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Der tote Gast

von Heinrich Zschokke

Kapitel 4

Der tote Gast

Kaum war im Städtchen laut geworden, wer der Kommandant sei, sammelten sich die alten Bekannten wieder zu ihm. Waldrich ward in alle Gesellschaften der besten Häuser gezogen, und er in allen der beste Gesellschafter, geistvoll, witzig, brav, ein angenehmer Erzähler, mit den Gelehrten gelehrt, mit den Kunstfreunden Künstler; er zeichnete gut, spielte Flügel und Flöte mit Fertigkeit, tanzte alllerliebst, und die Frauen und Töchter gaben zu, er sei ein schöner, flüchtiger, aber eben darum äußerst gefährlicher junger Mann. Was die Gefährlichkeit betrifft, wußte eigentlich keine der Schönen bei sich ins klare zu bringen, ob er durch sein bescheidenes Wesen die Gefahr vermindere oder vergrößere.

Indessen war es eben damals im Städtchen keiner Schönen und keine Häßlichen sehr darum zu tun, Eroberungen zu machen, oder sich erobern zu lassen. Jede vielmehr verwahrte ihr Herz mit ungewöhnlicher Sorgfalt. Die Ursache dieser Enthaltsamkeit wird, wer nicht zu Herbesheim wohnt, oder die handschriftlichen Chroniken der Stadt kennt, schwerlich erraten; wer sie nun aber kennenlernen wird, schwerlich glauben; und doch ist die unleugbar wahr, je unwahrscheinlicher sie ist.

Es war nämlich dieses Jahr die hundertjährige Jubel- oder Jammerfeier des sogenannten toten Gastes, der besonders allen Bräuten in der Stadt ein böser Gesell zu sein schien. Niemand wußte genau, welch eine Bewandtnis es mit diesem Gast habe. Aber man erzählte sich, es sei ein Gespenst, das alle hundert Jahre einmal in die Stadt Herbesheim wiederkomme, vom ersten Advent bis zum letzten Advent darin hause, zwar kein Kind beleidige, aber richtig jeder Braut den Hof mache und damit ende, ihr das Gesicht in den Nacken zu drehen. Des Morgens finde man sie, das Antlitz im Rücken, tot im Bette. Was dies Gespenst aber noch vor allen Gespenstern in der Welt auszeichnet, ist, daß es nicht etwa nur in der gesetzlichen Geisterstunde, nachts zwischen elf und zwölf Uhr, sein Wesen treibt, sondern es soll am heitern, lichten Tage in wahrer Menschengestalt auftreten, ganz modisch wie andere Erdensöhne gekleidet einhergehen, überall hinkommen und sich einführen. Dieser Gast soll Geld vollauf haben und, was das Ärgste ist, wenn er keine Braut eines anderen findet, selbst die Gestalt eines Freiers annehmen, die armen Herzen der Mädchen behexen, bloß um diesen nachher, wenn er ihnen mit Liebesgrillen das Köpfchen ein wenig verrückt hat, des Nachts den Kopf umdrehen zu können.

Niemand konnte angeben, woher diese Sage entstanden sei. Im Kirchenbuche der Pfarrei las man noch die Namen von drei Jungfrauen, die zur Adventszeit im Jahre 1720 plötzlich abgestorben waren. Als Glosse liest man daneben die Worte: »Mit dem Angesicht im Nacken, wie vor hundert Jahren. Gott möge ihren armen Seelen gnädig sein.« – Wenn nun auch diese Anmerkung auf dem Rande des Kirchenbuches keinem vernünftigen Manne ein Beweis der Tatsache war, so bewies sie doch wenigstens, daß die Sage schon älter als hundert Jahre gewesen sei, ja daß vielleicht vor zweihundert Jahren irgend etwas Ähnliches begegnet sein müsse, weil sich das Kirchenbuch darauf beruft. Die älteren Kirchenbücher sind leider nicht mehr vorhanden. Sie gingen bei einer Feuersbrunst im spanischen Erbfolgekrieg verloren.

Wie dem nun auch sei, jedem war die Sage bekannt; jeder behauptete, sie sei ein lächerliches Gespenster- und Ammenmärchen, und fast jeder dachte doch mit, ich möchte sagen neugieriger Ängstlichkeit, an die bevorstehende Adventzeit, um zu erfahren, was an der Sache sei. Denn, meinten bei sieh im stillen selbst die aufgeklärtesten Köpfe, es gibt ja, laut Hamlets Zeugnis, am Ende noch vielerlei Dinge zwischen Erde und Himmel, von denen sich unsere Philosophie nichts träumen läßt. – Der alte Stadtpfarrer, zu dem man nun häufiger besuchsweise kam, um die wunderliche Stelle im Kirchenbuche mit eigenen Augen zu lesen, äußerte sich auch etwas zweideutig, obwohl er sonst ein sehr verständiger Herr war. Entweder sagte er: »Es will mich wundern, ob... aber ich glaube es doch nicht.« – Oder: »Gott verhüte, daß ich so etwas ins Kirchenbuch eintragen müsse!«

Am ungläubigsten waren die jüngeren Herren. Sie machten sich bei dieser Gelegenheit darüber tapfer lustig. Die Jungfrauen stellten sich zwar auch stark, aber sie stellten sich auch nur so. Heimlich gedachte gewiß jede: Ihr jungen Herren habt gut lachen; es geht das Spiel am Ende nicht um eure Köpfe und Nacken, sondern, und das ist abscheulich, nur um unsere!

Die Wirkung dieser Sage und des Glaubens oder Aberglaubens bemerkte niemand besser als der alte Pfarrer, denn wo irgendeine Liebschaft, irgendeine Brautschaft in der Stadt war – alles tummelte sich, die Hochzeit noch vor dem ersten Advent abzutun; und wo keine Hoffnung zur baldigen Vermählung sein konnte, ward Liebschaft und Brautschaft von Grund aus abgebrochen, und hätte das Herz darüber brechen mögen.

Nun kann man sich erklären, was die schönen Herbesheimerinnen unter Gefahr verstanden, wenn sie den Kommandanten wider ihre Willen einnehmend fanden. Es war ihnen im buchstäblichen Verstande ums Köpfchen und vor dem Besuche des toten Gastes bange. Man muß ihnen daher gern den etwas unnatürlichen stillen Schwur verzeihen, vor Advent und während der Adventzeit nicht ich mindesten zu lieben, und käme ein Engel vom Himmel, ihn nicht freundlicher anzusehen, als jeden anderen Christenmenschen.