Skip to main contentSkip to page footer

Anton Reiser. Ein psychologischer Roman.

von Karl Philipp Moritz

Zweiter Teil

Der Umstand, wodurch Anton Reisers Schicksal unvermutet eine glücklichere Wendung nahm, war: daß er sich auf der Straße mit ein Paar Jungen balgte, die mit ihm aus der Schule kamen und ihn unterwegs geneckt hatten, welches er nicht länger leiden wollte; indem er sich nun mit ihnen bei den Haaren herumzauste, kam auf einmal der Pastor Marquard dahergegangen – und wie groß war nun Reisers Beschämung und Verwirrung, da ihn die beiden Jungen selbst zuerst aufmerksam darauf machten und ihm mit einer Art von Schadenfreude den Zorn vorstellten, den nun der Pastor Marquard auf ihn werfen würde.

Was? – ich will einst selbst solch ein ehrwürdiger Mann werden, wie daherkömmt – wünsche, daß mir das itzt schon ein jeder ansehen soll, damit sich irgendeiner findet, der sich meiner annimmt und mich aus dem Staube hervorzieht, und muß nun in der Stellung von diesem Manne überrascht werden, bei dem ich konfirmiert werden soll, wo ich Gelegenheit hätte, mich in meinem besten Lichte zu zeigen? – Dieser Mann, was wird er nun von mir denken, wofür wird er mich halten?

Diese Gedanken gingen Reisern durch den Kopf und bestürmten ihn auf einmal so sehr mit Scham, Verwirrung und Verachtung seiner selbst, daß er glaubte in die Erde sinken zu müssen. – Aber er ermannte sich, das Selbstzutrauen arbeitete sich unter der erstickenden Scham wieder hervor und flößte ihm zugleich Mut und Zutrauen gegen den Pastor Marquard ein – er faßte schnell ein Herz, ging geradesweges auf den Pastor Marquard zu und redete ihn auf öffentlicher Straße an, indem er zu ihm sagte, er sei einer von den Knaben, die bei ihm zur Kinderlehre gingen, und der Pastor Marquard möchte doch deswegen keinen Zorn auf ihn werfen, daß er sich eben itzt mit den beiden Jungen dort geschlagen hätte, dies wäre sonst gar seine Art nicht; die Jungen hätten ihn nicht zufrieden gelassen: und es sollte nie wieder geschehen. –

Dem Pastor Marquard war es sehr auffallend, sich auf der Straße von einem Knaben auf die Weise angeredet zu sehen, der sich eben mit ein paar andern Buben herumgebalgt hatte. – Nach einer kleinen Pause antwortete er: es sei freilich sehr unrecht und unschicklich, sich zu balgen, indes hätte das weiter nichts zu sagen, wenn er es künftig unterließe; darauf erkundigte er sich auch nach seinem Namen und Eltern, fragte ihn, wo er bis jetzt in die Schule gegangen wäre usw., und entließ ihn sehr gütig. – Wer war aber froher als Reiser, und wie leicht war ihm ums Herz, da er sich nun wieder aus dieser gefährlichen Situation herausgewickelt glaubte!

Und wie viel froher würde er noch gewesen sein, hätte er gewußt, daß dieser ohngefähre Zufall allen seinen ängstlichen Besorgnissen ein Ende machen und die erste Grundlage seines künftigen Glücks sein würde. – Denn von dem Augenblick an hatte der Pastor Marquard den Gedanken gefaßt, sich näher nach diesem jungen Menschen zu erkundigen und sich seiner tätig anzunehmen, weil er nicht ohne Grund vermutete, daß, sobald des jungen Reisers Betragen gegen ihn nicht Verstellung war, es keine gemeine Denkungsart bei einem Knaben von dem Alter voraussetzte – und daß es nicht Verstellung war, dafür schien ihm seine Miene zu bürgen.

Den Sonntag darauf fragte ihn der Pastor Marquard des Nachmittags in der Kinderlehre öfter wie sonst; und Reiser hatte nun schon gewissermaßen einen seiner Wünsche erreicht, in der Kirche vor dem versammelten Volke wenigstens auf irgendeine Art öffentlich reden zu können, indem er die Katechismusfragen des Pastors mit lauter und vernehmlicher Stimme beantwortete, wobei er sich denn sehr von den übrigen unterschied, indem er richtig akzentuierte, da jene ihre Antworten in dem gewöhnlichen singenden Ton der Schulknaben herbeteten.

Nach geendigter Kinderlehre winkte ihn der Pastor Marquard beiseite und entbot ihn auf den andern Morgen zu sich – welch eine freudige Unruhe bemächtigte sich nun auf einmal seiner Gedanken, da es schien, als ob sich irgendein Mensch einmal näher um ihn bekümmern wollte – denn damit schmeichelte er sich nun freilich, daß der Pastor Marquard durch seine Antworten aufmerksam auf ihn geworden sei; und er nahm sich nun auch vor, Zutrauen zu diesem Manne zu fassen und ihm alle seine Wünsche zu entdecken.

Als er nach einer fast schlaflosen Nacht den andern Morgen zu dem Pastor Marquard kam, fragte ihn dieser zuerst, was für einer Lebensart er sich zu widmen dächte, und bahnte ihm also den Weg zu dem, was er schon selbst vorzubringen im Sinn hatte. – Reiser entdeckte ihm sein Vorhaben. – Der Pastor Marquard stellte ihm die Schwierigkeiten vor, sprach ihm aber doch auch zugleich wieder Mut ein und machte den Anfang zur tätigen Ermunterung damit, daß er versprach, ihn durch seinen einzigen Sohn, der die erste Klasse des Lyzeums in Hannover besuchte, in der lateinischen Sprache unterrichten zu lassen, womit auch noch in derselben Woche der Anfang gemacht wurde.

Bei dem allen glaubte Reiser in den Mienen und dem Betragen des Pastor Marquard zu lesen, daß er noch irgend etwas Wichtiges zurückbehielte, welches er ihm zu seiner Zeit sagen würde; in dieser Vermutung wurde er noch mehr durch die geheimnisvollen Ausdrücke des Garnisonküsters bestärkt, dessen Lehrstunden er noch besuchte, und der ihm immer einen Stuhl setzte, wenn er kam, indes die andern auf Bänken saßen. – Dieser pflegte denn wohl, wenn die Stunde aus war, zu ihm zu sagen: Sein Sie ja recht auf Ihrer Hut und denken Sie, daß man genau auf Sie achtgibt. – Es sind große Dinge mit Ihnen im Werke! und dergleichen mehr, wodurch nun Reiser freilich anfing, sich eine wichtigere Person als bisher zu glauben, und seine kleine Eitelkeit mehr wie zu viel Nahrung erhielt, die sich denn oft töricht genug in seinem Gange und in seinen Mienen äußerte, indem er manchmal in seinen Gedanken mit allem Ernst und der Würde eines Lehrers des Volks auf der Straße einhertrat, wie er dies schon in Braunschweig getan hatte, besonders wenn er schwarze Weste und Beinkleider trug. Bei seinem Gange hatte er sich den Gang eines jungen Geistlichen, der damals Lazarettprediger in Hannover und zugleich Konrektor am Lyzeum war, zum Muster genommen, weil dieser in der Art sein Kinn zu tragen etwas hatte, das Reisern ganz besonders gefiel.

Nie kann wohl jemand in irgendeinem Genuß glücklicher gewesen sein, als es Reiser damals in der Erwartung der großen Dinge war, die mit ihm vorgehen sollten. – Dies erhitzte seine Einbildungskraft bis auf einen hohen Grad. Und da nun der Zeitpunkt immer näher heranrückte, wo er zum Abendmahl sollte gelassen werden, so erwachten auch alle die schwärmerischen Ideen wieder, die er sich schon in Braunschweig von dieser Sache in den Kopf gesetzt hatte, wozu noch die Lehrstunden des Garnisonküsters kamen, der denjenigen, die er zum Abendmahl vorbereiten half, dabei Himmel und Hölle auf eine so fürchterliche Art vorstellte, daß seinen Zuhörern oft Schrecken und Entsetzen ankam, welches aber doch mit einer angenehmen Empfindung verknüpft war, womit man das Schreckliche und Fürchterliche gemeiniglich anzuhören pflegt, und er empfand dann wieder das Vergnügen, seine Zuhörer so erschüttert zu haben, welches ihm wonnevolle Tränen auspreßte, die den ganzen Auftritt, wenn er so des Abends in der erleuchteten Schulstube zwischen ihnen stand, noch feierlicher machten.

Auch der Pastor Marquard hielt wöchentlich einige Stunden, worin er diejenigen, die zum Abendmahl gehen sollten, vorbereitete; aber das, was er sagte, kam lange nicht gegen die herzerschütternden Anreden seines Küsters, ob es Reisern gleich zusammenhängender und besser gesagt zu sein schien. – Nichts war für Anton schmeichelhafter, als da der Pastor Marquard einmal den Begriff, daß die Gläubigen Kinder Gottes sind, durch das Beispiel erklärte, wenn er mit irgendeinem aus der Zahl seiner jungen Zuhörer genauer umginge, ihn besonders zu sich kommen ließe und sich mit ihm unterredete, dieser ihm denn auch näher als die übrigen wäre, und so wären die Kinder Gottes ihm auch näher als die übrigen Menschen. Nun glaubte Reiser unter der Zahl seiner Mitschüler der einzige gewesen zu sein, auf den der Pastor Marquard aufmerksamer als auf alle übrigen wäre, – allein so schmeichelhaft auch dies für seine Eitelkeit war, so erfüllte es ihn doch bald nachher wieder mit einer unbeschreiblichen Wehmut, daß nun alle die übrigen an diesem Glück, was ihm allein geworden war, nicht teilnehmen sollten und von dem nähern Umgange mit dem Pastor Marquard gleichsam auf immer ausgeschlossen sein sollten. – Eine Wehmut, die er sich schon in seinen frühesten Kinderjahren einmal empfunden zu haben erinnert, da ihm seine Base in einem Laden ein Spielzeug gekauft hatte, das er in Händen trug, als er aus dem Hause ging; und vor der Haustüre saß ein Mädchen in zerlumpten Kleidern ohngefähr in seinem Alter, das voll Verwunderung über das schöne Stück Spielzeug ausrief: Ach, Herr Gott, wie schön! – Reiser mochte etwa damals sechs bis sieben Jahre alt sein – der Ton des geduldigen Entbehrens, ohngeachtet der höchsten Bewunderung, womit das zerlumpte Mädchen die Worte sagte: Ach, Herr Gott, wie schön! drang ihm durch die Seele. – Das arme Mädchen mußte alle diese Schönheiten so vor sich vorbeitragen sehen und durfte nicht einmal einen Gedanken daran haben, irgendein Stück davon zu besitzen. Es war von dem Genuß dieser köstlichen Dinge gleichsam auf immer ausgeschlossen und doch so nahe dabei – wie gern wäre er zurückgegangen und hätte dem zerlumpten Mädchen das kostbare Spielzeug geschenkt, wenn es seine Base gelitten hätte! – So oft er nachher daran dachte, empfand er eine bittere Reue, daß er es dem Mädchen nicht gleich auf der Stelle gegeben hatte. Eine solche Art von mitleidsvoller Wehmut war es auch, die Reiser empfand, da er sich ausschließungsweise mit den Vorzügen in der Gunst des Pastor Marquard beehrt glaubte, wodurch seine Mitschüler, ohne daß sie es verdient hatten, so weit unter ihn herabgesetzt wurden.

Grade diese Empfindung ist nachher wieder in seiner Seele erwacht, so oft er in der ersten von Virgils Eklogen an die Worte kam: nec invideo usw. Indem er sich in die Stelle des glücklichen Hirten versetzte, der ruhig im Schatten seines Baums sitzen kann, indes der andere sein Haus und Feld mit dem Rücken ansehen muß, war ihm bei dem nec invideo des letzern immer gerade so zumute, als da das zerlumpte Mädchen sagte: »Ach, Herr Gott, wie schön ist das!«

Ich habe hier notwendig in Reisers Leben etwas nahholen und etwas vorweggreifen müssen, wenn ich zusammenstellen wollte, was nach meiner Absicht zusammengehört. Ich werde dies noch öfter tun; und wer meine Absicht eingesehen hat, bei dem darf ich wohl nicht erst dieser anscheinenden Absprünge wegen um Entschuldigung bitten.

Man sieht leicht, daß Anton Reisers Eitelkeit durch die Umstände, welche sich jetzt vereinigten, um ihm seine eigne Person wichtig zu machen, mehr als zu viel Nahrung erhielt. Es bedurfte wieder einer kleinen Demütigung für ihn, und die blieb nicht aus. Er schmeichelte sich nicht ohne Grund, unter allen, die bei dem Pastor Marquard konfirmiert wurden, der erste zu sein. Er saß auch oben an und war gewiß, daß ihm keiner diesen Platz streitig machen würde. Als auf einmal ein junger wohlgekleideter Mensch in seinem Alter und von feiner Erziehung die Lehrstunden des Pastor Marquard mit besuchte, der ihn durch sein feines äußeres Betragen sowohl als durch die vorzügliche Achtung, womit ihm der Pastor Marquard begegnete, ganz in Dunkel setzte, und dem auch sogleich über ihm der erste Platz angewiesen ward.

Reisers süßer Traum, der erste unter seinen Mitschülern zu sein, war nun plötzlich verschwunden. Er fühlte sich erniedrigt, herabgesetzt, mit den übrigen allen in eine Klasse geworfen. – Er erkundigte sich bei dem Bedienten des Pastor Marquard nach seinem fürchterlichen Nebenbuhler und erfuhr, daß er eines Amtmanns Sohn und bei dem Pastor Marquard in Pension sei, auch mit den übrigen zugleich konfirmiert werden würde. Der schwärzeste Neid nahm auf eine Zeitlang in Antons Seele Platz; der blaue Rock mit dem samtnen Kragen, den der Amtmannssohn trug, sein feines Betragen, seine hübsche Frisur schlug ihn nieder und machte ihn mißvergnügt mit sich selbst; aber doch schärfte sich bald wieder das Gefühl bei ihm, daß dies unrecht sei, und er wurde nun noch mißvergnügter über sein Mißvergnügen. Ach, er hätte nicht nötig gehabt, den armen Knaben zu beneiden, dessen Glückssonne bald ausgeschienen hatte. Binnen vierzehn Tagen kam die Nachricht, daß sein Vater wegen Untreue seines Dienstes entsetzt sei. Für den jungen Menschen konnte also auch die Pension nicht länger bezahlt werden, der Pastor Marquard schickte ihn seinen Anverwandten wieder, und Reiser behielt seinen ersten Platz. Er konnte seine Freude wegen der Folgen, die dieser Vorfall für ihn hatte, nicht unterdrücken, und doch machte er sich selber Vorwürfe wegen seiner Freude – er suchte sich zum Mitleid zu zwingen, weil er es für recht hielt – und die Freude zu unterdrücken, weil er sie für unrecht hielt; sie hatte aber demohngeachtet die Oberhand, und er half sich denn am Ende damit, daß er doch nicht wider das Schicksal könne, welches nun den jungen Menschen einmal habe unglücklich machen wollen. Hier ist die Frage: wenn das Schicksal des jungen Menschen sich plötzlich wieder geändert hätte, würde ihn Reiser aus erster Bewegung freiwillig mit lächelnder teilnehmender Miene wieder haben über sich stehen lassen, oder hätte er sich erst mit einer Art von Anstrengung in diese Empfindung versetzen müssen, weil er sie für recht und edel gehalten hätte? – Der Zusammenhang seiner Geschichte mag in der Folge diese Frage entscheiden!

Alle Abend hatte nun Reiser eine lateinische Stunde bei dem Sohn des Pastor Marquard und kam wirklich so weit, daß er binnen vier Wochen ziemlich den Kornelius Nepos exponieren lernte. Welche Wonne war ihm das, wenn denn etwa der Garnisonküster dazu kam und fragte, was die beiden Herren Studenten machten – und als der Pastor Marquard damals gerade seine älteste Tochter an einen jungen Prediger verheiratete, der eines Sonntags nachmittags für ihn die Kinderlehre hielt und dieser auf Reisern immer aufmerksamer zu werden schien, je öfter er ihn antworten hörte: welch ein entzückender Augenblick für Reisern, da derselbe nun nach geendigtem Gottesdienst zum Pastor Marquard kam und der Schwiegersohn des Pastors ihn nun mit der größten Achtung anredete und sagte, es sei ihm gleich in der Kirche, da Reiser ihm zuerst geantwortet, aufgefallen, ob das wohl der junge Mensch sein möchte, von dem ihm sein Schwiegervater so viel Gutes gesagt, und es freue ihn, daß er sich nicht geirrt habe.

In seinem Leben hatte Anton keine solche Empfindung gehabt, als ihm diese achtungsvolle Begegnung verursachte. – Da er nun die Sprache der feinen Lebensart nicht gelernt hatte und sich doch auch nicht gemein ausdrücken wollte, so bediente er sich bei solchen Gelegenheiten der Büchersprache, die bei ihm aus dem Telemach, der Bibel und dem Katechismus zusammengesetzt war, welches seinen Antworten oft einen sonderbaren Anstrich von Originalität gab, indem er z. B. bei solchen Gelegenheiten zu sagen pflegte, er habe den Trieb zum Studieren, der ihn unaufhaltsam mit sich fortgerissen, nicht überwältigen können und wolle sich nun der Wohltaten, die man ihm erzeige, auf alle Weise würdig zu machen und in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit sein Leben bis an sein Ende zu führen suchen.

Indes hatte der Konsistorialrat Götten, an den sich Reiser schon vorher gewandt hatte, für ihn ausgemacht, daß er die sogenannte Neustädter Schule unentgeltlich besuchen könnte. – Allein der Pastor Marquard sagte, das dürfe nun nicht geschehen; er solle, bis er konfirmiert würde, noch von seinem Sohne unterrichtet werden, damit er alsdann sogleich die höhere Schule auf der Altstadt besuchen könne, wo der Direktor sich seiner annehmen wolle; und wegen der Eifersucht, die zwischen den beiden Schulen zu herrschen pflegte, würde er besser tun, wenn er jene nicht zuerst besuchte. – Dies mußte Reiser dem Konsistorialrat Götten selber sagen, um den freien Unterricht, welchen er ihm verschafft hatte, abzulehnen, worüber denn derselbe sehr empfindlich wurde und Reisern sehr hart anredete, ihn aber doch zuletzt wieder mit der Aufmunterung entließ, daß er sich auf andre Weise dennoch seiner annehmen wolle.

So schien nun an Reisers Schicksale, um den sich vorher niemand bekümmert hatte, auf einmal alles teilzunehmen. – Er hörte von Eifersucht der Schulen seinetwegen sprechen. – Der Konsistorialrat Götten und der Pastor Marquard schienen sich gleichsam um ihn zu streiten, wer sich am meisten seiner annehmen wollte. Der Pastor Marquard bediente sich des Ausdrucks, er solle nur dem Konsistorialrat Götten sagen, es wären seinetwegen schon Anstalten getroffen worden und würden noch Anstalten getroffen werden, daß er zu der höhern Schule auf der Altstadt hinlänglich vorbereitet würde, ohne vorher die niedere Schule auf der Neustadt zu besuchen. – Also Anstalten sollten nun seinetwegen getroffen werden, wegen eines Knaben, den seine eigenen Eltern nicht einmal ihrer Aufmerksamkeit wert gehalten hatten.

Mit welchen glänzenden Träumen und Aussichten in die Zukunft dies Reisers Phantasie erfüllt habe, darf ich wohl nicht erst sagen. Insbesondre, da nun noch immer die geheimnisvollen Winke bei dem Garnisonküster und die Zurückhaltung des Pastor Marquard fortdauerte, womit er Reisern etwas Wichtiges zu verschweigen schien. –

Endlich kam es denn heraus, daß der Prinz Carl auf Empfehlung des Pastor Marquard sich des jungen Reisers annehmen und ihm monatlich ... Rtlr. zu seinem Unterhalt aussetzen wolle. – Also war nun Reiser auf einmal allen seinen Besorgnissen wegen der Zukunft entrissen, das süße Traumbild eines sehnlich gewünschten, aber nie gehofften Glückes war, ehe er es sich versehn, wirklich geworden, und er konnte nun seinen angenehmsten Phantasien nachhängen, ohne zu fürchten, daß er durch Mangel und Armut darin gestört werden würde. –

Sein Herz ergoß sich wirklich in Dank gegen die Vorsehung. – Kein Abend ging hin, wo er nicht den Prinzen und den Pastor Marquard in sein Abendgebet mit eingeschlossen hätte – und oft vergoß er im stillen Tränen der Freude und des Danks, wenn er diese glückliche Wendung seines Schicksals überdachte.

Reisers Vater hatte nun auch nichts weiter gegen sein Studieren einzuwenden, sobald er hörte, daß es ihm nichts kosten sollte. Überdem kam die Zeit nun heran, wo er seine kleine Bedienung an einem Ort sechs Meilen von Hannover antreten mußte, und sein Sohn konnte ihm also auf keine Weise mehr zur Last fallen. – Allein nun war die Frage, bei wem Reiser nach der Abreise seiner Eltern wohnen und essen sollte. Der Pastor Marquard schien nicht geneigt zu sein, ihn ganz zu sich ins Haus zu nehmen. Es mußte also drauf gedacht werden, ihn irgendwo bei ordentlichen Leuten unterzubringen. Und ein Hoboist, namens Filter, vom Regiment des Prinzen Carl erbot sich von freien Stücken dazu, Reisern unentgeltlich bei sich wohnen zu lassen. Ein Schuster, bei dem seine Eltern einmal im Hause gewohnt hatten, noch ein Hoboist, ein Hofmusikus, ein Garkoch und ein Seidensticker erboten sich jeder, ihm wöchentlich einen Freitisch zu geben.

Dies verringerte Reisers Freude in etwas wieder, welcher glaubte, daß das, was der Prinz für ihn hergab, zu seinem Unterhalt zureichen würde, ohne daß er an fremden Tischen sein Brot essen dürfte. Auch verringerte dies seine Freude nicht ohne Ursach, denn es setzte ihn in der Folge oft in eine höchst peinliche und ängstliche Lage, so daß er oft im eigentlichen Verstande sein Brot mit Tränen essen mußte. – Denn alles beeiferte sich zwar, auf die Weise ihm Wohltaten zu erzeigen, aber jeder glaubte auch dadurch ein Recht erworben zu haben, über seine Aufführung zu wachen und ihm in Ansehung seines Betragens Rat zu erteilen, der dann immer ganz blindlings sollte angenommen werden, wenn er seine Wohltäter nicht erzürnen wollte. Nun war Reiser gerade von so viel Leuten von ganz verschiedener Denkungsart abhängig, als ihm Freitische gaben, wo jeder drohte, seine Hand von ihm abzuziehen, sobald er seinem Rat nicht folgte, der oft dem Rat eines andern Wohltäters geradezu widersprach. Dem einen trug er sein Haar zu gut, dem andern zu schlecht frisiert, dem einen ging er zu schlecht, dem andern, für einen Knaben, der von Wohltaten leben müsse, noch zu geputzt einher, – und dergleichen unzählige Demütigungen und Herabwürdigungen gab es mehr, denen Reiser durch den Genuß der Freitische ausgesetzt war, und denen gewiß ein jeder junger Mensch mehr oder weniger ausgesetzt ist, der das Unglück hat, auf Schulen durch Freitische seinen Unterhalt zu suchen und die Woche hindurch von einem zum andern herumessen zu müssen.

Dies alles ahndete Reisern dunkel, als die Freitische insgesamt für ihn angenommen und keine Wohltat verschmäht wurde, die ihm nur irgend jemand erweisen wollte. – An dem guten Willen aber pflegt es nie zu fehlen, wenn Leute einem jungen Menschen zum Studieren beförderlich sein zu können glauben – dies erweckt einen ganz besondern Eifer – jeder denkt sich dunkel, wenn dieser Mann einmal auf der Kanzel steht, dann wird das auch mein Werk mit sein. – Es entstand ein ordentlicher Wetteifer um Reisern, und jeder, auch der Ärmste, wollte nun auf einmal zum Wohltäter an ihm werden, wie denn ein armer Schuster sich erbot, ihm alle Sonntagabend einmal zu essen zu geben – dies alles wurde mit Freuden für ihn angenommen und von seinen Eltern mit dem Hoboisten und dessen Frau überrechnet, wie glücklich er nun sei, daß er alle Tage in der Woche zu essen habe, und wie man nun von dem Gelde, das der Prinz hergebe, für ihn sparen könne.

Ach, die glänzenden Aussichten, die sich Reiser von dem Glück, das auf ihn wartete, gemacht hatte, verdunkelten sich nachher sehr wieder. Indes dauerte doch der erste angenehme Taumel, in welchen ihn die tätige Vorsorge und die Teilnehmung so vieler Menschen an seinem Schicksale versetzt hatte, noch eine Weile fort. –

Das große Feld der Wissenschaften lag vor ihm – sein künftiger Fleiß, die nützlichste Anwendung jeder Stunde bei seinem künftigen Studieren war den ganzen Tag über sein einziger Gedanke, und die Wonne, die er darin finden, und die erstaunlichen Fortschritte, die er nun tun und sich Ruhm und Beifall dadurch erwerben würde: mit diesen süßen Vorstellungen stand er auf und ging damit zu Bette – aber er wußte nicht, daß ihm das Drückende und Erniedrigende seiner äußern Lage dies Vergnügen so sehr verbittern würde. Anständig genährt und gekleidet zu sein gehört schlechterdings dazu, wenn ein junger Mensch zum Fleiß im Studieren Mut behalten soll. Beides war bei Reisern der Fall nicht. Man wollte für ihn sparen und ließ ihn während der Zeit wirklich darben.

Seine Eltern reisten nun auch weg, und er zog mit seinen wenigen Habseligkeiten bei dem Hoboisten Filter ein, dessen Frau insbesondre sich schon von seiner Kindheit an seiner mit angenommen hatte. – Es herrschte bei diesen Leuten, die keine Kinder hatten, die größte Ordnung in der Einrichtung ihrer Lebensart, welche vielleicht nur irgendwo stattfinden kann. Da war nichts, keine Bürste und keine Schere, was nicht seit Jahren seinen bestimmten angewiesenen Platz gehabt hätte. Da war kein Morgen, der anbrach, wo nicht um acht Uhr Kaffee getrunken und um neun Uhr der Morgensegen gelesen worden wäre, welches allemal kniend geschahe, indes die Frau Filter aus dem Benjamin Schmolke vorlas, wobei denn Reiser auch mit knien mußte. Des Abends nach neun Uhr wurde auf eben die Art, indem jeder vor seinem Stuhle kniete, auch der Abendsegen aus dem Schmolke gelesen und dann zu Bette gegangen. Dies war die unverbrüchliche Ordnung, welche von diesen Leuten schon seit beinahe zwanzig Jahren, wo sie auch beständig auf derselben Stube gewohnt hatten, war beobachtet worden. Und sie waren gewiß dabei sehr glücklich, aber sie durften auch schlechterdings durch nichts darin gestört werden, wenn nicht zugleich ihre innre Zufriedenheit, die größtenteils auf diese unverbrüchliche Ordnung gebaut war, mit darunter leiden sollte. Dies hatten sie nicht recht erwogen, da sie sich entschlossen, ihre Stubengesellschaft mit jemanden zu vermehren, der sich unmöglich auf einmal in ihre seit zwanzig Jahren etablierte Ordnung, die ihnen schon zur andern Natur geworden war, gänzlich fügen konnte.

Es konnte also nicht fehlen, daß es ihnen bald zu gereuen anfing, daß sie sich selbst eine Last aufgebürdet hatten, die ihnen schwerer wurde, als sie glaubten. Weil sie nur eine Stube und eine Kammer hatten, so mußte Reiser in der Wohnstube schlafen, welches ihnen nun alle Morgen, sooft sie hereintraten, einen unvermuteten Anblick von Unordnung machte, dessen sie nicht gewohnt waren, und der sie wirklich in ihrer Zufriedenheit störte. – Anton merkte dies bald, und der Gedanke, lästig zu sein, war ihm so ängstigend und peinlich, daß er sich oft kaum zu husten getrauete, wenn er an den Blicken seiner Wohltäter sahe, daß er ihnen im Grunde zur Last war. – Denn er mußte doch seine wenigen Sachen nun irgendwo hinlegen, und wo er sie hinlegte, da störten sie gewissermaßen die Ordnung, weil jeder Fleck hier nun schon einmal bestimmt war. – Und doch war es ihm nun unmöglich, sich aus dieser peinlichen Lage wieder herauszuwickeln. – Dies alles zusammengenommen versetzte ihn oft stundenlang in eine unbeschreibliche Wehmut, die er sich damals selber nicht zu erklären wußte und sie anfänglich bloß der Ungewohnheit seines neuen Aufenthaltes zuschrieb.

Allein es war nichts als der demütigende Gedanke des Lästigseins, der ihn so danieder druckte. Hatte er gleich bei seinen Eltern und bei dem Hutmacher Lobenstein auch nicht viel Freude gehabt, so hatte er doch ein gewisses Recht da zu sein. Bei jenen, weil es seine Eltern waren, und bei diesem, weil er arbeitete. – Hier aber war der Stuhl, worauf er saß, eine Wohltat. – Möchten dies doch alle diejenigen erwägen, welche irgend jemanden Wohltaten erzeigen wollen, und sich vorher recht prüfen, ob sie sich auch so dabei nehmen werden, daß ihre gutgemeinte Entschließung dem Bedürftigen nie zur Qual gereiche.

Das Jahr, welches Reiser in dieser Lage zubrachte, war, obgleich jeder ihn glücklich pries, in einzelnen Stunden und Augenblicken eines der qualvollsten seines Lebens.

Reiser hätte sich vielleicht seinen Zustand angenehmer machen können, hätte er das nur gehabt, was man bei manchen jungen Leuten ein insinuantes Wesen nennt. Allein zu einem solchen insinuanten Wesen gehört ein gewisses Selbstzutrauen, das ihm von Kindheit auf war benommen worden; um sich gefällig zu machen, muß man vorher den Gedanken haben, daß man auch gefallen könne. – Reisers Selbstzutrauen mußte erst durch zuvorkommende Güte geweckt werden, ehe er es wagte, sich beliebt zu machen. – Und wo er nur einen Schein von Unzufriedenheit andrer mit ihm bemerkte, da war er sehr geneigt, an der Möglichkeit zu verzweifeln, jemals ein Gegenstand ihrer Liebe oder ihrer Achtung zu werden. Darum gehörte gewiß ein großer Grad von Anstrengung bei ihm dazu, sich selber Personen als einen Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit vorzustellen, von denen er noch nicht wußte, wie sie seine Zudringlichkeit aufnehmen würden.

Seine Base prophezeite ihm sehr oft, wie ihm der Mangel jenes insinuanten Wesens an seinem Fortkommen in der Welt schaden würde. Sie lehrte ihn, wie er mit der Frau Filter sprechen und ihr sagen solle: »Liebe Frau Filter, sein Sie nun meine Mutter, da ich ohne Vater und Mutter bin, ich will Sie auch so lieb haben wie eine Mutter.« – Allein wenn Reiser dergleichen sagen wollte, so wars, als ob ihm die Worte im Munde erstarben; es würde höchst ungeschickt herausgekommen sein, wenn er so etwas hätte sagen wollen. – Dergleichen zärtliche Ausdrücke waren nie durch zuvorkommendes, gütiges Betragen irgendeines Menschen gegen ihn aus seinem Munde hervorgelockt worden; seine Zunge hatte keine Geschmeidigkeit dazu. – Er konnte den Rat seiner Base unmöglich befolgen. Wenn sein Herz voll war, so suchte er schon Ausdrücke, wo er sie auch fand. Aber die Sprache der feinen Lebensart hatte er freilich nie reden gelernet. – Was man insinuantes Wesen nennt, wäre auch bei ihm die kriechendste Schmeichelei gewesen.

Indes war nun die Zeit herangekommen, wo Reiser konfirmiert werden und in der Kirche öffentlich sein Glaubensbekenntnis ablegen sollte – eine große Nahrung für seine Eitelkeit – er dachte sich die versammelten Menschen, sich als den ersten unter seinen Mitschülern, der alle Aufmerksamkeit bei seinen Antworten vorzüglich auf sich ziehen würde, durch Stimme, Bewegung und Miene. – Der Tag erschien, und Reiser erwachte, wie ein römischer Feldherr erwacht sein mag, dem an dem Tage ein Triumph bevorstand. – Er wurde bei seinem Vetter, dem Perückenmacher, hoch frisiert und trug einen bläulichen Rock und schwarze Unterkleider, eine Tracht, die der geistlichen gewissermaßen sich schon am meisten näherte.

Aber so wie der Triumph des größten Feldherrn zuweilen durch unerwartete Demütigungen verbittert wurde, daß er ihn nur halb genießen konnte, so ging es auch Reisern an diesem Tage seines Ruhms und seines Glanzes. – Seine Freitische nahmen mit diesem Tage ihren Anfang. – Er hatte den ersten des Mittags bei dem Garnisonküster und den andern des Abends bei dem armen Schuster – und obgleich der Garnisonküster ein Mann war, der das großmütigste Herz besaß und Reisern seinen Lebenslauf erzählte, wie er auch erst als ein armer Schüler ins Chor gegangen sei, aber schon in seinem siebzehnten Jahre den blauen Mantel mit dem schwarzen vertauscht habe – so war doch die Frau desselben der Neid und die Mißgunst selber, und jeder ihrer Blicke vergiftete Reisern den Bissen, den er in den Mund steckte. Sie ließ es sich zwar am ersten Tag nicht so sehr wie nachher, aber doch stark genug merken, daß Reiser niedergeschlagenen Herzens, ohne selbst recht zu wissen, worüber, zur Kirche ging und die Freude, die er sich an diesem sehnlich gewünschten Tage versprochen hatte, nur halb empfand. – Er sollte nun hingehn, um sein Glaubensbekenntnis auf gewisse Weise zu beschwören. –

Dies dachte er sich, und ihm fiel dabei ein, daß sein Vater vor einiger Zeit zu Hause erzählt hatte, wie er wegen seines Dienstes vereidet worden war, daß er nichts weniger als gleichgültig dabei gewesen sei – und Reiser schien sich, da er zur Kirche ging, gegen den Eid, den er ablegen sollte, gleichgültig zu sein. – Aus dem Unterricht, den er in der Religion bekommen, hatte er sehr hohe Begriffe vom Eide und hielt diese Gleichgültigkeit an sich für höchst strafbar. Er zwang sich also, nicht gleichgültig, sondern gerührt und ernsthaft zu sein bei diesem wichtigen Schritte und war mit sich selber unzufrieden, daß er nicht noch weit gerührter war; aber die Blicke der Frau des Garnisonküsters waren es, welche alle sanfte und angenehme Empfindungen aus seinem Herzen weggescheucht hatten.

Er konnte sich doch nicht recht freuen, weil niemand war, der an seiner Freude recht nahen Anteil nahm, weil er dachte, daß er auch selbst an diesem Tage an fremden Tischen essen mußte. Da er indes in die Kirche kam und nun vor den Altar trat und obenan in der Reihe stand, so erwärmete das alles zwar wieder seine Phantasie – aber es war doch lange das nicht, was er sich versprochen hatte. – Und gerade das Wichtigste und Feierlichste, die Ablegung des Glaubensbekenntnisses, welches einer im Namen der übrigen tun mußte, kam nicht an ihn, und er hatte sich doch schon viele Tage vorher auf Miene, Bewegung und Ton geübt, womit er es ablegen wollte.

Er dachte, der Pastor Marquard würde ihn etwa den Nachmittag zu sich kommen lassen, aber er ließ ihn nicht zu sich kommen – und während daß seine Mitschüler nun zu Hause gingen und der zärtlichen Bewillkommnung ihrer Eltern entgegen sahen, ging Reiser einsam und verlassen auf der Straße umher, wo ihm der Direktor des Lyzeums begegnete, der ihn anredete und fragte, ob er nicht Reiserus hieße – und als Reiser mit Ja antwortete, ihm freundlich die Hand druckte und sagte, er habe schon durch den Pastor Marquard viel Gutes von ihm gehört und würde bald näher mit ihm bekannt werden.

Welche unerwartete Aufmunterung für ihn, daß dieser Mann, den er schon oft mit tiefer Ehrfurcht betrachtet hatte, ihn auf der Straße anzureden würdigte und ihn Reiserus nannte.