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Der tote Gast

von Heinrich Zschokke

Kapitel 6

Der Geburtstag

Im Hause des Herrn Bantes pflegten viele Familienfeste gefeiert zu werden, und zwar nur von und in der Familie. Bloß am Hochzeittagsfeste des Herrn und der Frau wurden Fremde aus der Stadt eingeladen. Auch der alte Buchhalter, der Fabrikaufseher und Kassierer, welche die Ehre genossen am Tische des Herrn Bantes zu speisen, waren der Familie zugezählt, und die Geburtsfeste derselben wurden förmlich begangen. Kein Wunder also, daß das Jahresfest unseres Oberleutnants stattlich gefeiert werden mußte.

An einem solchen Tage durfte, so war's Gesetz, keine Seele im Hause dem Gefeierten eine böse Miene machen, keiner ihm eine billige Bitte abschlagen. Jeder mußte ihm ein Geschenk bringen, es mochte groß oder klein sein. An diesem Tage des Mittags war die Mahlzeit reicher und ausgewählter, nur an diesem Tage speiste man von Silber, brannten des Abends silberne Kerzenstöcke, und der Gefeierte saß am Tische auf der Ehrenstelle, das heißt an dem gewöhnlichen Platze des Hausvaters. Die Geschenke und Angebinde wurden jedesmal überreicht, ehe man sich zum Mittagessen niedersetzte; dem Gefeierten wurden Gesundheiten mit gefüllten Gläsern zugebracht; nach aufgehobener Tafel empfing er von jedem der Anwesenden Umarmung und Kuß. – Herr Bantes hatte die löbliche Sitte noch aus dem elterlichen Hause herübergeerbt und beibehalten.

Das alles ging nun auch an Waldrichs Geburtstage in altbestandener, ihm wohlbekannter Ordnung vor sich. Als er ins Speisezimmer trat, waren die sämtlichen Tischgenossen schon versammelt. Herr Bantes kam ihm mit seinem Glückwunsche entgegen, und überreichte ihm ein Blättchen in Seidenpapier eingeschlagen. Es war ein schöner Wechsel, von Herrn Bantes auf sich selbst ausgestellt, a visto zahlbar. Frau Bantes folgte. Sie trug ihm eine äußerst feine, vollständige Hauptmannsuniform entgegen, mit allem Zubehör. Darauf nahte Friederike mit einem Silberteller; auf einem halben Dutzend feinen, von ihrer eigenen Hand gestickten Halstüchern lag ein Brief mit großem Siegel des Regiments und der Adresse: An den Hauptmann Georg Waldrich. Hier stutzte der Oberleutnant, als er aufbrach und ein Hauptmannspatent für sich erblickte. Auf Beförderung hatte er lange gewartet, aber sie sobald nicht zu erleben gehofft. Er war Hauptmann seiner Kompanie geblieben, sein auf Urlaub befindlicher Vorgänger zum Major vorgerückt.

»Aber, mein gnädiger Herr Hauptmann,« sagte Friederike mit ihrem ihr eigenen anmutigen Lächeln, »gelt, Sie werden mir doch nicht böse? Ich will nur bekennen, der Brief kam schon vor acht Tagen während Ihrer Abwesenheit an, und ich unterschlug ihn, um ihn für heute aufzusparen. Gestraft genug bin und schon durch meine achttägige Todesangst, Sie möchten die Ernennung noch von wo anders her erfahren, und dann diesen Brief vermissen.«

Waldrich war gar nicht in der Laune, zu zürnen; auch konnte er in der Bestürzung kaum ein Wort hervorbringen und den übrigen danken, die ihm Glückwünsche und Angebinde brachten.

»Hauptsache ist,« rief Vater Bantes fröhlich, »daß man den neugebackenen Hauptmann bei uns und seiner Kompanie läßt. Ich hatte die die acht Tage durch auch so eine Gattung Todesangst und dergleichen im Leibe, der Georg müsse fort. He, Herr Buchhalter, marsch, in den Keller. Marsch, sag' ich, zu Numero neun, zum alten Neckar. Auf der Stelle den Herren Offizieren der Kompanie ein Dutzend Flaschen, jedem Unteroffizier, Feldwebel, Korporal und Admiral eine Flasche und einen halben Gulden dazu, und jedem Gemeinen einen halben Gulden. Und der Herr Oberleutnant wäre ihr Hauptmann! Sollen eines auf seine Gesundheit trinken, aber ihm heut mit Komplimenten und dergleichen vom Halse bleiben. Morgen soviel sie wollen, nach Herzenslust!« Der Buchhalter gehorchte.

Man sah bei Tische offenbar, wie lieb dem Herrn Bantes sein ehemaliger Mündel war. Er sprudelte von ausgelassener Fröhlichkeit in einer Menge drolliger Einfälle. So hatte Waldrich ihn nie gesehen, und er ward recht gerührt dadurch.

»Nun, mein Haupt- und Kapitalmännchen,« rief ihm über Tische der muntere Greis zu, »ich meinte, weiß Gott, der Wechsel, den ich Ihnen da gab, werde wohl für Sie als Reisepfennig gut sein müssen. Dazu war er auch bestimmt. Nun ärgert's mich, daß ich so kleinmütig war. Sie brauchen ihn nicht; hätte was Besseres geben sollen. Vergessen Sie nicht das Hausgesetz. Sie können eine Bitte tun, ich muß sie gewähren. Also, ohne Umstände heraus mit der Sprache. Verlangen Sie, was Sie wollen, ich gebe es, und müßte es selbst meine neue, schöne weiße Perücke sein und dergleichen.«

Der Hauptmann hatte feuchte Augen. »Ich habe nichts mehr zu bitten.«

»Ei, geschwind besonnen! Der Augenblick kommt vielleicht übers Jahr nicht wieder!« rief der Alte.

»So erlauben Sie mir, Papa, Ihnen einen herzlichen, dankbaren Kuß zu geben.«

»Je, du Herzensjunge, das hast du wohlfeil!« rief Herr Bantes. Beide sprangen sogleich von ihren Sitzen, fielen einander um den Hals, und beide ließen erst mit bewegterem Herzen voneinander los. Es entstand eine tiefe Stille. Die Rührung beider hatte sich über Friederike, ihre Mutter und alle Tischgenossen verbreitet; daß Herr Bantes dem Hauptmann das Du gegeben, war allein eine unerhörte Erscheinung.

Herr Bantes sammelte sich aber schneller als die anderen, machte ein ernstes Gesicht und brach das Schweigen. »Nun genug mit den Possen da! Lasset uns wieder etwas Vernünftiges reden.« – Er hob sein Glas und befahl zu füllen. Dann stieß er mit Waldrich an und sprach: »Wo ein Mann ist, muß auch eine Männin sein, und folglich im höheren Chor: wo ein Hauptmann ist, darf noch weniger die Frau Hauptmann fehlen! Also sie lebe, blühe, grüne und dergleichen hoch!«

Waldrich konnte sich des Lachens nicht erwehren.

»Sie möge fromm, gut und häuslich sein!« sagte Frau Bantes, indem sie mit dem Glase anstieß.

»Mama, wie Sie!« antwortete der Hauptmann.

»Und die Liebenswürdigste unterm Monde!« sagte Friederike anklingend.

»Fräulein, wie Sie!« antwortete er dankend.

Friederike schüttelte den Kopf und drohte halb böse, halb schalkhaft lächelnd, mit dem Finger zu ihm herüber: »Man muß sich heute von dem Geburtstagsprinzen viel gefallen lassen, das zu anderen Zeiten mit ... (sie machte mit der Hand ein Zeichen, wie man unartigen Kindern Strafe gibt) vergolten wird!«

Buchhalter, Kassierer, Fabrikaufseher und Schreiber machten bei dieser sonderbaren Tischszene ihre unschuldigen Bemerkungen. Erst das kecke Anerbieten, das Herr Bantes dem Hauptmann getan hatte, ihm alles zu gewähren, was er bitten würde – ein Anerbieten, das Waldrich so übel verstand –; dann die ausgebrachte Gesundheit zu Ehren der künftigen Frau Hauptmännin – wahrlich, der Günstling des Glücks mußte blind sein, daß er nicht begriff, was ihm Papa Bantes begreiflich machen wollte.

»Und ich glaube doch,« sagte der Fabrikaufseher leise zum Kassierer, als man vom Tische aufstand, »die Sache ist heut richtig gemacht. Was meinst du? Es gibt ein Paar.«

Der Kassierer erwiderte ebenso leise: »Mir graut's. Ich denke an den toten Gast. Ich kann nicht anders.«

Die Formalität des Geburtstagskusses begann. Man ging rings um den Tisch, sich, gesegnete Mahlzeit wünschend, einander entgegen. Waldrich empfing von jedem Umarmung und Kuß. Er traf auf Fräulein Bantes. Unbefangen höflich näherten sie sich einander und gaben sich einander den Kuß. Aber indem sie ihn gegeben hatten, sahen sie einander auf sonderbare Weise in die Augen, wie Personen, die sich ganz unerwartet als alte Freunde erkannt hätten. Beide schwiegen – sahen Aug' in Auge, wie in den Herzensgrund – neigten sich noch einmal mit den Lippen zusammen und wiederholten den Kuß, als wenn der erste gar nicht gegolten hätte. Ich weiß nicht, ob das jemand bemerkt hatte; aber das weiß ich, Mama Bantes senkte bescheiden ihre Augen nieder auf den Brillantring an ihrem Finger. Und Waldrich ließ sich nach diesem vom Kassierer und Buchhalter usw. küssen; er fühlte keinen anderen Kuß mehr; verlangte keinen zweiten mehr, sondern ließ den ersten jedesmal gelten. In der Tat aber sah er aus, als wäre ihm die breite Brust zu eng geworden. Und Fräulein Bantes ging ebenfalls mit einer Miene zum Fenster hin, als wäre ihr etwas angetan.

Doch das zerstreute sich bald. Die Heiterkeit nahm ihr voriges Recht wieder ein. Zwei Chaisen standen draußen angespannt, und man fuhr aufs Land, den lieblichen Herbstnachmittag im Grünen zuzubringen.