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Anton Reiser. Ein psychologischer Roman.

von Karl Philipp Moritz

Vierter Theil.

Er war nun doch auf einmal in eine neue Welt versetzt und hatte gegen seinen Aufenthalt in Hannover immer erstaunlich viel gewonnen.

Wenn er auf den Wällen von Erfurt um die Stadt spazieren ging, so fühlte er lebhaft, daß er durch eigne Anstrengung sich aus seinem unerträglichen Zustande gerissen und seinen Standpunkt in der Welt aus eigner Kraft verändert hatte.

Wenn er dann die Glocken von Erfurt läuten hörte, so wurden allmählich alle seine Erinnerungen an das Vergangene rege – der gegenwärtige Moment beschränkte sein Dasein nicht – sondern er faßte alles das wieder mit, was schon entschwunden war.

Und dies waren die glücklichsten Momente seines Lebens, wo sein eigenes Dasein erst anfing, ihn zu interessieren, weil er es in einem gewissen Zusammenhange und nicht einzeln und zerstückt betrachtete.

Das Einzelne, Abgerissene und Zerstückte in seinem Dasein war es immer, was ihm Verdruß und Ekel erweckte.

Und dies entstand so oft, als unter dem Druck der Umstände seine Gedanken sich nicht über den gegenwärtigen Moment erheben konnten. – Dann war alles so unbedeutend, so leer und trocken und nicht der Mühe des Denkens wert. –

Dieser Zustand ließ ihn immer die Ankunft der Nacht, einen tiefen Schlummer, ein gänzliches Vergessen seiner selbst wünschen – ihm kroch die Zeit mit Schneckenschritten fort – und er konnte sich nie erklären, warum er in diesem Augenblicke lebte.

Im Anfange seines Aufenthalts in Erfurt waren dieser Augenblicke nur wenige – er übersah das Leben immer mehr im ganzen – die Ortsveränderung war noch neu – seine Einbildungskraft war durch das Immerwiederkehrende noch nicht gefesselt. –

Dies Immerwiederkehrende in den sinnlichen Eindrücken scheint es vorzüglich zu sein, was die Menschen im Zaum hält und sie auf einen kleinen Fleck beschränkt. – Man fühlt sich nach und nach selbst von der Einförmigkeit des Kreises, in welchem man sich umdreht, unwiderstehlich angezogen, gewinnt das Alte lieb und flieht das Neue. – Es scheint eine Art von Frevel, aus dieser Umgebung hinauszutreten, die gleichsam zu einem zweiten Körper von uns geworden ist, in welchen der erstere sich gefügt hat.

Reisers Wohnung auf der Kirschlache schien auch gerade dazu gemacht zu sein, um seine Einbildungskraft aufs neue wieder zu fesseln.

Die Aussicht über die Gärten nach dem Kartäuserkloster hin hatte nämlich so etwas Romantisches, das Reisern unwiderstehlich anzog und seine Blicke auf jenen stillen Sitz der Einsamkeit heftete, nach welcher er eine heimliche Sehnsucht empfand. –

Da das Gebäude seiner Phantasie gescheitert war und er die geräuschvollen Weltszenen weder im wirklichen Leben noch auf dem Theater hatte durchspielen können, so fiel er nun, wie es gemeiniglich zu geschehen pflegte, mit seiner ganzen Empfindung auf das andere Extrem.

Ganz von der Welt vergessen, von Menschen abgeschieden in der stillen Einsamkeit seine Tage zu verleben, hatte einen unaussprechlichen Reiz für ihn – und diese Abgeschiedenheit erhielt in seinen Gedanken einen desto höhern Wert, je größer das Opfer war, das er brachte. – Denn das, worauf er Verzicht tat, waren seine liebsten Wünsche, die in sein Wesen eingewebt schienen. –

Die Lampen und Kulissen, das glänzende Amphitheater war verschwunden, die einsame Zelle nahm ihn auf. –

Die hohe Mauer, welche das Kartäuserkloster umschließt, das Türmchen auf der Kirche, die einzelnen Häuschen, die innerhalb der Mauer in einer Reihe nacheinander stehn und wovon jedes durch eine Mauer vom andern abgesondert ein eigenes Fleckchen zum Garten hat; dies alles macht einen sehr interessanten Anblick, und diese Höhe der Mauer, diese einzelnen Häuser und diese Gärtchen dazwischen bezeichnen sehr auffallend und bedeutend die Einsamkeit und Abgeschiedenheit der Bewohner dieses Orts.

Sooft die Glocke auf dem Türmchen angezogen wurde, tönte sie in Reisers Ohren wie die Sterbeglocke aller irdischen Wünsche und Aussichten in die Zukunft dieses Lebens.

Denn hier war nun das Ziel von allem – nie durfte der Fuß des Eingeweihten wieder aus dem Bezirk dieser Mauren treten – er fand hier seine immerwährende Wohnung und sein Grab. –

Das Geläute der Kartäuser wird noch mehr durch die Art, mit der es geschieht und durch seine Langsamkeit traurig und melancholisch. –

Sowie nämlich die Kartäuser sich auf dem Chor versammlen, tut jeder nach der Reihe einen Zug an der Glocke und nimmt darauf seinen Platz ein, bis alle vom Ältesten bis zum Jüngsten hereingetreten sind.

Nun horchte Reiser auf den Schall dieser Glocke zuweilen in der stillen Mittagsstunde, zuweilen um Mitternacht oder bei frühem Morgen, und jedesmal erneuerte sich der Eindruck davon so lebhaft in seinem Gemüte, daß immer das ganze Bild der Einsamkeit und Stille des Grabes mit erwachte. –

Es kam ihm vor, als ob diese abgeschiedenen Menschen ihren eigenen Tod überlebten, in ihren Gräbern umherwandelten und sich einander die Hände reichten. –

Mit dieser Idee wurde er nach und nach so vertraut, und sie wurde ihm so lieb, daß er sie manchmal um die angenehmsten Aussichten in das Leben nicht hätte vertauschen mögen.

Er hatte nun auch wieder einen Brief von Philipp Reiser aus Hannover erhalten, der ebenso wie ehemals die Gespräche desselben statt einer besondern Teilnehmung an seines Freundes Schicksale eine etwas weitläuftige Schilderung seiner damaligen Liebe enthielt, und wie weit er nun schon in dieser Liebe gekommen sei, und was ihm noch für Hindernisse im Wege ständen.

Demohngeachtet trug Reiser diesen Brief beständig bei sich und las ihn zum öftern durch, weil Philipp Reiser doch sein einziger Freund war.

Ohnweit der Kirschlache war ein angenehmer Spaziergang, wo zwischen grünem Gebüsch im Tale sich ein klarer Bach ergoß. – Die Aussicht war rundumher gehemmt, und man befand sich in einer reizenden Einsamkeit. –

Hier brachte Reiser manche Stunde auf dem grünen Rasen am Ufer des Baches zu und dachte über sein Schicksal nach, und wenn er zu denken müde war, so las er den Brief seines Freundes durch, den er, so wenig ihn auch der Inhalt interessierte, am Ende fast auswendig lernte – denn er hatte doch einmal nichts zu lesen, was ihm näher gewesen wäre als dieser Brief.

Dazu kam noch der Umstand, daß Philipp Reiser aus Erfurt gebürtig war; sie hatten also beide ihre Vaterstädte vertauscht – und Anton Reiser befand sich nun auf demselbigen Fleck, wo sein Freund die ersten Tage seiner Jugend verlebt und die ersten Eindrücke von der ihn umgebenden Welt erhalten hatte.

Er durchlebte hier in Gedanken Philipp Reisers Kinderjahre und verdoppelte sich in ihm, wenn er in dem Tal am Bache saß und seinen Brief las, der ihm denn sein ganzes Wesen wieder in Erinnerung brachte.

Darum war ihm unter den Studenten auch Ockord so lieb, der Philipp Reisern in Erfurt noch gekannt hatte, und mit dem er sich am öftersten von ihm unterredete.

Dieser Ockord war damals ein junger liebenswürdiger Schwärmer, vor seiner Phantasie schwebte noch der jugendliche Lebensreiz und ihn beseelten hohe Freundschaftsgefühle – zuweilen lief ein klein wenig Affektation mit unter, im Grunde aber hatte er wirklich ein gefühlvolles Herz.

An ihm fand Reiser seinen Mann und ruhte nicht eher, bis er an einem Sonntage mit ihm in die Kartäuserkirche ging; denn allein hatte er sich, weil es ihm zu auffallend schien, noch nicht getraut hereinzugehen.

Sie hatten sich unterwegens von der Nichtigkeit und Kürze des Lebens unterhalten, wobei zu bemerken ist, daß Reiser damals neunzehn und Ockord zwanzig Jahr alt war, und wußten nicht, was sie mit dem Rest ihrer Tage anfangen sollten, als sie in dem Kloster anlangten und in die Kirche traten, welche schon durch ihre leeren weißen Wände und den einsamen Chor die Stille des Grabes predigte.

Die Kirche wird nämlich außer den Kartäusern selber fast von niemand besucht, und weil keine Gemeinde dazu gehört, so ist hier weder Kanzel noch Stühle oder Bänke, sondern nichts als die leeren Wände und der flache Boden, welches dieser Kirche bei dem dämmernden Lichte, das von oben durch die Fenster fällt, ein sehr ernstes und melancholisches Ansehn gibt.

Ockord und Reiser knieten ganz allein an einem Pult vor dem Chore, als die weißgekleideten Mönche einer nach dem andern hereintraten und jeder sich bückend seinen Zug an der Glocke tat.

Sie setzten sich an ihre Pulte auf dem Chor und stimmten ihren Bußgesang in tiefen, traurigen Tönen an – bald standen sie auf und sangen Hymnen, die traurig zurückerschallten; dann fielen sie auf ihr Angesicht und flehten in tiefen klagenden Tönen um Erbarmung. –

Ganz an dem einen Ende des halben Zirkels stand ein Jüngling mit blassen Wangen von ausnehmend schöner Bildung. – Reiser konnte seine Augen nicht von den seinigen wenden, die er andachtsvoll gen Himmel schlug. –

Ockord kannte diesen Unglücklichen, der in den Orden der Kartäuser getreten war, weil der Blitz seinen Jugendfreund an seiner Seite erschlagen hatte – und Reisern schwebte das Bild dieses Jünglings von nun an beständig vor der Seele. –

Halbe Tage brachte er auf der alten Mauer hinter seiner Wohnung zu und sehnte sich in den Bezirk jener stillen Mauren hin, die seiner Meinung nach eine ganze Welt mit allen ihren Täuschungen und Blendwerken ausschlossen. –

Mit jenem Jüngling wollte er dort verblühen und dem Grabe zuwelken – dort wollte er selber sein einsames Gärtchen bauen, – den sanften Strahl der Abendsonne in seiner Zelle begrüßen – und allen irdischen Wünschen und Hoffnungen entnommen mit Ruhe und Heiterkeit dem Tode entgegensehen.

In dieser Stimmung machte er nun auf den alten eingefallnen Mauern hinter seiner Wohnung folgendes Gedicht:

     Du stille geweihte Behausung, des Grabes rührendes Vorbild,
     Welch eine geheime Empfindung heftet mein Auge voll Tränen
     Auf deine einsamen Hütten? Ehrwürd'ger Greis, du Bewohner
     Des Orts der Stille und der Andacht, Heil dir! vom leeren Gewimmel
     Der gaukelnden Eitelkeit fern und fern vom Geräusche des Stolzes,
     Kannst du mit eignen Händen dein einsames Gärtchen dir bauen
     Und deine Seele, die oft mit edlem Unwillen strebet,
     Aus ihrem Kerker zu fliehen, mit jedem kommenden Tage
     Dem Himmel würdiger machen – Heil dir! genieße die Segen
     Der göttlichen Einsamkeit ganz, daß dein von Erdegedanken
     Schon lang entwöhnter Geist in Engelgefühlen zerfließe
     Und zu seinem ewigen Ursprung sich jauchzend emporschwinge – herrlich,
     O Greis, war so das Los deiner Tage! Du aber, den Jahre,
     Voll Kummer des Lebens durchlebt, noch nicht die sinkende Scheitel
     Bereiften, rüst'ger Mann, und du, starker, blühender Jüngling,
     Der für die Freuden des Lebens die einsame Zelle sich wählte;
     O warst du vielleicht das Ziel der Verachtung, des höhnenden Stolzes?
     Betrog dich vielleicht ein falscher Freund? oder fühltest du lebhaft,
     Wie alle die Wünsche der Menschen und ihre Hoffnungen alle
     So nichtig und doch so stolz sind? War's verbitternder Ekel
     Vor diesen schalen, unschmackhaften Freuden des Lebens, der dir einst
     Den blumigten Schauplatz der Welt zur traurigen Einöde machte;
     Dann wohl auch dir! daß du eine sichere Freistatt vor allen
     Den list'gen Ränken der Bosheit fandst und vor dem Geräusche
     Der Toren und vor der Verführung des schön gleißenden Lasters
     Und vor des Lebens betrüglichen Freuden fandst! – Doch was seh ich?
     Im Aug' eine stumme Zähre zittert langsam die Wange
     Des Jünglings herab, der abgehärmt und bleich sein gebrochnes,
     Hinsterbendes Leben verweinet und wie die lechzende Blume
     In schwülen Tagen dahinwelkt. – Der du im geheiligten Kerker
     Von keinem Strahl erquickt aus Zwang und Unbedacht schmachtest,
     O weine, Jüngling, weine! Dein Gott vergibt dir die Zähren,
     Die der unschuldige Wunsch der Natur aus der Seele dir preßte!
     O könnt' ich doch meine Tränen mit deinen Tränen vermischen
     Und sanften lindernden Trost in deine Seele hinweinen!
     Sanftlächelnd geht die Sonn' am Frühlingsabend dir unter,
     Noch rötet ihr letzter Strahl mitleidig dein einsames Fenster,
     Du legst dich hin auf dein Lager und träumst von künftigen Tagen
     Voll glänzender Aussichten, schwimmst in Wonnegefühlen, verlierst dich
     In Labyrinthen von Freuden, erwachst vom glücklichen Schlummer
     Und siehest – ach, deiner traurigen Zelle öde vier Wänd', und
     Kein Strahl von Hoffnung lächelt hinein – o säuselt, Zephire,
     Um dieses Jünglings Haus, liebkoset und trocknet mitleidig
     Vom Aug' die Zähr' ihm! Blühet, ihr Blumen, in seinem Garten,
     Und um seine Fenster erschalle dein tröstendes Lied, Philomele!
     Bis der Alliebende einst von des Lebens quälenden Banden
     Die leidende Seele befreit, dann wirst du voll zärtlicher Wehmut
     Noch oft in durchtaueten Nächten um seine Grabstätte klagen.

Reiser war wirklich so mit ganzer Seele bei den Kartäusern, daß er anfing im Ernst darauf zu denken, wie er auch so abgeschieden von der Welt seine Tage zubringen könnte und dann von allem, was ihn drückte, von seinen Wünschen und Begierden, die ihn quälten, auf einmal und auf immer befreit sein würde. –

Als er schon einige Tage in diesen Gedanken vertieft gewesen war, kam Ockord zu ihm und sagte, daß die Studenten in Erfurt willens wären, eine Komödie zu spielen, und daß einige Rollen noch unbesetzt wären. – –

Diese Anrede wirkte so mächtig auf Reisers Phantasie, daß auf einmal das Kartäuserkloster mit seinen hohen Mauren tief im Hintergrunde stand und die Kulissen mit den Lichtern sich plötzlich wieder vordrängten; da nun Ockord überdem noch hinzufügte, daß man damit umgehe, in dem Stücke, das man aufzuführen willens sei, Reisern eine Rolle anzutragen, so war vollends jeder ernste und melancholische Gedanke wie verschwunden.

Das Stück nämlich, was die Studenten in Erfurt aufführen wollten, hieß Medon oder die Rache des Weisen, und man könnte davon sagen, daß es die ganze Moral in sich enthielt, so erstaunlich viel Tugend wurde von allen Personen darin gepredigt.

In diesem Stücke nun sollte Reiser die Rolle der Clelie, der Geliebten des Medon, übernehmen, weil sich an seinem Kinne noch die wenigste Spur von einem Barte zeigte und weil auch seine Länge als Frauenzimmer eben nicht auffiel, da der, welcher den Medon spielte, von einer fast riesenmäßigen Größe war.

Ohngeachtet der auffallenden Sonderbarkeit dieser Rolle konnte Reiser dennoch seinem Hange, das Theater auf irgendeine Weise zu betreten, nicht widerstehen, um so weniger, da sich ihm die Gelegenheit dazu so ganz ungesucht und von selbst darbot.

Während der Zeit hatte nun der Doktor Froriep nach Hannover geschrieben und sich wegen Reisers Aufführung bei seinem ehemaligen Lehrer, dem Rektor Sextroh, wo er im Hause gewohnt hatte, erkundigt, und dieser hatte ihm ganz wider Reisers Vermuten ein Zeugnis gegeben, welches ihn bei dem Doktor Froriep noch weit mehr in Gunst brachte.

Der Rektor Sextroh hatte nämlich geschrieben, daß man allerdings von den Anlagen dieses jungen Menschen sich viel versprochen hätte. Und dies war für den Doktor Froriep genug, um das Nachteilige, was dies Zeugnis enthielt, mit Schonung und Nachsicht zu betrachten und sich nun Reisers mit verdoppeltem Eifer anzunehmen, um ihm womöglich auch die Gnade des Prinzen wieder zu verschaffen.

Das Zeugnis selbst aber war auch schonend und nachsichtsvoll abgefaßt, ausgenommen einen Punkt, wo man Reisern wegen seiner nächtlichen Spaziergänge im Verdacht der Liederlichkeit gehabt hatte und ihn also gerade einer Sache beschuldigte, wovon er am weitesten entfernt war, weil er schon durch das Drückende seines Zustandes, durch seine Selbstverachtung und selbst durch seine Schwärmereien davon abgehalten wurde.

Dann war sein Hang zum Theater dasjenige, worauf man nicht ohne Grund seine übrigen Unregelmäßigkeiten schob und wodurch damals so viele junge Leute auf der Schule in Hannover waren hingerissen worden. –

Und gerade indem nun dieser Brief ankam, war Reiser schon wieder im Begriff, mit den Studenten in Erfurt Komödie zu spielen. – Der Doktor Froriep widerriet es ihm zwar; da er aber sahe, wie sehr sein Herz daran hing, sahe er ihm auch noch diese Torheit nach und entzog ihm darüber nichts von seiner Gunst.

Die Vorbereitungen zu der Komödie wurden nun gemacht; Reiser lernte die Rolle der Clelie auswendig, und nun wurden häufige Proben gehalten, wodurch Reiser mit dem größten Teil der Studenten in Erfurt bekannt wurde, die sich alle gegen ihn sehr höflich betrugen und alle eine vorteilhafte Meinung von ihm hegten, wodurch er sich in eine Welt versetzt fand, die von derjenigen ganz verschieden war, worin er von Kindheit auf gelebt hatte.

Zwischen diesen Komödienproben versäumte nun Reiser nicht, des Doktor Frorieps Predigerkollegium fleißig zu besuchen. Dies bestand aus einer Anzahl Studenten, die sich in der Kaufmannskirche in Gegenwart des Doktor Froriep und der übrigen Studenten bei verschloßnen Türen im Predigen übten.

Hier wünschte nun Reiser ebenfalls auftreten zu können, um seine Deklamation hier hören zu lassen, und es war ihm immer eine der reizendsten Aussichten, wenn der Doktor Froriep ihm einmal verstatten würde, hier die Kanzel zu besteigen. Auch hatte er sich schon ein Thema ausgedacht, worin er die Schönheiten der Natur, den Wechsel der Jahreszeiten mit poetischen Farben schildern und mit den glänzenden und schimmernden Aussichten in die Ewigkeit auf eine pathetische Weise seine Predigt beschließen wollte. Allein es kamen immer Hindernisse dazwischen, daß ihm dieser Wunsch in Erfurt nicht gewährt wurde.

So wie man nun an allem zweifelt, was man heftig wünscht, so zweifelte er auch immer, ob die wirkliche Aufführung der Komödie zustande kommen und er seine Rolle darin behalten würde. Dieser Wunsch wurde ihm dann gewährt. Er wurde mit aller Sorgfalt als Clelie geschmückt. Die Lichter wurden angezündet, der Vorhang rauschte empor, und er stand nun da vor einem zahlreichen Auditorium und spielte ganz unbefangen seine lange Rolle durch, ohne daß ihm ein einzigesmal das Unnatürliche davon eingefallen wäre, so sehr war er in dem Gedanken vertieft, daß er in einer theatralischen Darstellung nun wirklich mit begriffen und daß seine Mitwirkung in jedem Augenblick dazu notwendig war. –

Dies Vertiefen in seinen Gegenstand machte, daß er sich selbst vergaß und daß auch die Zuschauer das Unnatürliche der Rolle weniger bemerkten und er über sein Spiel sogar noch Beifall erhielt. Da er also nun den Schauplatz betreten hatte und doch dabei Student blieb, so machte ihm dies doppeltes Vergnügen, und er fühlte sich in der Wiedererinnerung an diesen Abend ein paar Tage über so glücklich, daß ihm alles das, was ihm in den wenigen Wochen, die er nun in Erfurt zugebracht hatte, schon begegnet war, halb wie im Traume vorkam.

Er rückte nun auch in die Wochenschrift der Bürger und der Bauer von Zeit zu Zeit Gedichte ein, wodurch sein Name als Schriftsteller unter den Erfurtischen Bürgern bekannt wurde. Dabei besorgte er Korrekturen für den Buchdrucker Gradelmüller und wurde durch diesen mit einem Gelehrten bekannt, den bei den größten Vorzügen des Geistes und Herzens bis an seinen Tod ein widriges Schicksal verfolgte, weil er durch den langwierigen ununterbrochenen Druck der Umstände verlernt hatte, seinen Wert geltend zu machen, und gerade die Kraft, wodurch er in der Welt festen Fuß fassen und seinen Platz behaupten mußte, bei ihm gelähmt war.

Dieser Doktor Sauer hatte für den Buchdrucker Gradelmüller eine Wochenschrift geschrieben unter dem Titel Medon oder die drei Freunde, wovon ein Jahrgang herausgekommen war. Man sahe auch hieran, wie er mit dem Druck der Umstände hatte kämpfen müssen; wie schwer es ihm mußte geworden sein, eine Anzahl trivialer Aufsätze niederzuschreiben, wobei noch immer die Funken des unterdrückten Genies hervorsprühten.

So aber mußte er schreiben und wöchentlich seinen Bogen liefern, um wiederum ein Jahr lang von seinem mühseligen Leben zu atmen. – Da nun die Wochenschrift aufhörte, so war er genötigt, wieder von Korrekturen sein Dasein zu erhalten. Und da er selber dramatische Ausarbeitungen von vielem Wert in seinem Pulte liegen hatte, die er nicht wagte zum Vorschein zu bringen, mußte er für einen vornehmen Herrn in Erfurt mit aller Sorgfalt und Korrektheit eines Kopisten ein Trauerspiel für Geld abschreiben, um mit dem Abschreiberlohn wiederum einige Tage lang sein Leben zu fristen.

Als Arzt verdiente er nichts: denn er fühlte einen besondern Hang in sich, gerade den Leuten zu helfen, die der Hülfe am meisten bedürfen und denen sie am wenigsten geleistet wird. Und weil dies nun gerade diejenigen sind, welche die Hülfe nicht zu bezahlen vermögen, so geriet der Arzt selber in große Gefahr zu verhungern, wenn er nicht Wochenschriften herausgegeben, Korrekturen besorgt und Trauerspiele abgeschrieben hätte.

Kurz, er ließ sich für seine Kuren nichts bezahlen und brachte auch dazu den armen Leuten noch die Arzenei ins Haus, die er selbst verfertigte und das Wenige, was ihm übrig oder nicht übrig blieb, darauf verwandte. Weil er sich nun dadurch gleichsam weggeworfen hatte, so hatten die Leute aus der großen und vornehmen Welt kein Zutrauen zu ihm; niemand zog ihn zu Rate, und unter den meisten war sogar sein Name nicht einmal bekannt, ob er sich gleich als Arzt schon keine geringe Erfahrung und Geschicklichkeit erworben hatte.

Er hatte auch in diesem Fache schon eigene vortreffliche Ausarbeitungen geliefert, die aber das Unglück hatten, sich unter der Menge zu verlieren und ebenso wie ihr Verfasser von den Zeitgenossen nicht bemerkt zu werden. Und während daß er nun seine übrigen medizinischen Ausarbeitungen in seinem Pulte verschlossen hielt, mußte er die Schrift eines französischen Arztes, der nach Erfurt kam und besser als der Doktor Sauer sich wußte bemerken zu machen, ins Lateinische übersetzen, um von dem Übersetzerlohne zu leben und für seine hülflosen und armen Kranken neue Arzeneimittel zuzubereiten.

Der müßte ganz abgestumpft sein, der diese Unwürdigkeiten und Demütigungen vom Schicksal nicht fühlen sollte. Der Doktor Sauer machte eine lächelnde Miene dazu, allein im Innersten seiner Seele untergrub doch jede dieser Demütigungen und Herabwürdigungen seine Tatkraft und lähmte seinen Mut. Wie konnte er seinem innern Werte noch trauen, da die ganze Welt ihn verkannte.

Wegen der Konnexion mit dem Buchdrucker Gradelmüller, für welchen er die Korrekturen besorgte, gab er nun auch zuweilen Aufsätze in die berühmte Erfurtische Wochenschrift der Bürger und der Bauer; und da las Reiser einmal ein Gedicht von ihm auf die freigewordenen Amerikaner, welches wohl verdient hätte, in einer Sammlung von den vorzüglichsten Poesien der Deutschen zu stehen, und nun in einem Blatte sich verlor, das in den Bierhäusern von Erfurt feilgeboten wurde.

Es war, als ob in diesem Gedichte sein unterdrückter Geist alle sein Freiheitsgefühl noch einmal ausgehaucht hätte, ein solcher Schwung und feurige Teilnehmung herrschte in den Gedanken.

Ganz entzückt durch dies Gedicht konnte Reiser nicht ruhen, bis er die Bekanntschaft eines so vorzüglichen Mitarbeiters an der Wochenschrift der Bürger und der Bauer gemacht hatte. Es hielt aber schwer, bis er diesen Wunsch erreichte, weil der Doktor Sauer eben keinen großen Hang in sich fühlen konnte, sich noch ferner an irgendeinen aus der Klasse von Wesen anzuschließen, die ihn gleichsam ausgestoßen hatte.

Indes fand sich doch ein Weg dazu, weil Reiser sein Studium der englischen Sprache auch in Erfurt fortgesetzt hatte, daß er sich erbot, dem Doktor Sauer Englisch zu lehren, weil dieser schon einige Male den Wunsch geäußert hatte, mit dieser Sprache bekannt zu sein. Dies Anerbieten wurde dann angenommen, und so erhielt Reiser Gelegenheit, wöchentlich wenigstens ein paarmal mit diesem Mann zusammenzukommen, an den er sich nun so nahe wie möglich anzuschließen wünschte.

Bei dieser Gelegenheit wurde er nun immer offner gegen Reisern und erzählte ihm von den mannigfaltigen Unterdrückungen, denen er von seiner Kindheit an von seinen Anverwandten und von seinen Lehrern ausgesetzt war, und nachher alle die Streiche des Schicksals nacheinander, die ihn bis in den Staub darniedergebeugt hatten; so daß Reiser im auffahrenden Unwillen sich nicht enthalten konnte, die Verkettung hämisch zu nennen, worin ein denkendes und empfindendes Wesen gleichsam absichtlich so eingeengt und gequält wird.

Während daß nun Reiser auf diese Art seinen Unwillen äußerte, verzog sich Sauers Mund zu einem sanften Lächeln, wodurch er freilich über diesen Unwillen erhaben, aber auch zugleich von den irdischen Banden schon gelöst war und seiner baldigen vollkommnen Befreiung ahndungsvoll entgegensahe. – Sein Kampf war beinahe durchgekämpft, er brauchte weiter keine widerstehende Kraft, keinen Trotz gegen das Schicksal.

Demohngeachtet loderte die Lebensflamme noch manchmal wieder in ihm auf. Er hoffte zuweilen noch glückliche Tage zu sehen und hatte einen großen Eifer zur Erlernung des Englischen, weil er sich von diesem seinem Studium viel versprach, um vorzüglich die in der englischen Sprache geschriebenen medizinischen Werke zu nutzen und dann auch durch Übersetzungen aus dem Englischen Geld zu erwerben.

Dann bot sich ihm auch sogar eine kleine Aussicht zu einer Art von Versorgung in Erfurt dar – und dies war ihm nun schon eine sehr glückliche Wendung, die er besonders seinem Ausharren zuschrieb. Wer in Erfurt zu etwas kommen wolle, pflegte er nun oft zu Reisern zu sagen, der müsse nur lange Zeit ausharren und die Geduld nicht verlieren! So bescheiden und mäßig war er in seinen Wünschen, und so sehr war jeder Schimmer eines bessern Glücks ihm schon aufmunternd.

Er wußte nicht, daß alles äußere Glück ihm nicht mehr helfen konnte, weil der Quell des Glücks in ihm selber versiegt und die Blume seines Lebens zerknickt war, so daß ihre Blätter notwendig welken mußten.

Reiser fühlte sich von einer solchen Teilnehmung angezogen, als ob das Schicksal dieses Mannes sein eigenes oder mit dem seinigen doch unzertrennlich verknüpft gewesen wäre. Es war ihm, als müßte dieser Mann noch glücklich werden, wenn die Dinge in ihrem Gleise bleiben sollten.

Reisern trog aber diesmal, so wie nachher noch oft seine Ahndung und sein Glaube an eine Entschädigung für erlittenen Kummer, die notwendig noch auf Erden stattfinden müsse. – Sauer entschlummerte nach wenigen Jahren, ohne beßre Tage gesehen zu haben. Da ihn von außen das Glück ein wenig anlächelte, waren seine innern Kräfte zerstört; und er blieb unbemerkt und unbekannt bis an seinen Tod; so daß in der kleinen Gasse, wo er wohnte, seine nächsten Nachbaren, als man den Sarg hinaustrug, fragten: wer denn da begraben würde? Ein Grad des Nichtbemerktwerdens, der in einer so unbevölkerten Stadt wie Erfurt höchst auffallend ist.