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Henriette und die Mutter

von Margaretha Elisabeth »Elisa« Reimarus.

Henriette. Ach nein, liebe Mutter, ich wollte lieber das kleine Taschentuch fertig machen.

Mutter. Aber Henriette, Karoline wird den Nähbeutel lieber habe; du weißt, wie sehr ihr deiner gefiel.

Henriette. Welcher denn?

Mutter. Der mit der Inschrift: dem Fleiße; der dir an deinem letzten Geburtstage geschnekt wurde.

Henriette. O ja. – den – aber ich weiß gewiß, das ist ihr alles eins.

Mutter. Nun meinetwegen, Henriette; aber wie willst du fertig werden? An dem Taschenbuche fehlt noch so viel, und an dem Nähbeutel so wenig. Gewiß willst du Karolinen doch auch gern ein Geschenk an ihrem Geburtstage mitbringen.

Henriette. O ja, das will ich auch; aber da sollst sehen, ich will wol fertig werden.

Mutter. Auch, wenn der Vater schon um vier Uhr mit uns ausgeht?

Henriette. Ach, das wird er nicht!

Mutter. Wer um vier Uhr nicht mit seiner Arbeit fertig wäre, sagte er, der ginge nicht mit.

Henriette. Aber ich denke, er sagte um fünf Uhr.

Mutter. Henriette! Henriette! Bedenke, was ich dir so oft gesagt habe. Da solltest dir den görstigen Fehler abgewöhne, immer Alles besser zu wissen und anders tun zu wollen, als man dir sagt, kurz, daß ewige Widersprechen; oder du würdest dich einmahl selbst häßlich dadurch bestrafen.

Henriette. Aber, liebe Mutter, wenn ich doch nun gewiß weiß, daß der Vater gesagt hat, um fünf Uhr gingen wir aus?

Mutter. Nun gut, wir wollen sehen, wer da fertig ist.

Henriette. O, das bin ich gewiß! Da sieh nur, wie felißig isch schon gewesen bin!

Mutter. Schon gut – halt dich nur nicht auf.

Henriette. Ja – aber, Mutter, diesen Strich möchte‘ ich doch wieder aufmachen, er geht so schief.

Mutter. Er hätte ein wenig gerader sein können; aber für dismahl, denk ich, kann es sitzen bleiben.

Henriette. Ach nein, Mutter, er geht gar zu schief, ich muß ihn wirklich wieder aufmachen.

Mutter. Henriette, du willst dich mit Fleiß verspäten.

Henriette. Ach nein, Mutter, ich will schon fertig werden, wenn ich nur draußen in der Laube wäre.

Mutter. Und warum das?

Henriette. Ich kann da besser sehen.

Mutter. Aber das hält noch so viel länger auf mit dem Hin- und Hergehen.

Henriette. Ach, da bin ich ja gleich, und dann so geht’s da viel geschwinder.

Mutter. Meinetwegen, meinetwegen, Henriette; aber erinnere dich, wenn’s zum Ausgehen kommt, und du nicht fertig bist, daß ich dir Alles vorhergesagt habe.

Henriette. O, du sollst nur sehen, ich will gewiß fertig werden.

(Nach einer guten Weile.)
Henriette, die Mutter, der Vater, andere Kinder.

Mutter. Nun, Henriette, wie wird’s? Bist du fertig?

Henriette. O noch nicht, Mutter; aber es ist auch ja noch nicht fünf Uhr!

Mutter. Fünf nicht, Henriette, aber vier. Die Dielenuhr hat schon geschlagen.

Henriette. Die Dielenuhr? Ich habe sie nicht gehört.

Mutter. Ich aber; und wenn’s man vollends schon die Zeit wäre, da der Vater ausgehen will.

Henriette. Ach nein, liebe Mutter –

Mutter. Nicht? Und was bedeutet denn, daß da getrommelt wird und Alle herauskommen?

Henriette. Ja – das weiß ich – gewiß nicht.

Hans. Ha, Henriette, wo bist du? Wir gehen!

Henriette. Nun doch noch nicht?

Hans. Allerdings! Hast du vergessen, daß der Vater sagte, um vier Uhr, weil Karolinens Geburtstag wäre? Du bist doch fertig mit deiner Arbeit? – Sieh, diese Zeichnung bring‘ ich Karolinen.

Gottlieb. Und ich dis Bild.

Diedrich. Und ich diesen Brief.

Nikolas. Und ich diesen Korb.

Fritz. Na, na, nur zu! Vater kommt schon.

Alle laufen weg.

Vater. (In einiger Entfernung) Henriette! He! Henriette! Wir gehen. Du weißt, ich warte auf Keinen; wenn du mitzugehn verdient hast, so komm. Geschwind!

Henriette. (fängt an zu weinen). Ach nun bin ich nicht fertig.

Mutter. Ja, Henriette, das hatte ich dir vorher gesagt.

Henriette. Ach, ich dachte, Vater würde erst um fünf Uhr gehen.

Mutter. Ja, auch das sagte ich dir vorher, er würde um vier Uhr gehen.

Henriette. Ach, und nun muß ich allein zu Hause bleiben – und habe mich so dazu gefreuet! – (sie weint heftiger.)

Mutter. Jah, Henriette, das mußt du, so gern ich dir die Freude gegönnt hätte! Du weißt, daß ich dir’s vorhergesagt habe; der häßliche Fehler, Alles besser wissen zu wollen, immer zu widersprechen, würde dich einmahl selbst bestrafen. Wärest du meinem Rathe gefolgt, als ich dir sagte, bei dem Nähbeutel zu bleiben, und nicht umherzulaufen, nichts wieder zu zernichten, was einmahl gemacht war: so wärest du fertig geworden; ja hättest du endlich es nicht durchaus besser wissen wollen, daß der Vater um fünf und nicht um vier Uhr ginge, so wärst du auch so noch fertig geworden, und mitgegangen; nun aber mußt du die Folge deines Fehlers tragen.

Henriette. Ach, und nun krigt Karoline kein Geschenk von mir? (sie weint)

Mutter. Auch das nicht, Henriette. Es kommt Alles aus der nämlichen Ursache; darin kann ich dir eben so wenig helfen. Aber wenn du es wünschest, so will ich dir einen Rath geben, wodurch dir dieser Tag auf eine andere Art noch mehr Freude geben soll, als er dir durch den Spaziergang gegeben hätte; sage, willst du ihn hören?

Henriette. Und wodurch denn?

Mutter. Dadurch, daß du von heute an dir fest vornimmst, niemahls mehr zu widersprecehn, wenn verständigere Leute, als du, dir etwas sagen; sondern hübsch zu folgen, damit es dir nicht wieder so gehe, wie heute. Willst du das?

Henriette. Ach ja, Mutter – das will ich – wenn ich doch nur das Taschentuch fertig hätte, damit ich Karolinen auch noch heute was schenken könnte.

Mutter. Nein, liebe Henriette, heute muß das so gehen, dir zum Angedenken, damit du dich desto besser der bösen Folgen erinnerst, die dein ewiges Widerreden gehabt, und desto ernstlicher darauf denkest, es abzuschaffen. Aber künftigen Sonntag, wenn du Wort hältst, und diese ganze Woche den Fehler vermeidest, wollen wir Beide hin, und es ihr bringen; und dann kannst du dich immer mit Vergnügen an diesen Tag erinnern, da du einen so großen Fehler abgeschafft hast. Sage, gefällt dir das?

Henriette. Ach ja, lieber Mutter, (die Mutter küsst sie.)

Mutter. Nun, so kannst du auch heute wieder vergnügt sein; aber sonst nicht.

Quelle:
Campe, Joachim Heinrich: Kleine Kinderbibliothek, Braunschweig 1815