm auch nicht unwichtig war.

Man hatte eine erstaunliche Meinung von seinem Fleiß und pflegte ihm immer anzuraten, daß er seiner Gesundheit schonen sollte. Dies war ihm äußerst schmeichelhaft, und er ließ die Leute bei dieser Meinung, obgleich sein Fleiß lange nicht so groß war, wie er hätte sein können, wenn das Drückende seiner Lage in Ansehung seiner Nahrung und Wohnung ihn nicht oft träge und mißmütig gemacht hätte.

Denn die unwürdige Behandlung, der er zuweilen ausgesetzt war, benahm ihm oft einen großen Teil der Achtung gegen sich selbst, welche schlechterdings zum Fleiß notwendig ist. – Oft ging er mit traurigem Herzen zur Schule, wenn er aber denn einmal darin war, so vergaß er seines Kummers, und die Schulstunden waren im Grunde noch seine glücklichsten Stunden.

Wenn er aber dann wieder zu Hause kam und sich manchmal verblümterweise mußte zu verstehen geben lassen, wie überdrüssig man seiner Gegenwart wäre – dann saß er stundenlang und getraute sich kaum Atem zu holen – er war dann in einem entsetzlichen Zustande – und hätte in der Welt nichts arbeiten können, denn sein Herz war ihm durch diese Begegnung zerrissen. –

So konnten auch die Blicke der Frau des Garnisonküsters, wenn er dort gegessen hatte, ihn auf einige Tage niederschlagen und ihm den Mut zum Fleiß benehmen.

Sicher wäre Reiser glücklicher und zufriedener und gewiß auch fleißiger gewesen, als er war, hätte man ihn von dem Gelde, das der Prinz für ihn hergab, Salz und Brot für sich kaufen lassen, als daß man ihn an fremden Tischen sein Brot essen ließ.

Es war abscheulich, in was für eine Lage er einmal geriet, da die Frau des Garnisonküsters über Tische erst anfing von den schlechten Zeiten und von dem harten Winter und dann von dem Holzmangel zu reden und endlich über die Besorgnis in Tränen ausbrach, wo man noch zuletzt Brot herschaffen solle; und da Reiser in der Verlegenheit über diese Reden unversehns ein Stück Brot an die Erde fallen ließ, ihn mit den Augen einer Furie anblickte, ohne doch etwas zu sagen. – Da sich Reiser über diese unwürdige Begegnung der Tränen nicht enthalten konnte, so brach sie gegen ihn los, warf ihm mit dürren Worten Unhöflichkeit und ungeschicktes Betragen vor und gab zu verstehen, daß dergleichen Leute, die ihr den Bissen im Munde zu Gift machten, an ihrem Tische nicht willkommen wären. – Der gute Garnisonküster, der Reisern innig bedauerte, aber das Regiment nicht im Hause führte, erbarmte sich seiner und sagte ihm sogleich den Tisch auf. – So beschämt, erniedrigt und herabgewürdigt mußte nun Reiser aus diesem Hause gehen und durfte es kaum wagen, sich zu Hause davon etwas merken zu lassen, daß er einen Freitisch verloren habe.

Wenn ihm der Garnisonküster nachher zuweilen auf der Straße begegnete, drückte er ihm einen halben Gulden in die Hand, um ihn für die Mißgunst und den Geiz seiner Frau schadlos zu halten.

Nun gab es wieder eine Art Leute, welche, wenn sie Reisern eine Mahlzeit zu essen gaben, alle Augenblick zu sagen pflegten, wie gern es ihm gegönnt sei, und daß er sichs nur recht sollte schmecken lassen, denn für eine Mahlzeit werde es ihm nun doch einmal gerechnet und dergleichen mehr, welches Reisern nicht weniger verlegen machte, so daß ihm das Essen, statt des Vergnügens, was man sonst dabei empfindet, gemeiniglich eine wahre Qual war. – Wie glücklich fühlte er sich, da er am ersten Sonntage, nachdem er den Tisch bei dem Garnisonküster verloren und es zu Hause noch nicht hatte sagen wollen, ein Dreierbrot verzehrte und dabei einen Spaziergang um den Wall machte.

Es schien, als ob sich alles vereinigt habe, Reisern in der Demut zu üben; ein Glück, daß er nicht niederträchtig darüber wurde – dann würde er freilich zufrieden und vergnügter gewesen sein, aber um alle den edlen Stolz, der den Menschen allein über das Tier erhebt, das nur seinen Hunger zu stillen sucht, wäre es bei ihm getan gewesen.

Der Stand des geringsten Lehrburschen eines Handwerkers ist ehrenvoller als der eines jungen Menschen, der, um studieren zu können, von Wohltaten lebt, sobald ihm diese Wohltaten auf eine herabwürdigende Art erzeigt werden. Fühlt sich ein solcher junger Mensch glücklich, so ist er in Gefahr, niederträchtig zu werden, und hat er nicht die Anlage zur Niederträchtigkeit, so wird es ihm wie Reisern gehen; er wird mißmütig und menschenfeindlich gesinnet werden, wie es Reiser wirklich wurde, denn er fing schon damals an, in der Einsamkeit sein größtes Vergnügen zu finden.

Einmal schickte ihn die Frau Filter sogar mit einem großen Stück Leinwand in des Prinzen Haus, welches dort an die Leute zum Verkauf vorgezeigt werden sollte. – Alles Sträuben dagegen würde nichts geholfen haben – denn der Pastor Marquard hatte einmal der Frau eine unbeschränkte Gewalt über Reisern erteilet – und jede Weigerung würde ihm als ein unverzeihlicher Stolz ausgelegt worden sein. – Es würde ihm nicht ins Schild gemalt werden, pflegte dann die Frau Filter wohl zu sagen. – Ebenso wenig durfte er sich sträuben, das Brot zu holen, welches der Hoboist vom Regiment bekam, und ob er dies gleich immer in der Dämmerung tat und die abgelegensten Straßen wählte, damit ihn keiner seiner Mitschüler sehen möchte, so bemerkte ihn doch einmal einer derselben zu seinem größten Schrecken, welcher aber zum Glück so gut gesinnet war, daß er ihm völlige Verschwiegenheit versprach und hielt, ihm aber doch, wenn sie sich in der Klasse zuweilen verunwilligten, drohete, es ruchtbar zu machen.

Endlich wurde ihm denn doch von dem Gelde des Prinzen ein neues Kleid geschafft, weil sein alter roter Soldatenrock gar nicht mehr halten wollte; aber gleichsam, als wenn es recht eigentlich auf seine Demütigung abgesehen wäre, wählte man ihm graues Bediententuch zum Kleide – wodurch er wiederum gegen seine Mitschüler fast ebenso sonderbar als mit dem roten Soldatenrock abstach; und das Kleid durfte er anfänglich doch nur bei feierlichen Gelegenheiten, wenn etwa in der Schule Examen war, oder wenn er zum Abendmahl ging, anziehen.

Was ihn aber von allen Demütigungen, die er erlitt, am meisten kränkte und was er der Frau Filter nie hat vergessen können, war eine ungerechte Beschuldigung, die ihn bis in die Seele schmerzte, und die er doch durch keine Beweise von sich ablehnen konnte.

Die Frau Filter hatte ein kleines Mädchen von etwa drei bis vier Jahren von einer ihrer Anverwandtinnen zu sich genommen. Diesem Kinde dachte sie zu Weihnachten eine überraschende Freude zu machen und hatte zu dem Ende einen Baum mit Lichtern aufgeputzt und mit Rosinen und Mandeln behangen. Reiser blieb allein in der Stube, während die Frau Filter in die Kammer ging, um das Kind zu holen. Nun fügte es sich, da sie wieder hereinkam, daß vermutlich durch die Bewegung der Türe der Baum mit allen Lichtern umfiel und Reiser in demselben Augenblick hinzulief, um ihn aufrecht zu erhalten, da dies aber nicht gehen wollte, sogleich wieder seine Hand davon abzog, welches nun gerade so aussahe, als ob er sich die ganze Zeit über mit dem Baum beschäftigt habe und nun, da die Frau Filter hereinkam, erschrocken sei und folglich den Baum habe fahren lassen, der nun wirklich umfiel. In den Gedanken der Frau Filter war es nun ausgemacht, daß er von dem Baum hatte naschen wollen und auf die Weise ihr und dem Kinde eine unschuldige Freude verdorben habe.

Diesen entehrenden Verdacht gab sie Reisern mit deutlichen Worten zu verstehen, und wie sollte er ihn von sich abwälzen? Er hatte keinen Zeugen. Und der Anschein war wider ihn. – Schon die Möglichkeit, daß man einen solchen Verdacht gegen ihn hegen konnte, erniedrigte ihn bei sich selber, er war in einem solchen Zustande, wo man gleichsam zu versinken oder in einem Augenblick gänzlich vernichtet zu sein wünscht.

Ein Zustand, der eine Art von Seelenlähmung hervorzubringen vermag, welche nicht so leicht wieder gehoben werden kann. – Man fühlt sich in einem solchen Augenblick gleichsam wie vernichtet und gäbe sein Leben darum, sich vor aller Welt verbergen zu können. – Das Selbstzutrauen, welches der moralischen Tätigkeit so nötig ist als das Atemholen der körperlichen Bewegung, erhält einen so gewaltigen Stoß, daß es ihm schwer hält, sich wieder zu erholen.

Wenn Reiser nachher irgendwo zugegen war, wo man etwa eine Kleinigkeit suchte, von der man glaubte, daß sie weggenommen sei, so konnte er sich nicht enthalten, rot zu werden und in Verwirrung zu geraten, bloß weil er sich die Möglichkeit lebhaft dachte, daß man ihn, ohne es sich geradezu merken lassen zu wollen, für den Täter halten könnte. – Ein Beweis, wie sehr man sich irren kann, wenn man oft die Beschämung und Verwirrung eines Angeklagten als ein stillschweigendes Geständnis seines Verbrechens auslegt. – Durch tausend unverdiente Demütigungen kann jemand am Ende so weit gebracht werden, daß er sich selbst als einen Gegenstand der allgemeinen Verachtung ansieht und es nicht mehr wagt, die Augen vor jemanden aufzuschlagen – er kann auf die Weise in der größten Unschuld seines Herzens alle die Kennzeichen eines bösen Gewissens an sich blicken lassen, und wehe ihm dann, wenn er einem eingebildeten Menschenkenner, wie es so viele gibt, in die Hände fällt, der nach dem ersten Eindruck, den seine Miene auf ihn macht, sogleich seinen Charakter beurteilt. –

Unter allen Empfindungen ist wohl der höchste Grad der Beschämung, worin jemand versetzt wird, eine der peinigendsten.

Mehr als einmal in seinem Leben hat Reiser dies empfunden, mehr als einmal hat er Augenblicke gehabt, wo er gleichsam vor sich selber vernichtet wurde – wenn er z. B. eine Begrüßung, ein Lob, eine Einladung oder dergleichen auf sich gedeutet hatte, womit er nicht gemeinet war. – Die Beschämung und die Verwirrung, worin ein solcher Mißverstand ihn versetzen konnte, war unbeschreiblich. –

Es ist auch ein ganz besonderes Gefühl dabei, wenn man aus Mißverstand sich eine Höflichkeit zurechnet, die einem andern zugedacht ist. Eben der Gedanke, daß man zu sehr von sich eingenommen sein könne, ist es, der so etwas außerordentlich Demütigendes hat. Dazu kömmt das lächerliche Licht, in welchem man zu erscheinen glaubt. – Kurz, Reiser hat in seinem Leben nichts Schrecklichers empfunden als diesen Zustand der Beschämung, worin ihn oft eine Kleinigkeit versetzen konnte. – Alles andere griff nicht so sein innerstes Wesen, sein eigentliches Selbst an als grade dies. In Ansehung dieser Art des Leidens hat er auch das stärkste Mitleid empfunden. Um jemanden eine Beschämung zu ersparen, würde er mehr getan haben, als um jemanden aus würklichem Unglück zu retten: denn die Beschämung deuchte ihm das größte Unglück, was einem widerfahren kann.

Er war einmal bei einem Kaufmann in Hannover, der gemeiniglich statt der Person, mit der er sprach, einen andern anzusehen pflegte. Dieser bat, indem er Reisern ansahe, einen andern, der mit in der Stube war, zum Essen, und da Reiser die Einladung auf sich deutete und sie höflich ablehnte, so sagte der Kaufmann mit sehr trockner Miene: Ich meine Ihn ja nicht! – Dies Ich meine Ihn ja nicht! mit der trocknen Miene tat eine solche Wirkung auf Reisern, daß er glaubte, in die Erde sinken zu müssen; dies Ich meine Ihn ja nicht! verfolgte ihn nachher, wo er ging und stund, und machte seine Stimme gebrochen und zitternd, wenn er mit Vornehmern reden sollte, sein Stolz konnte dies nie wieder ganz verwinden.

›Wie kann Er glauben, daß man Ihn zum Essen bitten sollte?‹ So legte Reiser das Ich meine Ihn ja nicht! aus, und er kam sich in dem Augenblick so unbedeutend, so weggeworfen, so nichts vor, daß ihm sein Gesicht, seine Hände, sein ganzes Wesen zur Last war und er nun die dümmste und albernste Figur machte, so wie er dastand, und zugleich dies Alberne und Dumme in seinem Betragen lebhafter und stärker als irgend jemand außer ihm empfand. –

Hätte Reiser irgend jemanden gehabt, der an seinem Schicksal wahren Anteil genommen hätte, so würden ihm dergleichen Begegnungen vielleicht nicht so kränkend gewesen sein. Aber so war sein Schicksal an die eigentliche Teilnehmung anderer Menschen nur mit so schwachen Fäden geknüpft, daß die anscheinende Ablösung irgendeines solchen Fadens ihn plötzlich das Zerreißen aller übrigen befürchten ließ und er sich dann in einem Zustand sahe, wo er keines Menschen Aufmerksamkeit auf sich mehr erregte, sondern sich für ein Wesen hielt, auf das weiter gar keine Rücksicht genommen wurde. – Die Scham ist ein so heftiger Affekt wie irgendeiner, und es ist zu verwundern, daß die Folgen desselben nicht zuweilen tödlich sind.

Die Furcht, in einem lächerlichen Lichte zu erscheinen, war bei Reisern zuweilen so entsetzlich, daß er alles, selbst sein Leben, würde aufgeopfert haben, um dies zu vermeiden. – Niemand hat das

     Infelix paupertas, quia ridiculos miseros facit,
     Traurig ist das Los der Armut, weil sie die Unglücklichen lächerlich macht,

wohl stärker empfunden als er, dem lächerlich zu werden das größte Unglück auf der Welt dünkte. – Es gibt eine Art des Lächerlichen, welche ihm noch am erträglichsten war – wenn nämlich Leute bloß der Sonderbarkeit wegen über etwas lachen, das sie sich selbst nicht nachzutun getrauen, ohne es deswegen in einem verächtlichen Lichte zu betrachten.

Wenn er z. B. etwa von sich sagen hörte: Der Reiser ist doch ein sonderbarer Mensch, er geht des Abends ganz im Finstern dreimal um den Wall und spricht mit niemand als mit sich selbst, indem er sich die Lektion des Tages wiederholt, usw. – so war ihm das gar nicht unangenehm zu hören, es hatte vielmehr etwas Schmeichelhaftes für ihn, auf die Weise in einem gewissen sonderbaren Lichte zu erscheinen. – Aber als Iffland seinen Vers:

     An euch, ihr schönen Wissenschaften,
     An euch soll meine Seele haften,

lächerlich machte, das war für ihn sehr kränkend und beschämend, und er hätte viel darum gegeben, daß er diesen Vers nicht gemacht hätte.

Nachdem Reiser ein Vierteljahr lang die Singstunden des Kantors besucht hatte, erreichte er nun auch das so sehnlich gewünschte Glück, ins Chor zu gehen, wo er die Altstimme sang. –

Die Freude über seinen neuen Stand eines Chorschülers dauerte einige Wochen, solange es nämlich gut Wetter blieb. Er fand ein gar großes Vergnügen an den Arien und Motetten, die er singen hörte, und an den freundschaftlichen Unterredungen mit seinen Mitschülern, während daß sie von einem Hause und einer Straße zur andern gingen.

Ein solches Chor hat viel Ähnliches mit einer herumwandernden Truppe Schauspieler, in der man auch Freude und Leid, gutes und schlechtes Wetter usw. auf gewisse Weise miteinander teilt, welches immer ein festeres Aneinanderschließen zu bewirken pflegt.

Am meisten hatte sich Reiser auf den blauen Mantel gefreut, der ins künftige seine Zierde sein würde. – Denn dieser Mantel näherte sich doch schon etwas der priesterlichen Kleidung. – Aber auch diese Hoffnung täuschte ihn sehr; denn die Frau Filter ließ, um für ihn zu sparen, aus ein paar alten blauen Schürzen einen Mantel für ihn zusammennähen, womit er unter den übrigen Chorschülern eben keine glänzende Figur machte.

Nun bemerkte Reiser gleich am ersten Tage unter den Chorschülern einen, der sich von den übrigen ganz besonders auszeichnete. – Man sahe es ihm gleich an, daß er ein Ausländer war, wenn man es auch nicht an seiner Sprache gehört hätte. Denn alle seine Mienen und Bewegungen zeigten mehr Lebhaftigkeit und Gewandtheit als das Äußere der steifen und schwerfälligen Hannoveraner. – Reiser konnte sich immer nicht satt an ihm sehen; und da er ihn nun reden hörte, so konnte er sich nicht enthalten, seine wohlgesetzten Ausdrücke in dem obersächsischen Dialekt zu bewundern; alles, was die Hannoveraner sagten, kam ihm dagegen plump und abgeschmackt vor. – Nun war der Präfektus im Chore ein alter versoffener Kerl, mit dem sich dieser Ausländer immer am meisten herumzankte und ihm gemeiniglich sehr treffende und beißende Antworten zu geben pflegte, wenn der Präfektus sich eine Art von Oberherrschaft über ihn anmaßen wollte. Und als dieser unter andern einmal zu ihm sagte, er sei schon zu lange Präfektus, als daß er sich von so einem Gelbschnabel dürfe Anzüglichkeiten sagen lassen, so antwortete der Ausländer, es bringe ihm freilich eben nicht viel Ehre, daß er so ein alter Knabe und noch immer Präfektus sei. – Diese Überlegenheit des Witzes, womit der Ausländer den Präfektus auf einmal niederschlug, machte Reisern noch aufmerksamer auf ihn, und da er sich nach dem Namen desselben erkundigte, erfuhr er, daß er Reiser hieße und aus Erfurt gebürtig sei.

Nun war es Reisern sehr auffallend, daß dieser junge Mensch, den er schon so liebgewonnen hatte, gerade mit ihm einerlei Namen führte, ohngeachtet er wegen der Entfernung des Geburtsortes schwerlich mit ihm verwandt sein konnte. – Er hätte gern gleich mit ihm Bekanntschaft gemacht, aber er wagte es noch nicht, weil sein Namensgenosse ein Primaner und er nur ein Sekundaner war. – Auch fürchtete er sich vor dem Witze desselben, dem er sich nicht gewachsen fühlte, wenn er einmal auf ihn sollte gerichtet werden. Indes fügte sich ihre Bekanntschaft von selber, indem Philipp Reiser auf Anton Reisers stilles und in sich gekehrtes Wesen ebenso wie dieser auf das lebhafte Wesen von jenem immer aufmerksamer wurde und sie sich ohngeachtet dieser Verschiedenheit ihrer Charaktere bald unter der Menge herausfanden und Freunde wurden.

Dieser Philipp Reiser war gewiß ein vortrefflicher Kopf, der aber auch durch die Umstände, worin ihn das Schicksal versetzt hat, unterdrückt worden ist. – Nebst einer feinen Empfindung besaß er viel Witz und Laune, wirkliches musikalisches Talent und war zugleich ein vorzüglicher mechanischer Kopf – aber er war arm und dabei im höchsten Grade stolz – ehe er Wohltaten angenommen hätte, würde er Hunger gelitten haben, welches er auch wirklich öfters tat. – Hatte er aber Geld, so war er freigebig und gastfrei wie ein König, – dann schmeckte ihm wohl, was er genoß, wenn er reichlich davon mitteilen konnte – aber er hatte freilich Einnahme und Ausgabe nicht allzu gut berechnen gelernt und hatte daher sehr oft Gelegenheit, sich in der großen Kunst des freiwilligen Entbehrens von dem, was man sonst gern hätte, zu üben. – Ohne jemals Anweisung dazu gehabt zu haben, verfertigte er sehr gute Klaviere und Fortepianos, welches ihm zuweilen ansehnliche Einnahmen verschaffte, die ihm aber freilich bei seiner gar zu großen Freigebigkeit nicht viel halfen. – Dabei hatte er den Kopf beständig voll romanhafter Ideen und war immer in irgendein Frauenzimmer sterblich verliebt; wenn er auf diesen Punkt kam, so war es immer, als hörte man einen Liebhaber aus den Ritterzeiten. – Seine Treue in der Freundschaft, seine Begierde, den Notleidenden zu helfen, und selbst seine Gastfreiheit kam auf diesen Schlag heraus und gründete sich zum Teil auf die romanhaften Begriffe, womit seine Phantasie genährt war, obgleich sein gutes Herz der eigentliche Grund davon war – denn nur auf dem Boden eines guten Herzens können dergleichen Auswüchse von romanhaften Tugenden emporkeimen und Wurzel fassen. In einer eigennützigen Seele und zusammengeschrumpften Herzen wird die häufigste Romanenlektüre nie dergleichen Wirkungen hervorbringen. – Man siehet nun leicht ein, warum Philipp und Anton Reiser sich auf halbem Wege begegneten und bei dem nähern Umgange füreinander gemacht zu sein schienen. Der erstere war beinahe zwanzig Jahre alt, da Reiser ihn kennen lernte; die Jahre, die er vor ihm voraus hatte, machten ihn also gewissermaßen zu seinem Führer und Ratgeber, nur schade, daß in dem Hauptpunkte, was die Ordnung des Lebens betraf, Reiser keinen bessern Führer und Ratgeber fand. – Indes hatte er doch nun den ersten eigentlichen Freund seiner Jugend gefunden, dessen Umgang und Gespräche ihm die Stunden, die er im Chore zubringen mußte, noch einigermaßen erträglich machten.

Denn nun war das schöne Wetter vorbei, und es stellten sich Regen, Schnee und Kälte ein – demohngeachtet mußte das Chor seine gewissen Stunden auf der Straße singen. – O, wie zählte Reiser jetzt, da er vom Frost erstarret war, die Minuten, ehe das lästige Singen vorbei war, das ihm sonst eine himmlische Musik in seinen Ohren dünkte.

Den ganzen Mittwoch- und Sonnabendnachmittag und den ganzen Sonntag nahm nun allein das Chorsingen weg – denn alle Sonntagmorgen mußten die Chorschüler in der Kirche sein, um vom Chore herunter das Amen zu singen. – Auch des Sonnabendnachmittags bei der Vorbereitung zum Abendmahle mußten die jüngern Chorschüler mit dem Kantor ein Lied singen und einer von ihnen einen Psalm oben von dem hohen Chore herunter lesen, welches nun für Reisern wieder ein großer Fund war – durch eine solche öffentliche und laute Vorlesung eines Psalms hielt er sich wieder für alle Beschwerlichkeiten des Chorsingens belohnt. – Er dünkte sich nun schon wie der Pastor Paulmann in Braunschweig dazustehen und mit erschütternder Stimme zu dem versammleten Volke zu reden.

Übrigens aber wurde das Chorsingen für ihn bald die unangenehmste Sache von der Welt. Es raubte ihm alle Erholungsstunden, die ihm noch übrig waren, und machte, daß er nun keinem einzigen ruhigen Tage in der Woche entgegensehen konnte. Wie verschwanden die goldnen Träume, die er sich davon gemacht hatte! – Und wie gern hätte er sich nun aus dieser Sklaverei wieder losgekauft, wenn es noch möglich gewesen wäre. – Aber nun war das Chorgeld einmal zu seinen gewöhnlichen Einkünften mit gerechnet, und er durfte gar nicht einmal daran denken, je wieder davon loszukommen.

Den Gefährten seiner Sklaverei ging es größtenteils nicht besser wie ihm, sie waren dieses Lebens ebenso überdrüssig. – Und das Leben eines Chorschülers, der sich sein Brot vor den Türen ersingen muß, ist auch wirklich ein sehr trauriges Leben. Wenn einer den Mut nicht ganz dabei verliert, so ist das gewiß ein seltner Fall. Die meisten werden am Ende niederträchtig gesinnet und verlieren, wenn sie es einmal geworden sind, nie ganz die Spur davon.