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Der tote Gast

von Heinrich Zschokke

Kapitel 8

Beratungen

Papa Bantes hielt Wort. Mit keiner Silbe mehr geschah Erwähnung von dem gewissen Jemand. Eitles Treiben. Desto mehr dachte nun jeder im Hause an ihn.

Regelmäßig morgens, mittags und abends ging Herr Bantes zum Barometer, klopfte an, um das Quecksilber steigen zu machen und für reisende, kränkliche Leute schönes Wetter zu erzwingen. Friederike, wenn es niemand bemerkte, klopfte auch, um das Quecksilber fallen zu machen. Waldrich, nicht minder Frau Bantes, schielten auch öfter als sonst nach der weissagenden Röhre Torricellis.

»Das Wetter bessert offenbar!« sagte eines Tages Herr Bantes, da er sich mit der Mama allein im Zimmer befand. »Die Wolken zerteilen sich. Ich denke, er ist schon unterwegs.«

»Das verhüte Gott, Papa. Mir schiene überhaupt geratener, du würdest Herrn von Hahn schreiben, nicht vor Weihnachten nach Herbesheim zu kommen. Und wenn ich auch nicht an das alberne Geschwätz glauben mag, so kann man sich doch nicht erwehren, ängstlich zu sein.«

»Ei, ei, Mama! Denkst du an den toten Gast? Possen! Schäme dich.«

»Ich geb' es zu, lieber Mann, es ist Torheit. Allein es dürfte unserem Kinde in der Adventszeit begegnen was wolle, man würde immer... ja, bloß der Gedanke daran könnte, wenn etwa Riekchen unpäßlich würde, das Übel verschlimmern. Und wenn ich auch nicht an Gespenster glaube, und wenn auch Friederike darüber lacht, möchten wir doch zum Beispiel nicht nachts in der Kirche herumgehen. Der Mensch ist nun so. Verschiebe die förmliche Verlobung bis nach der fatalen Zeit. Nach Advent haben die jungen Leute noch hundert Jahre Muße, sich einander zu sehen, Verlobung und Hochzeit zu machen. Warum denn eben jetzt geeilt? Was schadet ein Verzug von wenigen Wochen?«

»Schäme dich, Mama! Mute mir nicht Torheiten zu. Eben deswegen gerade, weil der Pöbel sein Larifari mit dem toten Gaste hat, muß Friederike jetzt Braut werden, muß jetzt Verlobung sein. Man muß ein Beispiel geben. Es ist für uns Pflicht und dergleichen. Sehen die Leute in der Stadt, daß wir uns um keinen toten Gast bekümmern, daß wir unsere Tochter verloben, allem Geschwätz zum Trotz, daß Rieckchen den Kopf behält und ihr keiner den Hals umdreht, so ist dem tollen Aberglauben der Hals umgedreht auf immer. Den Leuten bloß predigen: seid einmal gescheit, tut Buße, werdet fromm, das hilft nichts; sondern hübsch voran, Herr Pfarrer, voran!«

»Gesetzt aber, Papa, dein Kind ist dir doch auch lieb, gesetzt nun... siehst du, vor hundert Jahren muß doch, laut dem Kirchenbuche, etwas Unglücks begegnet sein, sei es gewesen, was es wolle; vielleicht waren damals auch Menschen, die sich über die uralte Sage hinwegsetzten; – nun, wir wollen es auch tun. Aber wenn du die Verlobung eben in die böse, verrufene Adventszeit dieses hundertsten Jahres legst und, was Gott verhüte, es geschähe dann, daß...«

»Halt, du willst doch nicht sagen, Friederikens Gesicht im Nacken? Ich mag den Teufelseinfall gar nicht denken. Bleib' mir damit vom Leibe, sag' ich.«

»Nein. Aber, zum Beispiel Herr von Hahn käme in diesen berüchtigten Tagen bei diesem winterlichen Wetter zu uns, denke nur, kränklich ist er, wie er schreibt. Es könnte doch die Witterung auf weiter Reise, bei schlechten Wegen, sein Übel verschlimmern... Gesetzt, wir hätten einen kranken – vielleicht zuletzt einen toten Gast; es graut mir, es auszusprechen. Und dann die vom Aberglauben ausgezeichneten Advente dieses Jahres – durch deinen Eigensinn diesen Aberglauben bestätigt... Freund, bedenk' es doch wohl.«

Herr Bantes schien nachdenkend zu werden und brummte endlich: »Mama, ich begreife nicht, wie du immer auf Einfälle gerätst, die sonst in keines Menschen Gehirn kommen. Wie machst du's auch? Könntest Poet werden und dergleichen. Spür's übrigens euch allen an, daß ihr vom Popanz der Herbesheimer Adventstage lebendig besessen seid. Alle seid ihr's; du, Friederike, sogar der Hauptmann, der doch Soldat sein will, der Kassierer, Buchhalter, Inspektor, alle, sag' ich! Aber keiner will es Wort haben. Pfui!«

»Wenn es wäre, woran ich aber doch fast zweifle, so ist es Pflicht des guten Hausvaters, glimpflich eines Vorurteils zu schonen, das eben keinem schadet.«

»Alle Narrheit schadet. Darum keine Schonung; Krieg, offener Krieg! Seit Friederikens Geburtstag geht und steht hier im Hause jedes so verblüfft, als wäre das jüngste Gericht unterwegs. Der Teufel hat das Märchen vom toten Gaste erfunden. Es bleibt, wie gesagt, beim alten, Mama. Nichts wird geändert. Ich bin unbeweglich!«

So sagte Herr Bantes und lief aus dem Zimmer.

Inzwischen blieb es doch bei ihm nicht so ganz beim alten. Das Gespräch hatte in ihm einen Dorn zurückgelassen. Er fand, daß es um des lieben Hausfriedens willen besser sein könne, die förmliche Verlobung auf Weihnacht hinauszustellen. Er liebte seine Tochter zu sehr, und diese Liebe brachte ihn auf allerlei Besorgnis, der Teufel könne doch auf irgendeine Art sein Spiel treiben, und dann würde man es dem toten Gaste zuschreiben. Je näher der erste Advent rückte, je unheimlicher ward ihm dabei, und zwar wider seinen Willen. Er wünschte, sein zukünftiger Schwiegersohn möchte einstweilen noch ausbleiben. Es jagte ihm Schrecken ein, als sich das Wetter völlig aufklärte und der volle, warme Sonnenschein über die Welt floß, als wolle der Spätherbst noch einen schönen Nachsommer zum Geschenk bringen. Er ging nun ebenso fleißig zum Barometer und klopfte, das Quecksilber wieder fallen zu machen.

Zu seiner Verwunderung bemerkte er, daß die Mama, daß Friederike die ehemalige gute Laune mit dem guten Wetter wiederbekommen hatten, der Kommandant ebenfalls, und daß zuletzt alle Hausgenossen den ehemaligen Ton wiederfanden. Nur er konnte ihn nicht sogleich wiederfinden.